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Frankreich Lacanau

Lacanau in der NS Zeit

Lacanau und Le Porge sind heute gerade auch bei deutschen Touristen beliebte Reiseziele, für einige auch dauerhafter Wohnsitz geworden. Nur wenige jedoch wissen um die Geschichte von Lacanau in der NS Zeit .

Lacanau lag nach der Besetzung Frankreichs durch NS-Truppen in der ‚Zone occupée‘, dem von NS-Truppen besetzten Teil Frankreichs, vom Vichy-Frankreich des Marschall Petain getrennt durch eine Demarkationslinie.

Die Nazi-Führung beschloss, die französische Atlantik-Küste zu sichern – sie befürchtete hier einen Angriff der Alliierten. 1942 erging der Befehl zum Bau der „Festung Europa„, Verteidigungsanlagen, die von Norwegen bis Frankreich reichen sollten. Entlang der Atlantik-Küste, auch in der Region Lacanau, entstanden – errichtet von der ‚Organisation Todt‘ – zahlreiche Bunkeranlagen: der „Atlantik-Wall„. Die Atlantik-Küste selbst wurde durch Minen gesichert, auch vor Lacanau Océan (vom 20.2. bis 3.3.1944 durch den auf der Marinewerft Toulon gebauten Minenleger ‚Rubis‘).

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

30 Jahre Aids – und ‚war da was‘?

30 Jahre Aids wurden in den vergangenen Tagen und Wochen [2011] ‘zelebriert’. Viel wurde geschrieben, erinnert, in Interviews, Geschichten und Berichten zurück geblickt.
Und doch – es war ein eigentümliches ‘Gedenken’, zwar zurückblickend aber seltsam ahistorisch.

Viele der ’ 30 Jahre Aids ’-Rückblicke, so scheint mir, sind gefühlt, gesehen, geschrieben aus der Sicht von heute. Aus der Sicht einer HIV-Infektion, die oft als ‘auf dem Weg in die Normalität’ dargestellt wird (so sehr ich anzweifle, dass dies zutreffend ist, siehe meine Rede in der Frankfurter Paulskirche 2010).

Doch das Aids der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und der beginnenden 1990er Jahre hat mit diesem ‘normalisierten HIV’ nicht viel gemeinsam. Und sie kann nicht aus dessen Blickwinkel betrachtet, mit dessen Maßstab gemessen werden.

Jenes Aids hieß: innerhalb weniger Jahre starben ganze Freundeskreise. Starben wahre Heerscharen junger Menschen. Nicht zufällig wecken diese ‘schlechten Jahre’ bei vielen derer, die sie überlebten, immer noch die Assoziation “beinahe wie in einem Krieg“.

In den USA wurden diese Jahre damals oft als ‘the gay holocaust’ bezeichnet. So fehl am Platz diese Bezeichnung mir heute scheint (und auch damals schon schien, gerade angesichts der Einzigartigkeit des organisierten Mordes an den Juden Europas) – diese Bezeichnung lässt erahnen, wie ein Teil der Schwulen damals diese Zeit erlebte. Als ein Massensterben eines großen Teiles derjenigen Menschen, die schwules Leben damals mit aufgebaut haben und mit ihrem Handeln und Denken prägten. Schwule Künstler, Musiker, Regisseure, Aktivisten der politischen Schwulenbewegungen, Gründer von Lederclubs, Philosophen, Vordenker, Weg-Suchende und Weg-Weisende – sie alle wurden innerhalb kürzester Zeit dahin gerafft. Starben. Weit vor ihrer Zeit, weit bevor sie ihre Ideen und Projekte zu Reife und Blüte bringen konnten. Es starb ein bedeutender Teil einer ganzen Generation junger schwuler Männer.

Jenes Aids wird oft als ‘altes Aids’ bezeichnet – ganz so, als wären wir dieses “alte” sehr gerne los, ließen es in der Versenkung verschwinden. Lange her, Vergangenheit, abgeschlossen und weit entfernt von unserer Realität von heute.

Doch jene Jahre, ihr Leben, ihr massenhaftes vorzeitiges Sterben haben unsere Gesellschaften, unser heutiges Leben – und ganz besonders das schwuler Menschen – verändert, auf drastische Weise beeinflusst. Auswirkungen, derer wir uns heute kaum noch bewusst sind. Geschweige denn dass wir sie verstanden, reflektiert, verarbeitet hätten. Oder uns gar fragten, ob wir einige der verloren gegangenen Ideen wiederfinden, die ein oder andere der nicht zu ende entwickelten Ideen weiter denken, manches vorzeitig und unfreiwillig abgebrochene, zerstörte Experiment weiterführen sollten – könnten – wollen.

