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Das Ende von ACT UP in Deutschland – Ullis ACT UP Erinnerungen 6

Das Ende von ACT UP in Deutschland – wann, und vor allem aus welchen Gründen kam nach vielen erfolgreichen Aktionen recht bald das Ende dieser Aids-Aktivismus-Gruppen?

Dies ist der fünfte Teil der Mini-Serie Ullis ACT UP Erinnerungen. Im ersten Teil habe ich über die Entstehung von ACT UP in Deutschland geschrieben, im zweiten Teil über ACT UP in Deutschland. Der dritte Teil befasste sich mit ACT UP Köln, der vierte beschäftigte sich mit dem Verhältnis von ACT UP Deutschland und den USA. Der fünfte Teil berichtete über die ACT UP Proteste im Dom zu Fulda.

Die Luft ist raus bei ACT UP … ?

1993, nach der Welt-Aids-Konferenz in Berlin, war für ACT UP in Deutschland  “die Luft im Wesentlichen raus“, bemerkte Corinna Gekeler (u.a. ACT UP Amsterdam) 2012.

Die Luft rausaus ACT UP in Deutschland war meiner Erinnerung nach schon früher. Die Erosion, die später zum Ende von ACT UP führte, begann meines Erachtens bereits Ende 1991, vordergründig damals aus zwei Aspekten heraus:

Erstens: Die ACT UP Aktion im Dom zu Fulda war wohl die größte und erfolgreichste Aktion der deutschen ACT UP Gruppen.  Hatte enorme Medien-Resonanz gebracht, und eine Strafanzeige – hatte aber auch enorm Kraft gekostet, Energien gebunden. Und die Frage aufgeworfen: wofür der ganze Aufwand? Die Sinnfrage (bzw. die Frage nach Verhältnis von Aufwand und Ertrag) stellte sich, nicht nur für mich.

Zweitens: der Fokus veränderte sich, Therapien und medizinische Fragen rückten mehr in den Mittelpunkt. Wann werden endlich wirksame und halbwegs verträgliche Medikamente verfügbar? Wie schnell können erfolgversprechende experimentelle Substanzen (auch vor ihrer zeitaufwendigen Zulassung) verfügbar gemacht werden? Warum dauern klinische Studien so lange, schließen viele Positive aus? Auch in Deutschland wandten sich Aktivisten  (unter anderem, bei weitem nicht nur, auch aus schierer persönlicher Notwendigkeit heraus) dem Therapieaktivismus zu. Dies zeigte sich auch bei ACT UP: bereits im Dezember 1991 traf sich die Arbeitsgruppe ‘Treatment’ der deutschen ACT UP Gruppen erstmals in Hamburg.

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Gründe für das Ende von ACT UP in Deutschland

Dies waren m.E. nur die vordergründigen Faktoren einer schleichenden Erosion von ACT UP in Deutschland. Was führte zur dieser Erosion, dann zur Demobilisierung und Desintegration der deutschen ACT UP Gruppen?

Im wesentlichen sehe ich folgende Faktoren für das Ende von ACT UP in Deutschland Anfang der 1990er Jahre (siehe dazu ausführlicher meine 2008 formulierten Gedanken in ACT UP – Mythos oder Modell einer Bürgerrechts-Bewegung HIV-Positiver?):

  1. mit dem Tod von Andreas Salmen starb im Februar 1992 der ‚geistige Vater‘ von ACT UP in Deutschland, der zugleich Kristallisationspunkt und Motor vieler Aktionen und Aktivitäten war
  2. die Übernahme von Aktionen aus den USA: viele unserer großen überregionalen Aktionen waren direkt oder indirekt an Aktionen aus den USA angelehnt (wie Marlboro-Boykott oder Stoppt die Kirche), erwiesen sich mittelfristig als zu weit entfernt von der Lebenssituation vieler Positiver in Deutschland
  3. Veränderung der Situation: nachlassender Handlungsdruck. Zu Beginn von ACT UP gab es kein bzw. dann ein Medikament (AZT). Spätestens mit der Verfügbarkeit von Didanosin aber verbesserte sich langsam die Therapiesituation, und damit allmählich auch die (medizinisch) existentielle Situation vieler Positiver
  4. diese veränderte Situation führte auch zu einem Abwandern von Aktiven – die Frage der Verfügbarkeit von Medikamenten, der Gestaltung von Studien, der (Beschleunigung der) Zulassung hatte sich als so wichtig erwiesen, dass einige von uns (mich eingeschlossen) vom politischen Aids-Aktivismus bei ACT UP zum Therapie-Aktivismus wechselten
  5. Hinzu kam, dass Aidshilfe sich verändert hatte – nach dem ‚Aufstand der Positiven‘ und dem Ankommen der Auswirkungen in Aidshilfen vor Ort fanden Positive und Aids-Kranke in Aidshilfen oftmals ihre Interessen besser vertreten als vorher, eher in ihren Bedürfnissen wahrgenommen.
  6. mit der sich langsam verbessernden Situation wurde immer deutlicher, dass die eher vom Konsens geprägte Gesellschaft in Deutschland (im Gegensatz zu den USA oder z.B. Frankreich) eine langfristig eher ‚dürre‘ und wohl nicht ausreichende Basis für auf Provokation und Zuspitzung angelegte Aktionsgruppen wie ACT UP ist.

Anders als die (meisten) ACT UP Gruppen in Deutschland und Europa existierte ACT UP Paris noch viele Jahre – die Gruppe entging 2015 knapp der Zwnags-Liquidation.

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Ende oder Scheitern?

ACT UP: eine kurzzeitig sehr erfolgreiche Bewegung zerfällt [1] – und verschwindet doch nicht ganz. Es bleiben: ein Mythos – und viele Einzelpersonen, die sich nach ihrer Zeit bei ACT UP in anderen Zusammen­hängen engagieren, sei es als Therapieaktivisten, als ‚Einzelkämpfer‘, in gemeinnützigen Vereinen in LDC, in Aidshilfen, in HIV-Pflegevereinen (wie in Berlin, Köln).

ACT UP war in Deutschland nie so bedeutend wie in den USA, nie so politisiert (besonders zum Leid­wesen von Andreas), nie so grundlegend die Strukturen und Instanzen kritisierend, angreifend wie in den USA.

ACT UP hat andererseits in Deutschland viele Themen als erste überhaupt bewusst gemacht, auf die Agenda gehoben (wie die Frage der Geschwindigkeit von Arzneimittel-Zulassungen, oder die Idee der Beteiligung von Patienten an Studiendesigns). Zahlreiche ACT UP Aktivisten haben sich nach der Zeit bei ACT UP jahrelang erfolgreich in Aids-Bewegungen engagiert.  Und ACT UP hat in Deutschland dazu beigetragen, Realitäten zu verändern. Dass die Teilnahme HIV-Positiver an Aids-Konferenzen wie dem Deutsch-Österreichischen Aids-Kongress heute selbstverständlich und durch eine Vereinbarung abgesichert ist – diese Selbstverständlichkeit zum Beispiel begann mit jahrelangen ACT UP-Aktionen für den Zugang zum Deutschen Aids-Kongress.

Das Ende von ACT UP in Deutschland ist nicht gleichbedeutend mit einem Scheitern von ACT UP in Deutschland. ACT UP war eine Phase des Aids-Aktivismus, an der sich viel festmachte – und die auf vielen anderen Ebenen weiter geführt wurde.

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[1] Hier ist anzumerken, dass die ACT UP Gruppen in Deutschland unterschiedlich lange existierten. Am längsten – bis Ende der 1990er Jahre – existierte ACT UP Frankfurt, wenn auch in den letzten Jahren weniger mit einem aktivistischen als mit einem karitativen Anspruch.