All diese abgebrochenen Experimente, vorzeitig aus der Welt gefallenen Ideen, nicht zu ende geführten Projekte, sie sind nur äußerst selten thematisiert, erinnert, kritisch reflektiert. Auch darauf hin, ob sie uns für heute etwas sagen könnten, auch wenn ihre Initiatoren, Propagandisten, geistigen Väter in eben jenen “schlechten Jahren” des ‘alten Aids’ vorzeitig aus ihrem Leben gerissen wurden.

Nur selten werden sie (Ideen und Projekte, wie auch ihre Protagonisten) wieder ins Bewusstsein gehoben, zutage gefördert und hinterfragt. Wie in dem m.E. großartigen NGBK-Projekt der AG “Unterbrochene Karrieren” (u.a. Frank Wagner, Thomas Michalak), 2003 mit dem Medienpreis der Deutschen Aids-Stiftung ausgezeichnet. Nur selten werden sie dem -ungeplanten, ungewollten, von Aids bedingten- Vergessen entrissen.

Es scheint fast, als wollten wir gar nicht wissen, uns möglichst nicht bewusst machen was Aids damals in uns, in unseren Biographien, in unseren Szenen – und damit: in dem Potential unserer zukünftigen Entwicklungen – anrichtete. Als wollten wir ja nicht die Tragweite dieser Verluste sichtbar werden lassen. Es scheint als wollten wir sie im Gegenteil schnellstmöglich und möglichst unauffällig ins Unsichtbare verschwinden lassen.

Die Zerstörungen und Verwüstungen, die Aids damals, Ende der 1980er und Anfang der 1990er in unseren Leben, unseren Szenen, unseren Kulturen anrichtete – wir sanktionieren, wir wiederholen sie mit unserem respektlosen und Geschichts-vergessenen Verdrängen, mit dieser Ignoranz nachträglich geradezu.

Interessant wäre m.E. zu erforschen, in wie weit die heutigen Realitäten gesellschaftlichen Lebens von Schwulen in Deutschland und Europa heute durch die Situation und Geschehnisse von Aids Ende der 1980er geprägt und verändert worden sind.

Heute [2011], 30 Jahre nachdem Aids in das öffentliche Bewusstsein trat, und 15 Jahre nachdem die Aids-Konferenz von Vancouver ein Zeichen für den Aufbruch in eine Zeit eines anderen Lebens mit HIV setzte, ist es zudem an der Zeit, dass wir uns unseres schwierigen Erbes, der vorzeitig beendeten Projekte, der unvollendeten Ideen, der abgebrochenen Karrieren erneut besinnen. Uns ihnen stellen, sie würdigen und kritisch hinterfragen – auch darauf, was sie uns für unser heutige Leben sagen können.

Statt weiterhin zu vergessen, zu verdrängen, könnten wir beginnen, uns dieser Verluste bewusst zu werden – und mit ihnen umgehen zu lernen.

Im Bewusstsein der ihnen innewohnenden Chancen und Hoffnungen für unsere eigene vielfältige und bunte Zukunft – und aus Respekt vor all denen, die gestorben sind.

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Text 18.02.2016 von ondamaris auf 2mecs

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Berlin Homosexualitäten

Friedrich Drake , der Schöpfer der Goldelse

Friedrich Drake? Nur noch wenige kennen heute seinen Namen, auch nur noch wenige Berliner. Sein bekanntestes Werk hingegen kennen viele … die so genannte Goldelse .

Der Bildhauer Friedrich Drake wurde  am 23. Juni 1805 in Bad Pyrmont geboren. Er starb am 6. April 1882 in Berlin. Drake war Schüler von Christian Daniel Rauch.

Bekanntestes Werk von Friedrich Drake ist die ‚Viktoria‚ – die bronzene Skulptur der (römischen) Siegesgöttin Viktoria (angeblich nach dem Vorbild seiner Tochter Margarethe gestaltet) auf der 1873 eingeweihten und 2010/11 aufwendig sanierten und neu vergoldeten Siegessäule.

1938 / 1939 wurde die Siegessäule vom früheren Standort, dem heutigen Platz der Republik an den heutigen Standort am Großen Stern versetzt.

Friedrich Drake konnte 1873 wohl noch nicht ahnen, dass die Siegessäule und seine Viktoria später an neuem Platz zu dem Symbol des bekanntesten schwulen Cruising-Gebiets im Tiergarten werden sollte, mit seiner Siegesgöttin Viktoria verballbornt als ‚Goldelse‘.

Oder doch? Sein Grab jedenfalls befindet sich auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof – der sich seit vielen Jahren bei schwulen Verstorbenen und ihren Angehörigen großer Beliebtheit erfreut …

Grab Friedrich Drake, Schöpfer der Goldelse – Foto

Grab Friedrich Drake, Schöpfer der Goldelse / Alter St. Matthäus Kirchhof Berlin
Grab Friedrich Drake, Schöpfer der Goldelse, Grab auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof Berlin
Friedrich Drake Grab 2018
Friedrich Drake Grab 2018
Grabstätte Friedrich Drake im April 2023

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Deutschland

Der Roland von Wedel

Der Roland von Wedel gilt als größter erhaltener Roland – mit einer Höhe von nahezu sechs Metern.

Einen Roland, dieses Symbol der Stadtrechte und bürgerlicher Freiheiten, hat nicht nur die Hansestadt Bremen mit dem Bremer Roland oder die Stadt Quedlinburg zu bieten, sondern einige weitere Städte in Deutschland – unter anderem auch Wedel in Holstein (in dem wir letztens vom Barlach-Museum Wedel eher enttäuscht waren).

Roland von Wedel

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Kulturelles

Meeresfrüchte (Olivier Ducastel 2004)

Leichte französische Sommer- Komödie, ein Film um Sex, coming Out, Befriedigung und kleine Geheimnisse – und um seltsame Eltern.

„Man kann nicht zu tolerant sein. Man ist tolerant, oder eben nicht. Basta.“ (Beatrix)

Die Handlung spielt in Ensuès-la-Redonne (Nähe Marseille), im Ferienhaus der Familie und am nahegelgenen Strand.

„Es bringt im Grunde gar nichts, wenn alles sauber ist, quadratisch, ordentlich. Du hast Recht, lassen wir der Natur ihren Lauf.“ (Marc)

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Eine nicht unwesentliche Rolle spielen in dem Film Violet – eine in Deutschland kaum bekannte Delikatesse aus dem Meer (die nicht die Synapsen verkleben):

Une ascidie Microcosmus sabatieri (aussi appelée „violet“ ou „figue de mer“), observée à l‘Étang de Thau, en Méditerranée française. On distingue à son pied une autre espèce du genre Microcosmus. – Sylvain Le Bris – Lizenz CC BY-SA 4.0

Violet (auch: figue de mer, Meeresfeige) aus dem Mittelmeer werden i.d.R. roh gegessen, Saison ist zwischen April und Herbst. Sie haben einen hohen Jod- Gehalt und einen intensiven Geschmack.

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Meeresfrüchte (Crustacés et coquillages)
Drehbuch und Regie Olivier Ducastel (auch: Theo & hugo, 2016)
Frankreich 2004
Uraufführung 30. März 2005

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Frankreich

Pierrefonds – Vorbild für Neuschwanstein

Ludwig II. von Bayern wurde unter anderem bekannt für sein ‚Märchenschloss Neuschwanstein‚. Weit weniger bekannt ist, dass dieses französische Bezügen hat, in Pierrefonds.

Seit dem 12. Jahrhundert ist in Pierrefonds eine Burg nachweisbar. 1396 veranlasste Louis d’Orleans eine nahezu komplette Neu-Anlage des Schlosses. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde es von Truppen des Kardinals Richelieu belagert (1617) und im Mai 1617 weitgehend zerstört.

Über 200 Jahre Ruine, erwarb Napoleon Bonaparte die Burg 1810 für weniger als 3.000 Franc. 1848 wurde sie zum ‚monument historique‘ erklärt. Luis-Napoléon Bonaparte ließ sie ab 1857 von Eugène Viollet-le-Duc rekonstruieren und restaurieren.

Pierrefonds wird zum (mehrfachen) Vorbild

Vom 20. bis 29. Juni 1867 unternahm Ludwig II. von Bayern (unter dem Tarn-Namen ‚Graf von Berg‚) eine Reise nach Paris, insbesondere zum Besuch der Weltausstellung. Dabei besichtigte er am 24. Juni anlässlich eines Ausfluges nach Compiègne das Schloss Pierrefonds. Es inspiriert ihn zu eigenen Schloss-Plänen – schon im April 1868 formuliert Ludwig II. erste Ideen zum ‚Wiederaufbau‘ der Ruine Vorderhohenschwangau, dem späteren Schloss Neuschwanstein (Grundsteinlegung 5. September 1869; von Ludwig II. korrekter bezeichnet als Neue Burg Hohenschwangau).