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DAH-Blog 24.03.2012: Die Kraft der Wut
Ulli Würdemann / ondamaris 21.12.2008: ACT UP – Mythos oder Modell einer Bürgerrechts-Bewegung HIV-Positiver?

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ACT UP Erinnerungen:
1. Entstehung von ACT UP
2. ACT UP in Deutschland
3. ACT UP Köln
4. ACT UP Deutschland und die USA
5. ACT UP Proteste im Dom zu Fulda
6. Das Ende von ACT UP in Deutschland
7. nach ACT UP – was bleibt?

Diese kleine Mini-Serie bildet nur meine persönlichen Erinnerungen an meine ACT UP Zeit ab. Ich freue mich sehr über Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen – ob per Kommentar oder persönlicher Nachricht!

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ACT UP Proteste im Dom zu Fulda – Ullis ACT UP Erinnerungen 5

Die ACT UP Proteste im Dom zu Fulda waren die wohl bekannteste Aktion von ACT UP in Deutschland. Wie kam es dazu?

Dies ist der fünfte Teil der Mini-Serie Ullis ACT UP Erinnerungen. Im ersten Teil habe ich über die Entstehung von ACT UP in Deutschland geschrieben, im zweiten Teil über ACT UP in Deutschland. Der dritte Teil befasste sich mit ACT UP Köln, der vierte beschäftigte sich mit dem Verhältnis von ACT UP Deutschland und den USA.

Sonntag 29. September 1991. In Fulda findet der Abschlussgottesdienst der Herbsttagung der Deutschen Bi­schöfe (Deutsche Bischofskonferenz) statt. Nahezu die gesamte Spitze der katholischen Kirche in Deutschland ist versammelt. Mitten während des Gottesdienstes erklingen plötzlich statt süßer Orgelklängen schrille Trillerpfeiffen. Transparente mitten im Kirchenraum. Vor dem Altar liegen Aids-Aktivisten auf dem Boden, ein ‚Die-in‘. ACT UP Proteste im Dom zu Fulda. ACT UP protestiert lautstark und unübersehbar gegen die Haltung der katholischen Kirche zu HIV und Aids, und besonders gegen Äußerungen und Politik des Fuldaer Bischofs Dyba.

ACT UP Proteste im Dom zu Fulda / Titel der Nürnberger Schwulenpost November 1991 (© NSP)
ACT UP Proteste im Dom zu Fulda / Titel der Nürnberger Schwulenpost November 1991 (© NSP)

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im Zentrum der Kritik: Johannes Dyba, Bischof von Fulda

Johannes Dyba (* 15.9.1929 Berlin, † 23.7.2000 Fulda) war seit 1983 und bis zu seinem Tod 2000 Bischof von Fulda sowie von 1990 bis 2000 Militärbischof der Bundeswehr. Dyba galt selbst innerhalb der katholischen Kirche als Vertreter äußerst konservativer Positionen. Abtreibung bezeichnete er als „Kinderholocaust“. Im September 1993 veranlasste er, das sein Bistum aus der Schwanger­schaftskonfliktberatung ausstieg. Als Militärbischof begrüßte er den Golfkrieg, bezeichnete (in an­derem Kontext) Militäreinsätze als „gerechten Krieg“ .

Über Homosexualität und Schwule hatte Dyba klare Vorstellungen: „Das sind wie andere eben widernatürliche Anlagen, die kann man nicht ausleben“ [Quelle]. Während der Debatten über das Lebenspart­nerschaftsgesetz (von der Rot-Grünen Koalition am 16. Februar 2001 verabschiedet) sprach Dyba 2000 von „homosexueller Liaison“ und „importierten Lustknaben“, die Lebenspartnerschaft Homo­sexueller sei „ein weiterer fataler Schritt in die Degeneration“.

Johannes Dyba hatte auch in Sachen HIV und Aids klare Positionen: Aids sei eine Folge des „Abfalls von Gott“, der eben „nicht ungestraft“ bleiben könne – Aids als Strafe Gottes, nicht nur damals eine be­liebte Kulisse rechtskonservativer Kirchenkreise.

Nach Abschluss der ACT UP Proteste im Dom zu Fulda stellt Johannes Dyba die Demonstranten in den Kontext von Nazi-Tätern: „Im Dritten Reich ist die SA auch schon auf dem Fuldaer Domplatz erschienen, um Gläubige einzuschüchtern. Aber noch nicht einmal im 3. Reich sind die Nazis in den Dom eingefallen.“ [Quelle 1, 2, 3]

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Warum in den Dom? – Die Vorbereitungen

Begonnen hatte alles ganz ‚ordnungsgemäß‘:
Die Frankfurter ACT UP Gruppe hatte für die deutschen Gruppen die Aktion in Fulda ganz ordentlich angemeldet, als Demonstration vor dem Dom. Doch Bischof Dyba hatte enge Verbindungen zur Fuldaer Stadt­verwaltung – und diese nutze er. Er drängte die Stadtverwaltung,  die Demonstration gerichtlich verbieten zu lassen. Blieb ACT UP da anderes, als den Bischöfen im Dom die Meinung zu sagen?

Begonnen hatte die Aktion – noch ein wenig früher.
Sie ‚fiel nicht vom Himmel‘. Sondern war vorbereitet, intensiv vorbereitet sogar. In monatelanger Arbeit hatten wir recherchiert, eine umfangreiche Dokumentation (insbes. für die Medien) verfasst, Kontakte gezogen. Und – wir hatten geprobt. Schließlich, wie bekommt man ein riesiges Transparent an einen Kirchenturm? So dass es hängen bleibt, der Wind es weder zerfetzt noch die Sicht beeinträchtigt? Und überhaupt, wie sieht so eine Kirche von innen aus, wie könnten wir uns wo am besten ‚einbringen‘? Ein ganzes Wochenende ‚probten‘ wir verschiedene Szenarien, um in Fulda auf Eventualitäten vorbereitet zu sein.

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ACT UP Proteste im Dom zu Fulda und die Folgen

Die ACT UP Proteste im Dom zu Fulda und davor war die wohl spektakulärste Aktion der deutschen ACT UP Gruppen: ‚Stoppt die Kirche‘ im September 1991 in Fulda. Und eine der folgenreichsten, zumindest was sowohl mediale Aufmerksamkeit als auch juristische Auseinandersetzungen betrifft: erstmals berichtete die ‚Tagesschau‘ zur prime time um 20:00 Uhr mehrere Minuten über eine Aktion von Aids-Aktivisten und HIV-Positiven, und deren Anliegen. Und Bischof Dyba kassierte eine Anzeige: er beschimpf­te die Teilnehmer der Aktion als „Chaoten“, „hergelaufene Schwule“ und „randalierende Aids-Posi­tive“. Die Reaktion: mehrere Strafanzeigen wegen Beleidigung, übler Nachrede und Ver­leumdung. Nachdem Dyba teilweise widerruft, werden die Verfahren eingestellt.

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Spiegel 28.10.1991: Bischöfe – Römischer Furz
Siegel 10.07.2000: Importierte Lustknaben – Der Fuldaer Erzbischof Johannes Dyba über das rot-grüne Gleichstellungsgesetz

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siehe hierzu auch
Eugen Januschke, Ulrike Klöppel: ACT UP-Kirchenprotest in Deutschland als translokale Aids-aktivistische Praxis. Hamburger Journal für Kulturanthropologie (HJK), (13), 651–660 (online)

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ACT UP Erinnerungen:
1. Entstehung von ACT UP
2. ACT UP in Deutschland
3. ACT UP Köln
4. ACT UP Deutschland und die USA
5. ACT UP protestiert im Dom zu Fulda
6. Das Ende von ACT UP in Deutschland
7. nach ACT UP – was bleibt?

Diese kleine Mini-Serie bildet nur meine persönlichen Erinnerungen an meine ACT UP Zeit ab. Ich freue mich sehr über Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen – ob per Kommentar oder persönlicher Nachricht!