Schloss Pierrefonds
Schloss Pierrefonds

Das Schloss von Pierefonds, inzwischen denkmalgeschützt, ist heute häufiger Drehort und beliebte Kulisse für Filme – auch darin eins mit Neuschwanstein.

Es erlangte zudem Berühmtheit durch Walt Disney. Das Schloss von Pierrefonds wurde zum Vorbild für das Schneewittchen-Schloss in Disneyworld im kalifornischen Anaheim.

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Kulturelles

Ernst Barlach Wedel

Ein Besuch im kleinen Städtchen Wedel nahe Hamburg an der Elbe. Ein Grund: ein Besuch im Barlach-Museum Wedel.

Ernst Barlach, Geburtshaus in Wedel (Holstein), heute Barlach-Museum
Ernst Barlach, Geburtshaus in Wedel (Holstein), heute Barlach-Museum

Ernst Barlach wurde am 2. Januar 1870 in Wedel in Holstein geboren. Er verbrachte die ersten beiden Jahre seines Lebens in Wedel – bereits 1872 zieht die Familie von Wedel nach Schönberg (Mecklenburg), später nach Ratzeburg. In seinem Geburtshaus in Wedel befindet sich seit 1987 ein Barlach-Museum.

Ernst Barlach, Gedenktafel am Geburtshaus in Wedel (Holstein)
Ernst Barlach, Gedenktafel am Geburtshaus in Wedel (Holstein)

Ein Museumsbesuch, der uns leider enttäuschte.

Wer Barlach entdecken will, mag sich vielleicht fragen, welchen Grund es gibt sich ins entfernte Wedel auf den Weg zu machen – besonders, wenn er zuvor im wunderbaren Barlach-Museum im Hamburger Jenisch-Park war (das nur wenige Kilometer entfernt ist).

Eine Frage, die uns schwer zu beantworten scheint.

Das Museum hat eine bemerkenswerte Sammlung zu bieten, darunter zahlreiche Bronzen. Oft scheint uns jedoch eine bessere Präsentation wünschenswert. Eine Großplastik, eingequetscht in einem Treppenabgang. Das Güstrower Ehrenmal, präsentiert unter einem modernen gläsernen Dach über der Treppe, vor einem Hintergrund diverser Fotos. Eine Präsentation, die dem Werk gerecht wird, stellen wir uns anders vor.

Hilfreich wären gerade dem weniger Barlach-kundigen Besucher vielleicht auch Erläuterungen, die wir oft vermissten. Oder Querverweise zwischen verschiedenen Aspekten von Barlachs Werken, zwischen Lebensstationen und Werk, zwischen Tätigkeiten als Schriftsteller und als Bildhauer.

Nahezu kommentarlos gezeigte Werke wie das Güstrower Ehrenmal (in Güstrow 1937 als ‚entartete Kunst‘ entfernt und später eingeschmolzen) oder das Magdeburger Ehrenmal (1934 entfernt und erst 1955 wieder aufgestellt) lassen zudem eine Einordnung in Zeit und Geschichte schmerzlich vermissen.

Vermisst auch vieles weiteres, wie Bezüge zu anderen Künstlern, Verlegern und Galeristen, zu dichterischem Schaffen, zur Frage ‚war Barlach ein politischer Künstler‘ usw usw.

Dem Museum ist u.E. zu wünschen, dass es seine Position im Miteinander mit den anderen (teilweise nicht weit entfernten) Barlach-Museen findet und stärker deutlich macht, vielleicht durch Setzen eines besonderen Schwerpunkts.

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Köln

besetztes Haus Köln Mauritiuswall (- 1992)

Mauritiuswall 16 – 18 – ein leerstehende Haus in Köln wurde Anfang der 1990er Jahre besetzt, aber nur wenige Jahre später wieder geräumt. Doch für kurze Zeit war es Fixpunkt sozialen und (sub)kulturellen Lebens, auch für viele Lesben und Schwule.

Im Mauritiuswall gab es lange das lesbischwule autonome Kneipenprojekt namens ‚Der geile Punkt‚, das versuchte frei von ökonomischen Zwängen zu existieren.

Hier wurde die Kölner Gruppe der ‚Sisters of perpetual indulgence‘ gegründet.