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ACT UP Deutschland und die USA – Ullis ACT UP Erinnerungen 4

Wie weit war ACT UP Deutschland von den USA inspiriert, wie weit geprägt von der Situation hier?

Dies ist der vierte Teil der Mini-Serie Ullis ACT UP Erinnerungen. Im ersten Teil habe ich über die Entstehung von ACT UP in Deutschland geschrieben, im zweiten Teil über ACT UP in Deutschland. Der dritte Teil befasste sich mit ACT UP Köln.

ACT UP, das ist doch eigentlich eine us-amerikanische ‚Erfindung‘, künstlich nach (West-) Deutschland geholt – ist gelegentlich zu hören. ACT UP – gar nur ein bezugsloser „Import aus den USA“?

ACT UP Deutschland – ein US-Import?

Ja, ACT UP war ein Import aus den USA. Auch. Aber nicht nur. Warum?

Andreas Salmen kam aus einem längeren USA-Aufenthalt in den USA zurück, hatte dort in New York die Gründung, ersten großen Meetings und kraftvollen Aktionen von ACT UP mit erlebt, den Furor, die Wut, die Zusammenarbeit verschiedener Gruppen von Aktivisten über Künstler bis Medienmacher.

Voller Feuer kam er nach Berlin zurück – und gründete dort eine ACT UP Gruppe. ACT UP Deutschland , ACT UP Gruppen in Deutschland übernahmen – so hat es den Anschein – die „Marke“ ACT UP, mit ihren Konzepten, Aktionsformen, ihren medial orientierten Arbeitsweisen, ihren Slogans.

Insofern, ja, ACT UP war ein Import aus den USA.
Ein Import, ein adaptierter Import, dessen wir uns bewusst waren.

In der von den ACT UP Gruppen in West-Deutschland (dort genannt: Berlin, Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Nürnberg) geschalteten Traueranzeige für Andreas Salmen († 13.2.1992) heißt es

Andreas war derjenige, der die us-amerikanische ACT UP – Idee aufgegriffen und auf unsere Verhältnisse übertragen hat.

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ACT UP – die (west-) deutsche Seite

Politischer Aids-Aktivismus, auch unter dem Label ACT UP, entstand in Deutschland vor dem Hintergrund von Wut, Verzweiflung, Angst.

Wut, z.B. über ignorante Medien (die sich weigerten, in einer Traueranzeige für den an Aids verstorbenen Schwulen-Aktivisten Jean-Claude Letist das Wort „schwul“ zu verwenden). Wut über Unternehmen die mit HIV-Tests versuchten, HIV-positive Bewerber auszusondern. Wut über Politiker, die „schwule Infrastruktur zerschlagen“ wollten. Wut über Medien und Journalisten, die agitierten, hetzten, Panik schürten – auf unserem Rücken.

Verzweiflung angesichts der ständig steigenden Zahlen an Infektionen, auch im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis. Verzweiflung über die Hilflosigkeit. Verzweiflung über die letztliche Aussichtslosigkeit jeglicher Bemühungen.

Angst, jetzt zerstören „sie“ das an schwulen Szenen, was unsere Vorgänger und wir mühsam aufgebaut haben. Angst errungene Freiheiten einem Virus und der Panik davor opfern zu müssen. Angst davor, bald bist du selbst an der Reihe.

Aktionen wie in Köln am 5. Mai 1988  beim Besuch von Peter Gauweiler (siehe Erinnerungen ACT UP Köln) – wären wohl, hätten wir ACT UP damals bereits gekannt, die Bedeutung der ‚Marke‘ erkannt, eine reife und große ACT UP Aktion gewesen. Wir kannten ACT UP damals noch nicht – was Wirkung und Qualität der Aktion nicht schmälert. Aber vielleicht darauf hinweisen mag, dass es auch in (West-) Deutschland früh Formen des (auch militanten) Aids-Aktivismus gab. Einen Drang zum Handeln, der dann in ACT UP seinen Fokuspunkt fand.

Eine Betrachtung von ACT UP isoliert von anderen (auch zeitlich teilweise vorangegangenen) Formen des (politischen) Aids-Aktivismus gibt also ein verzerrtes Bild – oder umgekehrt: politischen Aids-Aktivismus in (West-) Deutschland einzig aus dem Blickwinkel ACT UP zu betrachten wäre eine verengte Perspektive.

ACT UP Graffiti an einem Teil der Berliner Mauer (aufgenommen 2008 im 'Newseum, USA, Foto: Queerbubbles)
ACT UP Graffiti an einem Teil der Berliner Mauer (aufgenommen 2008 im ‚Newseum, USA, Foto: Queerbubbles, Lizenz cc by-sa 3.0)

A section of the Berlin Wall with Graffiti regarding Act Up. Taken at the Newseum in DC.QueerbubblesCC BY-SA 3.0

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Unterschiedliche Situationen

Einige der ‚großen‘ Aktionen, meist von mehreren oder allen westdeutschen ACT UP – Gruppen ge­meinsam geplant und durchgeführt, basieren auf Aktionen in den USA, so der ‚Marlboro-Boykott‘ (der mit dem Protest gegen die Unterstützung des rechtsgerichteten US-Politikers Jesse Helms zudem ein stark US-lastiges Thema hatte), sowie die wohl größte Aktion der westdeutschen ACT UP Gruppen, ‚Stoppt die Kirche‘ im Dom zu Fulda

Passten diese Aktionen überhaupt hierher, nach Deutschland? Verstand irgend jemand, worum es geht? Fühlen sich Menschen hier persönlich betroffen, berührt von dem Thema?
Lange und intensiv diskutierten wir (nicht nur bei diesen beiden Aktionen) die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen in USA und West-Deutschland,  und die unterschiedliche Aids-Situation. Die politische Ignoranz dem Thema Aids gegenüber war mit Politikern wie Ronald Reagan in den USA wesentlich ausgeprägter als hierzulande. Und die Strukturen des Gesundheitssystems sicherten hier anders als in den USA (fast) jeder/medizinische Versorgung. Eine unreflektierte Übernahme von Aktionen verbat sich also von selbst, hätte deren Erfolgsaussichten von vornhinein sabotiert.

Beide Aktionen (um bei den beiden Beispielen zu bleiben) hatten auch immer Nähe zur Situation hier. Viele Schwule, auch viele Positive, waren viel und gerne in die USA gereist. Dass sie es nun, so sie HIV-positiv waren, nicht mehr durften, und dass der Politiker, der für dieses Verbot gesorgt hatte, intensiv von einem Zigaretten-Hersteller finanziell unterstützt wurde – das ging sie sehr wohl etwas an, das betraf sie.
Die Kir­che war (und ist) auch in Deutschland einer der Haupt-Träger zahlreicher Pflegeeinrichtungen und Kranken­häuser, Einrichtungen in denen auch viele HIV-Positive und Aids-Kranke waren. Wenn Bischöfe von Aids als der Strafe Gottes fabulierten, schwulen Sex verurteilten, jegliche Pflege und Unterstützung von einem „na aber auf persönlicher Ebene helfen wir trotz aller Ablehnung“ vergiftet schien – dann verstandene viele sofort, dass die Haltung der Kirche zu HIV und Aids sie, ob selbst gläubig oder nicht, sehr wohl ganz konkret etwas anging.

Andere Aktionen waren genuin aus deutschen Problemen heraus entstanden, so z.B. Proteste gegen die Airline Lufthansa (Diskriminierung HIV-Positiver bei der Einstellung) oder die über mehrere Jahre stattfindenden Aktionen, um HIV-Positiven und Aids-Kranken Zutritt zu und Gehör auf Deutschen Aids-Kongressen zu verschaffen.

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Austausch – mit den USA, mit anderen ACT UP Gruppen

Keine ACT UP Gruppe agierte isoliert ‚vor sich hin‘. Regelmäßiger Austausch unter einander war üblich.

Wir waren in Austausch mit US- ACT UP Aktivisten. Einige von uns hatten viele persönliche Kontakte, andere keine, lasen aber aktuelle ACT UP – nahe Literatur aus den USA. Wieder andere scherten sich nicht um US-Entwicklungen und -Debatten.

Und wir hatten praktischen Austausch mit den USA, wenn auch nur sporadisch. Besonders intensiv im Rahmen des Trainings in Gewaltfreiheit („non-violent action“) im Waldschlößchen (durch Paula aus den USA).

Viel wichtiger als der Austausch mit den USA, mit US-Aktivisten [1] aber war meiner Erinnerung nach im konkreten Leben der Gruppen, in unseren Aktionen und Debatten der Austausch unter einander, zwischen den ACT UP Gruppen in (West-) Deutschland – weswegen wir uns oft und intensiv (immer mehrtägig) trafen.

Bereichernd hinzu kam der Austausch mit anderen europäischen Gruppen auf den ACT UP Europe Treffen, besonders um zu erstehen welche unterschiedlichen Situationen und Rahmenbedingungen auch in Europa bestehen, wie sie sich auf unsere Aktionen auswirken.

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Salmen, A.: (Hg.) ACT UP Feuer unterm Arsch. Die AIDS-Aktionsgruppen in Deutschland und den USA. Deutsche AIDS-Hilfe, Berlin 1991 (AIDS-Forum DAH Sonderband, pdf)
Ulrich Würdemann / ondamaris 13.02.2009: Andreas Salmen

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[1] Intensiver und für unsere Arbeit wichtiger wurde der Austausch mit US-Aktivisten meiner Erinnerung nach erst, als sich (nicht nur) mein Aktivismus-Schwerpunkt vom (politischen) Aids-Aktivismus zum Therapie-Aktivismus verschob.

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ACT UP Erinnerungen:
1. Entstehung von ACT UP
2. ACT UP in Deutschland
3. ACT UP Köln
4. ACT UP Deutschland und die USA
5. ACT UP Proteste im Dom zu Fulda
6. Das Ende von ACT UP in Deutschland
7. nach ACT UP – was bleibt?

Diese kleine Mini-Serie bildet nur meine persönlichen Erinnerungen an meine ACT UP Zeit ab. Ich freue mich sehr über Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen – ob per Kommentar oder persönlicher Nachricht!

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ACT UP Köln – Ullis ACT UP Erinnerungen 3

 ACT UP Köln war ab 1990 Teil der deutschen ACT UP Gruppen, führte eigene lokale Aktionen durch und beteiligte sich an Deutschland-weiten ACT UP Aktionen.

Dies ist der dritte Teil der Mini-Serie Ullis ACT UP Erinnerungen. Im ersten Teil habe ich über die Entstehung von ACT UP in Deutschland geschrieben, im zweiten Teil über ACT UP in Deutschland.

ACT UP Köln bzw. zeitweise ACT UP Köln/Bonn wurde im März 1990 gegründet, von einem kleinen Kreis überwiegend HIV-positiver Menschen im Anschluss an eine spontanen größeren Aktion:

ACT UP Köln – Gründung

Jean Claude Letist, Schwulen-Aktivist und Doyen der Kölner Schwulenbewegung, war am 28. Februar 1990 an den Folgen von Aids gestorben. Das lokale (beinahe Monopol-) Medienorgan weigerte sich jedoch, eine Traueranzeige erscheinen zu lassen, die das Wort „schwul“ enthielt (wenn ich mich recht erinnere, sollte der Text u.a. lauten „Ein bewusst schwules Leben ging zuende.„) Nach langen Protesten kam aus der Chefredaktion der ‚Kompromissvorschlag‘ „homosexuell“ – dass sie damit genau das entwerteten, was wir hervorheben wollten, war ihnen vielleicht nicht klar. Empört versammelte sich eine große Menge Schwuler und Lesben vor dem Verlagsgebäude, das sich damals noch in der Kölner Innenstadt befand. Ein Teil von ihnen machte eine Aktion in Form eines ‚Die-Ins‘ vor dem Eingang. Es kam zu einem Gespräch einer kleinen Gruppe mit Verleger und Chefredaktion – und die Traueranzeige erschien schließlich doch so wie von uns beabsichtigt.

Kurze Zeit später traf sich die Kölner ACT UP Gruppe erstmals – mein Kalender vermerkt ein erstes Treffen am 15. März 1990 (drei Tage nach der Trauerfeier für Jean-Claude, die am Nachmittag des 12. März stattfand). Für mich selbst war dies im wesentlichen der Beginn meines aidspolitischen Engagements.  Vorher hatte ich mich jahrelang in Schwulenbewegungen engagiert, zuletzt besonders im Kölner Schwulen- und Lesbenzentrum SCHuLZ und dort zuletzt 1989/90 bei der Organisation der ‚Antifa-Reihe‘ „Gewalt gegen Schwule und Lesben – Nährboden für Faschismus?„.

Mitstreiter/innen und Aktionen

Mitstreiter/innen bei ACT UP Köln (bzw. Köln/Bonn) waren überwiegend schwule Männer im Lebensalter von Anfang 20 bis Ende 40 (größtenteils, aber nicht alle HIV-positiv). Unter ihnen der frühere Wirt der legendären Kölner Disco ‚Pimpernel‘ Jochen Saurenbach [3], und eine lesbische Frau, regelmäßigen Austausch hatten wir mit einem HIV-positiven Hämophilen. Bis auf sporadischen Gedankenaustausch ist es uns nie gelungen, Drogengebraucher/innen für ACT UP zu gewinnen.

ACT UP beteiligte sich an Protesten gegen geplante Kürzungen der Stadt Köln im Aids-Bereich, u.a. mit einem ‚Die-In‘ von 30 Positiven und Aids-Kranken, um (erfolgreich) ein Gespräch mit der Gesundheits-Dezernentin zu fordern; ein ‚Stein des Anstoßes‘ wurde durch die Innenstadt vor das Rathaus gerollt [2]. ACT UP Köln äußerte seine (kritische) Meinung zu Rosa von Praunheims Aids-Trilogie (bzw. der moralinsauren Haltung darin), als Praunheim im Mai 1990 in Köln war. Engagierte sich beim „Tag des positiven Coming Outs“ (SCHULZ 1991).

Die Kölner ACT UP Gruppe beteiligte sich an den bundesweit koordinierten Aktionen von ACT UP, so insbesondere am ‚Marlboro-Boykott‘ (sehr erfolgreich, nach intensiven Gesprächen führte bald nahezu keine schwule Kneipe in Köln mehr Zigaretten des Herstellers), an den ACT UP Protesten im Dom zu Fulda, an Aktionen auf dem 3 Deutschen Aids-Kongress 1990 in Hamburg und auf dem 4. Deutschen Aids-Kongress 1992 in Wiesbaden.

Und ACT UP Köln beteiligte sich an den Bundesweiten ACT UP Treffen und war schon im November 1990 erstmals selbst Gastgeber, und an den europaweiten Treffen (ich nahm u.a. an mehreren Treffen in Brüssel und Paris teil). Auflistung der Termine dieser Treffen ACT UP in Deutschland.

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ACT UP Köln – wärmer leben: der Versuch der Fusion von schwulem und Aids-Aktivismus

ACT UP Köln war nie ’nur‘ ACT UP – sondern immer ‚mit Untertitel‘. Einige ACT UP – Gruppen trugen ‚Untertitel‘, so die Berliner: ‚ACT UP – Feuer unter’m Arsch‘. Die Kölner Gruppe nannte sich ‚ACT UP Köln – wärmer leben‘, und dieser Untertitel sollte programma­tischen Anspruch ausdrücken. Wir wollten neben dem hauptsächlichen Augenmerk HIV und Aids auch schwulen Realitäten mit thematisieren.