1990 bis zur endgültigen Räumung 1992 gab’s auch eine ‚Konzerthalle‚ in der Parkgarage nebenan, die als ‚Mauwall‚ bekannt wurde.

Am 30. Juni 1992 wurde das besetzte Haus im Mauritiuswall 16 – 18 geräumt und sofort abgerissen.

Der ‚Geile Punkt‘ verschwand zwar mit dem Abriss – fand aber doch eine indirekte Folge u.a. im ‚Buschwindröschen‚.

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Erinnerungen HIV/Aids

Ulli im Interview, Juni 2011: 30 Jahre HIV – „Das Mittel hätte keinen Tag später kommen dürfen“ (Philip Eicker)

Ulli Würdemann (52) hat Aids in allen Facetten miterlebt: die ersten Meldungen in den 1980ern, HIV-Diagnose 1986, seither Engagement in der Aidshilfe. 1996 totgesagt von den Ärzten, rettet ihn einer der ersten Proteasehemmer. Derzeit renoviert er mit seinem Mann Frank das Häuschen seiner Schwiegermutter am Stadtrand von Hamburg. Dort wollen die beiden zusammen alt werden. Auf der Baustelle sprach er mit aidshilfe.de

Ulli, weißt du noch, wann du zum ersten Mal von Aids gehört hast?

Das war 1982 oder 1983, eine kleine Meldung in „Vermischtes“ der Süddeutschen Zeitung. Meine Reaktion war damals: Da sterben in Amerika ein paar Schwule an Krebs – was hat das mit mir zu tun? Irgendwann kam dann die Bezeichnung „Schwulenkrebs“ auf, HIV galt ja erst mal als reine Schwulenkrankheit. Seitdem war Sex für mich wieder mit Angst besetzt. Schon kurze Zeit später war es beinahe wie im Krieg: Fast jede Woche starben Freunde, Lover, Weggefährten. Ich dachte mir: Jetzt haben wir uns mit Müh und Not eine so große Freiheit erkämpft, auch eine große sexuelle Freiheit – und das nehmen sie uns nun alles weg!

Was genau drohte, verloren zu gehen?

In der Zeit vor Aids hatten wir ein „Ethos des Experimentierens“. Ich probierte damals wohl fast alles aus, wovon ich gehört und wozu ich Lust hatte. Schlimmeres als einen Tripper oder eine Syphilis gab es ja nicht. Wir erprobten die verschiedensten Lebensformen, zum Beispiel, was das Zusammenleben angeht. Dieses Ethos ist mit Aids den Bach runtergegangen. Heute gibt es relativ wenige Lebensstile, die unter uns Schwulen noch als gesellschaftlich konform gelten: irgendwo zwischen Safer Sex und Lebenspartnerschaft. Das empfinde ich als Rückschritt.

Wann hast du erfahren, dass du positiv bist?

Ich bin vor 25 Jahren gegen meinen Willen getestet worden. Mein Hausarzt meinte aus vermeintlicher Fürsorge, er müsse mal nachschauen, weil ich in diesem Jahr meine dritte Mandelentzündung hatte.

Wie bist du mit der Diagnose umgegangen?

Nach meinen ersten Erfahrungen mit Aidshilfe und Selbsthilfegruppen stellte ich es für mich beiseite. Ich wusste: Ich hab’s. Man konnte damals eh nichts machen. Ich ließ nur alle zwei Jahre meine Blutwerte checken, das war’s. Damals machte ich Karriere, kümmerte mich um mein Fortkommen. Das war eine Umgangsweise, die in mein Leben reingepasst hat. Für viele Positive ist das auch heute so: Verdrängung kann zu bestimmten Zeiten okay sein.

1995 und 1996 warst du dann wochenlang im Krankenhaus …

… wegen mehrerer Lungenentzündungen und einer Antibiotika-Allergie, die zu einem lebensbedrohlichen Lyell-Syndrom geführt hatte. Meine Haut warf große, entzündete Blasen und löste sich von meinen Beinen und Fußsohlen ab. Mein Immunsystem war völlig kaputt. Es war wirklich knapp bei mir. Es gab keine HIV-Medikamente mehr, die bei mir wirkten. Im Frühjahr 1996 sagte dann mein Arzt zu mir: Ich kann leider nichts mehr für dich tun. Ich spritz dich mit Cortison für zwei Wochen fit. Guck zu, dass du mit deinem Mann noch mal einen schönen Urlaub machst.

Hast du seinen Rat befolgt?

Ja, wir haben eine Kreuzfahrt im Mittelmeer gemacht und waren danach noch eine Woche in der Türkei, in einem Hotel direkt am Strand.