Mit diesem Untertitel griffen wir eine Formulierung von Joachim Schönert [1] auf, der 1982 einen Text unter dem Titel „wärmer leben – eine sexuelle alternative?“ veröffentlicht hatte. ‚Vater des Gedankens‘ war vielleicht auch eine ‚Schwule Zukunftswerkstatt‘, an der ich teilgenommen hatte, und die sich mit „schwulen Utopien für Köln“ beschäftigte.

„Wärmer leben“ – Realität des Handelns bzw. der Aktionen der Gruppe war dieser Untertitel nur in der frühen Phase von ACT UP Köln. In der ersten Phase versuchten wir, Alternativen schwulen Lebens und Aids-Politik gleichberechtigt als Themen und Inhalte von ACT UP Aktionen zu haben. Zum Beispiel mit ei­ner „Aufforstungs-Aktion“, nach einem Kahlschlag des Gartenbauamts am beliebten Kölner Crui­sing-Gebiet ‚Aachener Weiher: am 1. Mai 1990 veranstaltete ACT UP daraufhin die Aktion „Den Aachener Weiher begrünen“:

ACT UP begrünt den Aachener Weiher (1990) – Fotos

ACT UP Köln / Aktion 'Aachener Weiher begrünen', 1. Mai 1990
ACT UP Köln / Aktion ‚Aachener Weiher begrünen‘, 1. Mai 1990
ACT UP Köln / Aktion 'Aachener Weiher begrünen', 1. Mai 1990
ACTUP Köln / Aktion ‚Aachener Weiher begrünen‘, 1. Mai 1990
ACT UP Köln / Aktion 'Aachener Weiher begrünen', 1. Mai 1990
ACT UP Köln / Aktion ‚Aachener Weiher begrünen‘, 1. Mai 1990

Doch dieses Miteinander schwuler und Aids-Themen hielt nicht lange an. Schnell gewannen auch bei uns (wie bei den anderen ACT UP Gruppen) die Aids-Themen eindeutig die Oberhand. Wir konnten eine kritische lokale Schwulenbewegung nicht ersetzen. Und wir wollten es auch zunehmend nicht – HIV, auch (überwiegend) unser eigenes HIV brannte uns viel zu sehr unter den Nägeln.

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Aids-Aktivismus in Köln vor ACT UP

ACT UP Köln fiel nicht vom Himmel – schon in Zeiten vor Gründung von ACT UP gab es Aktionen zivilen Ungehor­sams als Protestaktionen, unter großer Beteiligung HIV-Positiver.

So am 5. Mai 1988, zu einer Zeit als in Deutsch­land die Debatte um die weitere Richtung der Aids-Politik geführt wurde. Peter Gauweiler, damals Staatssekretär im Bayrischen Innenministerium und Exponent der ‚Hardliner‘-Position in der Aids-Politik, besuchte eine Veranstaltung der lokalen CDU im beschaulich-wohlhabenden Kölner Nachbarort Rösrath. Und mehr als hundert Demonstranten, Schwule, Lesben, Aktive in Aidshilfe, Positive, demonstrierten vor Ort in Rösrath gegen Peter Gauweiler.

Zwar gelang es uns nicht, die Anreise von Gauweiler zu verhindern. Aber die lautstarken Proteste waren, so war anschließend zu hören, auch im Ver­sammlungssaal deutlich wahrzunehmen. Und nach Veranstaltungsende konnte die Abfahrt Gauwei­lers mit Straßenblockaden vor dem Veranstaltungsort verzögert werden, es kam zu zahlreichen vor­läufigen Festnahmen durch die Polizei (die uns dann auf eine möglichst weit vom Ort des Gesche­hens entfernte Wache brachte).

Aktionen dieser Art waren zwar in Köln im Aids-Bereich nicht häufig, aber es gab sie, auch vor ACT UP.

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Unterlagen von ACT UP Köln befinden sich heute im CSG Centrum schwule Geschichte, Köln (Dank an Reinhard für den Hinweis – ich hab da ja auch Unterlagen hingegeben …).

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Anmerkungen:
[1] Joachim Schönert: „wärmer leben – eine sexuelle alternative?“, Selbstverlag, Wiesbaden 1982 (antiquarisch erhältlich)
[2] vgl. Reinhard Klenke: Rede zum Jubiläumsempfang aus Anlass von 15 Jahren Kölner Lesben- und Schwulentag am 25. November 2006 (pdf)
[3] vgl. Box-Interview mit Jochen Saurenbach

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ACT UP Erinnerungen:

1. Entstehung von ACT UP
2. ACT UP in Deutschland
3. ACT UP Köln
4. ACT UP Deutschland und die USA
5. ACT UP Proteste im Dom zu Fulda
6. Das Ende von ACT UP in Deutschland
7. nach ACT UP – was bleibt?
Diese kleine Mini-Serie bildet nur meine persönlichen Erinnerungen an meine ACT UP Zeit ab. Ich freue mich sehr über Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen – ob per Kommentar oder persönlicher Nachricht!

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ACT UP Gruppen in Deutschland – Ullis ACT UP Erinnerungen 2

ACT UP in Deutschland – das hieß zahlreiche lokale und lokal agierende Gruppe, die sich regelmäßig unter einander abstimmten und Aktionen koordinierten.

Dies ist der zweite Teil der Mini-Serie Ullis ACT UP Erinnerungen. Im ersten Teil habe ich über die Entstehung von ACT UP in Deutschland geschrieben.

ACT UP in Deutschland

ACT UP – das waren (wie in den USA so auch in (West-) Deutschland) lokale, von einander unabhängige Gruppen, die aber obwohl unabhängig von einander, mit einander kooperierten und sich koordinierten. Die sowohl lokale Aktionen durchführten, als auch gemeinsame deutschlandweit koordinierte Aktionen.

ACT UP – Gruppen gab es m.W. (laut einer Adressenliste in meinem Kalender 1992) in folgenden Städten:

  • Berlin
  • Bochum (ACT UP im Pott)
  • Bonn
  • Dortmund
  • Frankfurt
  • Hamburg
  • Köln (auch als ACT UP Köln / Bonn)
  • Karlsruhe (laut Wikipedia)
  • Mainz
  • München
  • Nürnberg
  • Stuttgart
  • Würzburg

Im Februar 1992 nennt die Traueranzeige für den am 13.2.1992 verstorbenen Andreas Salmen für ACT UP in Deutschland sieben Gruppen : Berlin – Köln – Hamburg – Frankfurt – München – Dortmund – Nürnberg.

ACT UP in Deutschland : DAH Forum Sonderband - ACT UP Feuer unterm Arsch.(Grafik: DAH)
ACT UP in Deutschland : DAH Forum Sonderband – ACT UP Feuer unterm Arsch.(Grafik: DAH)

ACT UP in Deutschland – lokal und koordiniert

Die lokalen ACT UP Gruppen in Deutschland trafen sich regelmäßig, um Erfahrungen auszutauschen, Themen und Aktionen zu koordinieren oder gemeinsame bundesweite Aktionen zu planen. Oder ganz banal über die Finanzierung unserer Aktionen zu sprechen (und einige der dafür zentralen ACT UP T-Shirts zu planen, bestellen und auf die Gruppen zu verteilen).