Wie ging es weiter?

Nach unserer Rückkehr wechselte ich die Klinik und kam zu einem tollen Arzt. Der hat sich dahintergeklemmt. Zuvor hatte ich selbst schon rausgefunden, dass in den USA gerade ein neues Medikament erprobt wurde: Crixivan, einer der ersten Proteasehemmer. Aber in eine Studie in Deutschland kam ich nicht rein, weil es mir schon zu schlecht ging. Mein Tod hätte den Forschern die Statistik versaut.

Wie bist du trotzdem an das Medikament rangekommen?

Mein Arzt besorgte es mir als Import, sobald es in den USA zugelassen war. Meine private Krankenkasse wollte das anfangs nicht zahlen. Sie übernahm die Kosten erst, nachdem Tex Weber von „Projekt Information“ – ihm ging es genauso schlecht wie mir – und ich beim Vorstand der Versicherung Druck gemacht hatten.

Crixivan hat dir das Leben gerettet.

Ja, schon nach drei Wochen hatte sich mein Befinden verbessert, und nach einiger Zeit zogen auch meine Blutwerte nach. Aber das Mittel hätte keinen Tag später kommen dürfen.

Als du wieder hoffen durftest, was waren deine ersten Ideen?

Ich glaube, ein toller Urlaub – Aquitaine oder Bretagne. Das ist eine sehr raue Landschaft, sie kommt meinem norddeutschen Naturell entgegen. Ich mag Frankreich und die Franzosen sehr. Sie haben schöne Strände und machen guten Sex (lacht). Das ist ein Klischee, aber es ist wirklich so.

Ab wann hast du es gewagt, wieder in die Zukunft zu planen?

Früher war ich ein Mensch, der weit vorausgeplant hat. Als Frank und ich uns kennenlernten, hatten wir beide schon Vorstellungen davon, wie unser Lebensweg aussehen könnte: ein Häuschen im Grünen, später vielleicht ein Umzug nach Südfrankreich, weil es dort wärmer ist. All das warf dieses Scheißvirus über den Haufen. Damals wurde mein gedanklicher Horizont immer enger. Heute fände ich es schick, wenn ich 70 Jahre alt würde. Aber ich plane nicht mehr so lange im Voraus. Gerade stecken wir viel Zeit und Energie in unser Haus, wo wir es uns gemütlich machen wollen. Aber sollten wir in einigen Jahren feststellen, dass das Haus zu klein oder Hamburg nicht unsere Stadt ist, dann machen wir halt was anderes! Wir planen viel flexibler als früher.

Was hat dir geholfen, die schwere Zeit durchzustehen?

Mein Mann, seine Mutter, mein bester Freund und natürlich mein Arzt. Ohne sie hätte ich gar nicht solange durchgehalten, bis die Pillen aus USA angekommen waren. Aber auch die Tatsache, dass ich mich immer selbst um mein Überleben gekümmert habe. Als ich merkte, dass meine Ärzte an Grenzen kamen und ich immer kränker wurde, fing ich an, Fachzeitschriften zu lesen und zu Kongressen zu fahren. Damals merkte ich, dass das auch andere interessiert. Deshalb machte ich selbst Veranstaltungen, zum Beispiel über neue Therapieansätze oder das Verhältnis zwischen Arzt und Patient.

Viele HIV-Patienten waren in den 90er Jahren besser informiert als ihre Ärzte.

Nicht unbedingt besser informiert, aber sehr gut. Es war und ist wichtig, informiert zu sein. Ein Patient sollte wissen, was Nebenwirkungen sind, und sollte kritisch nachfragen können. Nur so kann er zusammen mit dem Arzt eine gute Entscheidung treffen und sie dann auch richtig umsetzen.

Meinst du, die meisten HIV-Patienten machen das so?

Nein, aber die medizinischen Realitäten haben sich ja auch verändert. Bald stehen 30 verschiedene HIV-Medikamente zur Auswahl. Da ist es schwer, den Überblick zu behalten. Wer heute mit seiner Therapie anfängt, muss pro Tag vielleicht nur eine Pille schlucken. Patienten haben deshalb oft nicht den Bedarf, sich groß zu informieren. Aber später wird es dann schwierig, wenn zusätzliche Pillen kommen, wenn Resistenzen oder Nebenwirkungen wie Durchfälle auftreten.

Du lebst seit 29 Jahren mit deinem HIV-negativen Mann zusammen. Hast du manchmal noch Angst, Frank anzustecken?

Nein. Ich kann mich zwar an die ersten Zeiten erinnern, als wir uns fragten, ob wir dieselbe Zahnbürste benutzen dürfen. Aber solche Sorgen konnten uns die Ärzte schnell nehmen. Welche Alternative hätten wir denn gehabt? Wenn man weiß, dass man zusammen sein will, dann macht das keine Angst. Die Angst war eher: Was ist, wenn ich vor Frank sterbe?

Wenn du zurückblickst: hatten deine schlimmen Erfahrungen auch etwas Gutes?

Na klar, man wächst daran. Ich musste mich sehr früh mit Krankheit und Leid auseinandersetzen. Das war später hilfreich für mich. Ein Beispiel: Als meine Mutter an Krebs erkrankte, konnte ich mit ihr, aber auch mit ihrem Arzt umgehen. Ich hatte eine Ahnung, dass ich sie so annehmen musste, wie sie nun mal war. Bei ihr war es der klassische Fall: Jemand stirbt in ein paar Wochen, aber bekommt keine Morphiumpflaster gegen die Schmerzen, weil die süchtig machen könnten. Auf solche Situationen war ich damals vorbereitet: von den Fakten her, aber auch vom emotionalen Umgang damit.

Wie wichtig ist ein offener Umgang mit HIV?

Was das angeht, habe ich alles durch: vom Verdrängen übers Leugnen bis hin zum offensiven Umgang damit. Inzwischen ist das eine Selbstverständlichkeit für mich. Es gibt nur noch ganz wenige Situationen, wo ich es nicht sage.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Wenn ich anonymen Sex habe. Dann schaue ich, dass ich mein Verhalten vor mir und dem anderen verantworten kann. Aber ich muss nicht immer sagen, hallo, ich bin positiv. Oft kommt es sonst nicht zum Sex, sondern zu einer Fluchtreaktion oder zu einem Beratungsgespräch, und das ist in dem Moment von beiden Seiten nicht beabsichtigt. Auch in anderen Situationen erzähle ich es nicht ungefragt. Aber wenn es jemand wissen will, dann sage ich es. Auf Versteckspiele habe ich keine Lust mehr.

Hast du inzwischen Routine in Sachen „positives Coming-out“?

Mir hat es damals sicher geholfen, dass ich vorher schon mein schwules Coming-out hatte. Ich wusste ungefähr, wem ich es erzähle und wie ich es sage, dass ich positiv bin – bei Freunden, Lovern und am Arbeitsplatz. Aber die Angst vor den Reaktionen kommt immer wieder mal. Ich glaube nicht, dass man da eine Routine entwickeln kann.

Interview: Philip Eicker

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DAH-Blog 08.06.2011: 30 Jahre HIV – „Das Mittel hätte keinen Tag später kommen dürfen“
Das Interview erschien in gekürzter Form auch in Hinnerk 12/2011

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

MMWR 5. Juni 1981 – der erste Bericht über Aids

MMWR 5. Juni 1981 Aids – „ erster Bericht über Aids “ – der 5. Juni markiert den Jahrestag der erstmaligen Beschreibung eines neuen Krankheitsbildes, das wenig später mit ‚Aids‘ bezeichnet wird.

5. Juni 1981: Der Wissenschaftler Michael Gottlieb von der UCLA informiert in einem Bericht publiziert im Mitteilungsblatt der us-amerikanischen CDC Centers für Disease Control and Prevention (dem “Morbidity and Mortality Weekly Report”, MMWR) auf Seite 2 einen Bericht über eine ungewöhnliche Konstellation von Pilzinfektionen und Lungenentzündungen (PcP) bei fünf ansonsten scheinbar völlig gesunden jungen schwulen Männern aus Los Angeles. Offenbar ist das Immunsystem bei den Männern zusammengebrochen:

In the period October 1980 – May 1981, five young men, all active homosexuals, were treated for biopsy-confirmed Pneumocystis carinii pneumonia at three different hospitals in Los Angeles, California. Two of the patients died. The fact that these patients were all homosexuals suggests an association between some aspects of a homosexual lifestyle or disease acquired through sexual contact and Pneumocystis carinii pneumonia in this population.
[Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR), Vol. 30, Nr. 21, US Centers for Disease Control (CDC), 5. Juni 1981; Der damalige Bericht kann im Internet gelesen werden auf den Internetseiten der CDC (hier).]

Dieser Bericht gilt als die erste wissenschaftliche Veröffentlichung zu Aids.