Zahlreiche dieser ‚Bundesweiten ACT UP Treffen‘ fanden im Waldschlößchen statt (mindestens 4, für das 5. Treffen finde ich den Termin eines Vorbereitungstreffens, nicht jedoch des Treffens selbst), weitere bei einzelnen Gruppen als Gastgeber.
Aus meinen Kalendern lassen sich folgende Bundesweite ACT UP Treffen ermitteln:

  • ACT UP bundesweites Treffen in Köln, 9. – 11. November 1990
  • 2. Bundesweites ACT UP Treffen im Waldschlößchen, Treffen 15.-17.2.1991
  • ACT UP bundesweites Treffen in Hamburg, 24. – 26. Mai 1991
  • ACT UP bundesweites Treffen in Frankfurt, 30. August -1. September 1991
  • 3. Bundesweites ACT UP Treffen im Waldschlößchen, Treffen 14.-18.10.1991
  • ACT UP bundesweites Treffen in Berlin, 22. – 24. November 1991
  • ACT UP bundesweites Treffen der Arbeitsgruppe ‚Treatment‘ in Hamburg, 6. – 8. Dezember 1991
  • 4. Bundesweites ACT UP Treffen im Waldschlößchen, 14.-16.2.1992
  • ACT UP bundesweites Treffen in Dortmund, 1. – 3. Mai 1992
  • ‚Mourning and Militancy‘ (Teilnahme zahlreicher ACT UP Mitglieder), Waldschlößchen 29. – 31. Januar 1993

Immer wieder wurde auf den Treffen auch deutlich, dass ACT UP vielfältig ist, verschiedene Sichtweisen hat, keine festgefügte Gruppe mit einheitlicher Meinung und Ideologie ist (und auch der Begriff ‚Mitglieder‘ eigentlich nicht zutreffend ist, es gab keine Mitgliedschaft). So konnten wir uns wunderbar und zutiefst streiten. Ich erinnere mich an lange erregte Debatten u.a. mit Andreas Salmen, ob Schwule „sich doch immer noch verantwortungslos verhalten in der Aids-Krise“, und wie wir damit umgehen. Nein, wir hatten oft keine einheitliche Meinung – aber wir fanden oft zu gemeinsamen Aktionen. Auch das machte unsere (zeitweise) Stärke aus.

Die Treffen reichten über Koordination und Austausch weit hinaus. Wir absolvierten auf diesen Treffen z.B. Trainings zur Vorbereitung auf unsere Aktionen, Trainings die wir selbst organi­sierten und meist im ‚Waldschlößchen‘ durchführten. Zu denen wir uns Referentinnen selbst aus den USA einlu­den, wie z.B. ein Training, in dessen Mittelpunkt Gewaltfreiheit stand, sowohl ‚wie verhalte ich mich bei Aktionen gewaltfrei‘, als auch besonders ‚wie gehe ich damit um, wenn mir von außen bei Aktionen Gewalt begegnet?‘ (Paula, Training „non-violent action“, Waldschlößchen, ca. 1991) [Zu ‚gewaltfreier Aktion‘ siehe auch Beitrag über Gene Sharp: Die Macht-Frage].

Und Koordination bedeutete auch: wir erstellten zu nahezu allen größeren Aktionen vorab umfangreiche Dokumentationen. Doku­mentationen, die eine breite Material-Sammlung umfassten, sowie eine Auswertung dieser Quellen, Analyse und daraus Entwicklung und Begründung unserer Forderungen. Diese Dokumentationen erweisen sich als bedeutendes Werkzeug, unsere Aktionen und Forderungen in die Medien zu be­kommen, eine intensivere und tiefergehende Berichterstattung zu erreichen.

Über die (internen) Treffen hinaus waren ACT UP Mitglieder immer wieder auch auf den Bundesweiten Positiventreffen im Waldschlößchen präsent (ich selbst z.B. im April 1992) sowie auf Aids-Kongressen (wie z.B. der Welt-Aids-Konferenz 1992 in Amsterdam).

ACT UP – in Europa

Die Koordination unserer Aktivitäten ging über den deutschen Raum hinaus. ACT UP Gruppe waren auch in anderen europäischen Staaten entstanden, so u.a. in Frankreich (Paris), den Niederlanden (Amsterdam) und Belgien (Brüssel). Und trafen sich (u.a. kann ich mich an Treffen in Paris und Brüssel erinnern), um ihre Aktionen europaweit abzustimmen und soweit sinnvoll und möglich zu koordinieren.

Aus meinen Kalendern lassen sich folgende ACT UP Europa Treffen ermitteln:

  • ACT UP Europa Treffen in Brüssel, 21.4.1991
  • ACT UP Europa Treffen in Brüssel, 20. – 22.9.1991
  • ACT UP Europa Treffen in Paris, 10. – 12.1.1992
  • ACT UP Europa Treffen in Amsterdam, 10. – 12.4.1992

Von den ACT UP Gruppen in Europa existierte ACT UP Paris am längsten – die Gruppe ging 2014 in Insolvenz.

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ACT UP Aktionen in Deutschland

Neben ihren lokalen Aktionen und Themen führten die ACT UP Gruppen in Deutschland auch zahlreiche gemeinsame koordinierte Aktionen durch, unter anderem:

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1993, nach der Welt-Aids-Konferenz in Berlin, war für ACT UP in Deutschland  „die Luft im Wesentlichen raus„, wie Corinna Gekeler (u.a. ACT UP Amsterdam) 2012 bemerkte – doch dazu später mehr …

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DAH-Blog 24.03.2012: Die Kraft der Wut

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ACT UP Erinnerungen:
1. Entstehung von ACT UP
2. ACT UP in Deutschland
3. ACT UP Köln
4. ACT UP Deutschland und die USA
5. ACT UP Proteste im Dom zu Fulda
6. Das Ende von ACT UP in Deutschland
7. nach ACT UP – was bleibt?

Diese kleine Mini-Serie bildet nur meine persönlichen Erinnerungen an meine ACT UP Zeit ab. Ich freue mich sehr über Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen – ob per Kommentar oder persönlicher Nachricht!

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Kategorien
HIV/Aids

Entstehung von ACT UP – Ullis ACT UP Erinnerungen 1

Die Entstehung von ACT UP – die politischen Aids-Aktionsgruppen ACT UP gab es ab 1988 auch in Deutschland. Was führte zu ihrem Entstehen? Warum ACT UP?
Teil 1 von Ullis persönlichen ACT UP Erinnerungen.

„ACT UP – Fight back – Fight Aids!“

Dies war das zentrale Motto von ACT UP, der Aids Coalition to Unleash Power (Aids-Koalition, um Energie freizusetzen) [1]. ACT UP entstand zuerst 1987 in New York, die erste ACT UP Gruppe in (West-) Deutschland wurde 1988 im Sommer 1989 [6] in Berlin gegründet. In welchem Umfeld?

Pogromstimmung

Die Entstehung von ACT UP fand in einer Zeit statt, in der es um die grundlegenden Weichenstellungen der (west-) deutschen Aids-Politik ging, um den Streit zwischen (vereinfacht) Old-School-Public Health mit Repression und Verfolgung einerseits und New Public Health mit Aufklärung und Information andererseits. In einer Situation die geprägt war von Diskussionen über Meldepflicht, einem Bayrischen Maßnahmenkatalog (1987) [3], apokalyptischen Visionen und Horror-Szenarien mit riesigen Infektionszahlen binnen Kürze, Hardliner-Parolen à la ‚Absonderung‘, Drohung der „Zerschlagung der schwulen Infrastruktur“, Hetze und (Angst vor) Pogromstimmung.

an der Entstehung von ACT UP indirekt nicht ganz unbeteiligt: Peter Gauweiler (hier am 5.4.1987, Foto: Michael Lucan / Lizenz: GFDL)1987
an der Entstehung von ACT UP indirekt nicht ganz unbeteiligt: Peter Gauweiler (hier am 5.4.1987, Foto: Michael Lucan / Lizenz cc by-sa 3.0)

Peter Gauweiler, deutscher Politiker (CSU). Hier am 5. April 1987 in München-Fürstenried – Michael Lucan, Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Sterbt doch aus …

Die damalige Stimmung, die Ängste, die Gefühle von Bedrohung sind heute, auch für heutige HIV-Positive, oft nicht (mehr) nachzuvollziehen. Ein Beispiel mag diese Stimmung vielleicht verdeutlichen:

Ende der 1980er Jahre nahm die Zahl der HIV-Infizierten deutlich zu, die Zahl der Menschen stieg, die an den Folgen von Aids starben. Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis waren viele mit HIV infiziert, erkrankten. Die Zahl der Trauerkarten in unserem Briefkasten stieg stetig, ich begann nicht mehr zu jeder Trauerfeier, zu jeder Beisetzung zu gehen – es war mir im wahrsten (emotionalen) Sinn zu viel, nicht mehr auszuhalten.

Medikamente gab es lange Zeit keine gegen HIV. Erst im März 1987 wurde AZT in den USA als erstes Medikament zugelassen, und es war lange Zeit wegen seiner (aufgrund zu hoher Dosierung besonders stark ausgeprägten) Nebenwirkungen gefürchtet [2] – so sehr, dass viele den Eindruck hatten ihre Aids-kranken Freunde und Lover stürben nicht an Aids sondern an AZT.
Angesichts dieses großen Sterbens war die Sehnsucht groß nach wirksamen und halbwegs (v)erträglichen Medikamenten.

In dieser Situation befasste sich auch der Münchner Virologe (und Berater von Peter Gauweiler) Prof. Frösner in einer der damals bedeutendsten deutschen Zeitschriften zu Aids mit der Frage wirksamer Medikamente und deren Auswirkungen. Er kam kühl und kurz zu dem Schluss

Eine lebensverlängernde Therapie der Erkrankten könnten das AIDS-Problem der Bevölkerung vergrößern

(in ‚AIDS-Forschung‘, Juni 1988)

Die Sorge galt nicht der Situation Hunderter, Tausender HIV-Positiver und Aids-Kranker, der Frage, wie ihr Lied, ihr Sterben verringert werden könne. Die Sorge galt (einzig) der Allgemeinbevölkerung, und wir verstanden genau, was er uns sagen wollte.

DAS sollte genau die Lösung sein? Sollten wir HIV-Positiven, wir Aids-Kranken am besten ‚einfach‘ (aus) sterben – um das Problem so zu lösen?

DAS sollten wir hinnehmen? Hinnehmen, dass diese Menschen, solche Denkweisen über unsere Leben bestimmen?

Schweigen = Tod
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Aids ist politisch

Die oben erwähnte Aussage des Münchner Virologen und Gauweiler-Beraters  (die nur ein Beispiel ist für eine Geisteshaltung, wie sie HIV-Positiven und Aids-Kranken oft damals entgegen gebracht wurde) verdeutlicht auch gut, worum es ACT UP zentral ging:

Aids ist nicht (nur) als medizinisches Problem zu begreifen. Aids als politisches Problem. Das war eines unserer zentralen Anliegen.

Dabei ging es immer auch um uns, um unsere Leben als Schwule, als HIV-Positive, als Aids-Kranke. Dies verdichtete sich in unseren Slogans.

Schweigen = Tod
Wut = Aktion

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Aufstand der Positiven

In Deutschland gab es im Aids-Bereich Ende der 1980er Jahre außerhalb von Aidshilfe kaum Personen, geschweige denn Organisationen, die kritische Positionen zu HIV/Aids, zum Leben mit HIV und Aids entwickelten. Schwulengruppen hatten – insbesondere auf Bundesebene – das Thema HIV/Aids schnell an die neu entstandenen Aidshilfen delegiert. Und es machte oft den Eindruck, sie seien nicht nur froh, dieses Thema los zu sein, sondern zudem auch recht desinteressiert daran [4].

Aber auch Aidshilfe(n) widmeten sich nicht jedem Thema, das HIV-Positiven unter den Nägeln brannte. Und taten sie es, konnten sie sich oft, z.B. begründet mit den beliebten realen oder empfundenen ‚Sachzwängen‘ (wie Förderung durch öffentliche Stellen) nicht in der Klarheit und Deutlichkeit äußern, wie es wünschenswert ge­wesen wäre.

HIV-Positive fühlten sich in vielen Aidshilfen damals nicht oder nur wenig willkommen – beziehunsgweise wenn, dann als ‚Klienten‘. Die Forderung vieler Positiver, „nicht über uns, mit uns“, sie wurde auch in vielen Aidshilfen nicht erfüllt. Von den Lebensrealitäten HIV-Positiver, von Möglichkeiten der Eigen-Interessenvertretung hatten sich viele Aidshilfen entfernt (wenn sie diese je zuvor gehabt hatten).

Nicht umsonst kam es 1988 im Dachverband der Aidshilfen, der Deutschen Aids-Hilfe, zum „Aufstand der Positiven“ – HIV-Positive wehren sich und protestieren gegen die „Klientelisierung der Positiven“, fordern aktive Einbeziehung und Mitsprache.

Schweigen = Tod
Wut = Aktion
Aktion = Leben

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Entstehung von ACT UP

Das Gefühl zunehmend bedrängt, in die Ecke gestellt zu werden, Desinteresse und Ignoranz auch bei Aidshilfen und in Schwulenszenen, und vor allem Pogromstimmung und Hetze gegen Schwule, HIV-Positive und Aids-Kranke – dies war das Umfeld der Entstehung von ACT UP auch in Deutschland.

„Wir befinden uns im Krieg.
Im Krieg um unsere Menschenwürde,
ja um unser einfaches Recht zu leben.
Wann wehren wir uns endlich?“

(Andreas Salmen, Kommentar „Wir sind im Krieg!“ [5], Siegessäule Januar 1988)

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Spiegel 17.03.2007: 20 Jahre Act Up – Wut der Ohnmacht

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[1] Die Verwendung des Begriffs „Power“ im Namen ACT UP wurde (insbesondere in Deutschland, bemerkenwerterweise) von interessierter Seite immer wieder (in vermutlich demagogischer Absicht) dazu zum Anlass genommen, den ACT UP – Gruppen Gewalttätigkeit vorzuwerfen, den Gruppennamen gar als „Koalition um Gewalt zu erzeugen“ zu übersetzen, diese Form des Aktivismus zu diskreditieren versuchen. ACT UP war von seinen Grundgedanken her immer eine Bewegung von Aktionsgruppen, die auf Gewaltfreiheit setzten und sich auch in umfangreichen Trainings zu „non-violent action“ ausbilden ließ.
Zu ‚gewaltfreier Aktion‘ siehe auch Beitrag über Gene Sharp: Die Macht-Frage
[2] Zu AZT siehe auch Axel Schock / DAH-Blog 20.03.2012: 25 Jahre AZT: Geldschränke, große Hoffnungen, gravierende Nebenwirkungen
[3] zum Bayrischen Maßnahmen-Katalog siehe auch DAH-Blog 24.02.2012: „Die schwule Infrastruktur zerschlagen“
[4] Wut und Frust über diese empfundene Mischung aus Desinteresse und Ignoranz hat – aus Sicht der Situation in den USA – der Autor und Mit-Gründer von ACT UP New York Larry Kramer sehr eindrucksvoll bereist 1983 in seiner Wutrede „1,112 and counting“ zum Ausdruck gebracht.
[5] Andreas‘ Formulierung, wir seien im Krieg, war damals und auch in den Jahren danach auch unter ACT UP Aktivisten nicht unumstritten, u.a. weil dies als Militarisierung der Sprache empfunden wurde, sowie als eher aus US- denn aus deutschen Lebensrealitäten gespeiste Metapher.
[6]  andere Quellen sprechen von 1989 als Gründungsjahr von ACT UP Berlin, u.a. M. Wienold (Aids-Aktivismus in Deutschland, in: U. Marcus (Hg.): Glück gehabt? Zwei Jahrzehnte Aids in Deutschladn, Berlin Wien 2000)

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ACT UP Erinnerungen:
1. Entstehung von ACT UP
2. ACT UP in Deutschland
3. ACT UP Köln
4. ACT UP Deutschland und die USA
5. ACT UP Proteste im Dom zu Fulda
6. Das Ende von ACT UP in Deutschland
7. nach ACT UP – was bleibt?