Die ungewöhnliche Häufung seltener Erkrankungen bleibt zunächst jedoch namenlos. Schon bald ist allerdings von ‚Schwulen-Krebs‘ oder ‚Schwulen-Pest‘  (einem Begriff, den die Zeitschrift ‚Spiegel‘ in Übersetzung des US-amerikanischen Begirffs gay plague im ihrer Ausgabe vom 11. Juli 1983 prägt) die Rede, wissenschaftlich verbrämt als GRID (gay related immune deficiency). Erst am 27. Juli 1982 einigen sich die in den USA mit dem Blutspendewesen befassten Organisationen anlässlich einer Konferenz auf einen neuen Namen: AIDS für Acquired Immuno Deficiency Syndrome (französisch: SIDA).

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2011 – 30 Jahre ‚ erster Bericht über Aids ‚

Das 30-jährige ‚Jubiläum‘ 2011 war Anlass für zahlreiche Artikel, Features und Rückblicke. Die Zeitschrift ‚Spex‘ (‚Magazin für Popkultur‘) widmete ihm einen Themen-Schwerpunkt in der Ausgabe Mai/Juni 2011.

Zu Wort kam darin u.a. in einem sehr lesenswerten Interview der US-Kunstkritiker und Aids-Aktivist Douglas Crimp (u.a. „AIDS: Cultural Analysis/Cultural Activism, MIT Press (1988) und AIDS Demo Graphics (1990)).

Crimp erinnerte an eine Zeit der ‚Pest‘, als schwule Männer eine – nicht ganz unbegründete – Angst hatten, man wolle ihnen ihre gerade erst errungenen Freiheiten, auch: sexuellen Freiheiten, wegnehmen.

Eine homosexuelle Krankheit? – vollkommen unmöglich, schließlich handelt es sich bei Homosexualität um ein kulturelles Konstrukt. Mit dieser Einschätzung, dass es sich  bei der ganzen Sache um ein Komplott handelte, das schwule Männer davon abhalten sollte, Sex zu haben, oder ‚zu viel Sex‘ zu haben – wie viel auch immer das sein sollte -, habe ich über Jahre die Angst vor Aids verdrängt oder mich zumindest davon abgeschottet.

Crimp berichtete und dachte nach über den Umgang der Kunst mit dem Thema Aids, von Benefizzen bis zu aktivistischen Künstlergruppen wie ‚General Idea‘ oder ‚Gran Fury‘, Kunst in der Nähe von ACT UP.

„Man konnte zwar Kunstwerke verkaufen, um Geld für die Aids-Forschung zu sammeln, aber die Vorstellung, dass Kunst sich direkt mit Aids befassen könne, kam niemandem in den Sinn. … ‚Kunst kann Leben retten‘. Aber das wurde damals nicht erkannt.“

Weitere Artikel des Schwerpunkts behandelten die erste chinesische Kino-Doku über HIV-Positive (‚Together‘), den Umgang der Pornoindustrie mit Aids (mit unhinterfragten ärgerlichen Behauptungen wie einem konstatierten „immer stärkeren Trend zu besonders unsafem Sex“‚ und „Infektionsraten in der Orgienkultur“), oder einem Artikel zu der Frage „wie aus Aids Werbung wurde“.

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Einen Überblick über Ereignisse der erste Jahre der Aids-Krise bietet auch die ondamaris-Rubrik Aids-Zeiten.

Aids-Zeiten : HIV & Aids 1980 – 1986

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Jubiläen häufen sich …

Die Jubiläen häufen sich – Aids wird 25, Aidshilfen werden 20 oder feiern ihr 25-jähriges Bestehen, nun ‚Aids wird 30‘.

Es sind Jubiläen mit seltsamem, mit bitterem Beigeschmack. Gibt es etwas zu feiern? Wohl kaum. Oder doch? Immerhin ist die Reaktion auf die neuartige Erkrankung bemerkenswert, die erreichten Ergebnisse nicht minder.

Der fade Beigeschmack bleibt, umso mehr, als derartige Jubiläen schnell zum wohlfeilen Anlass für muntere Benefizze und Bälle werden – und die Situation HIV-Positiver, ob in Europa oder in den Staaten Afrikas oder Asiens, in den Hintergrund gerät. Benefizze des Schön- und Reich-Seins, des sich Wohl Fühlens angesichts der eigenen Wohltätigkeit.

Aids? Aids-Tote? Leid? Stigmatisierung? War da was?

Blick zurück?
Blick nach vorn!

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