Diese kleine Mini-Serie bildet nur meine persönlichen Erinnerungen an meine ACT UP Zeit ab. Ich freue mich sehr über Anmerkungen, Korrekturen, Ergänzungen – ob per Kommentar oder persönlicher Nachricht!

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HIV/Aids

Aids-Überlebende fragen: Ist das mein wunderbares Leben? [Video]

„Ist das mein wunderbares Leben? Perspektiven der Überlebenden der Aids-Generation“ war der Titel einer Panel-Diskussion in New York, die Situation, Lebensgefühl und Perspektiven von Schwulen über 40 thematisierte, die die Aids-Krise ‘überlebt’ haben (‚ Aids-Überlebende ‚). Nun ist ein erstes zusammenfassendes Video über die Diskussion online verfügbar.

Das gut zehnminütige Video gibt einen guten Einblick in ein über 3 Stunden dauerndes Forum, das am 9. Mai 2013 im Baruch College in New York City stattfand. Teilnehmer der Podiums-Diskussion waren Jesus Aguais, Dr. L. Jeannine Bookhardt-Murray, Dr. Mark Brennan-Ing, Jim Eigo, Joe Jervis und Peter Staley (Kurz-Biographien hier). Moderiert wurde die Diskussion von Dr. Perry N. Halkitis.

Schock, Alptraum, Unverständnis, Ignoranz – mit vielfältigen Gefühlen beschrieben Panel-Diskutanten und Zuhörer ihre Wahrnehmungen und Gefühle, ihre Lebenssituationen als ‚ Aids-Überlebende ‚. Oft mit im Spiel: Erschütterung und Hilflosigkeit angesichts von Desinteresse und Unverständnis ihres Umfeldes.

Michelangelo Signorile, bekannter US-Radiomoderator und Aids-Aktivist, hat diese Gefühle jüngst so beschrieben:

Für Schwule über 40 ist es als seien wir aus einem Krieg zurückgekehrt, einem Krieg der den meisten weit weit weg und entfernt war, selbst als er stattfand.“

Peter Staley, langjähriger ACT UP Aktivist und Mitgründer der Treatment Action Group TAG, fragt,

was sagt das alles über uns selbst? Wie geht es uns heute? Wie gehen wir selbst mit einander um? Gibt es überhaupt eine Community, die sich um uns Gedanken macht?

Jesús Aguais berichtete zur Situation bei Migranten über bemerkenswerterweise nahezu identische Ergebnisse aus Befragungen in New York und in Lateinamerika:

Das höchste Ausmaß an Isolation: Meine letzte Frage lautete, was wissen Sie über Menschen wie Sie selbst, vor 1996 HIV-positiv getestet? Und 100 Prozent der Befragten sagten: absolut nichts. Darüber sprechen wir nicht.

Gegen Ende des Videos fragt Peter Staley nüchtern:

Viele von uns sehen, wie unsere landesweiten Schwulengruppen, ebenso wie unsere großen Stiftungen, all dieses viele ’schwule Geld‘ [gay money], wie sie sich alle ausschließlich auf den Wohlfühl-Kampf für die Homo-Ehe konzentrieren. So wertvoll dieser Kampf auch ist, stellen wir uns nicht selbst eine Falle mit dieser Konzentration auf nur ein einziges Thema? Schweigen mag nicht weiterhin in einem Ausmaß wie früher Tod bedeuten [Staley spielt an auf den ACT UP Slogan SILENCE = DEATH, SCHWEIGEN = TOD], aber es ist weiterhin Triebfeder eines alarmierenden Anstiegs von HIV-Infektionen bei jungen Schwulen, besonders bei den offensichtlich besonders leicht zu ignorierenden jungen schwulen Farbigen.

Durch das ganze Video ziehen sich als (sehr unter die Haut gehender) ‚roter Faden‘ Tagebuch-Auszüge, die Joe Jervis (dem Autor des nicht nur in den USA beliebten Blogs Joe.My.God) als Selbst-Therapie schrieb, über einen Bekannten der an Aids erkrankte.

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In Kürze soll auf YouTube ein umfangreicheres Video über die Veranstaltung online verfügbar sein.

Die Medius Working Group wurde gegründet in Erinnerung an Spencer Cox (1968 – 2012), der als Aids- / ACT UP – und Therapie-Aktivist sowie  Mitbegründer der Treatment Action Group TAG einer der Vorkämpfer dr Vertretung der Interessen HIV-Positiver insbesondere in klinischen Studien und Aids-Forschung war.

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Medius Working Group: „Is this my beautiful life“ Trailer (11:35 min.)

siehe auch
2mecs 10.05.2013: Als kämen wir aus einem Krieg zurück, der viele kaum interessierte

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Must-see!

Warum bekommen wir so etwas , solch ein Podium, solch ein öffentliches Reflektieren nicht hin?
Wo ist unsere Nachdenklichkeit?
Wo ist unsere Wut?
Unsere gemeinsame Stimme?

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HIV/Aids

2013 – Larry Kramer bekommt Tony Award

Der Autor und Aids-Aktivist Larry Kramer erhielt den Tony Award (Sonder) am 8. Juni 2013 für sein aktivistisches Engagement. Der Isabelle Stevenson Award gehört seit 1947 zu den Tony Awards. Der Tony ist der bedeutendste amerikanische Theater-Preis.

Autoren, die auch Aktivisten sind, werden nur sehr selten als Künstler ernst genommen„,

Tony Award kommentierte Larry Kramer die Ehrung. Er freue sich über den Preis als Anerkennung dafür, dass ein seriöser Künstler auch ein seriöser Aktivist sein könne.

Larry Kramer im Frühjahr 2007 auf dem Balkon seiner Wohnung in New York (Foto: David Shankbone)
Larry Kramer im Frühjahr 2007 auf dem Balkon seiner Wohnung in New York (Foto: David Shankbone)

Larry Kramer spring 2 by David ShankboneDavid ShankboneCC BY-SA 3.0

Larry Kramer (geb. 25. Juni 1935 in Bridgeport, Conneticut, gest. 27. Mai 2020 in New York) erhielt bereits im Jahr 2011 einen Tony Award im regulären Wettbewerb, für die beste Wiederaufnahme eines Stückes, sein 1985 erstmasl erschienenes Bühnenstück „The Normal Heart“ am Broadway.

Kramer ist seit 30 Jahren eine der lautesten und engagiertesten Stimmen in den USA im Kampf gegen Aids. Er ist Mitgründer von Gay Men’s Health Crisis GMHC (1982) sowie von ACT UP New York (1987). Vor 30 Jahren erschien mit 1,112 and counting einer seiner wichtigsten frühen Aids-Texte, um die Schwulen New Yorks wachzurütteln, ein Text der sich heute wie ein frühes ACT UP – Manifest liest.

Der Isabelle Stevenson Award ist ein außerhalb des Wettbewerbs verliehener Tony Award. Er wird verliehen an Personen aus der Theater-Welt, die einen substantiellen Beitrag im Namen von humanitären, sozialen oder wohltätigen Organisationen geleistet haben. Er ist benannt nach Isabelle Stevenson, verstorbener Präsidentin der American Theatre Wing, die den Tony Award verleiht. Er wurde 2009 erstmals verliehen.

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Kategorien
HIV/Aids

ACT UP Deutscher Aids-Kongress Wiesbaden 1992

ACT UP musste sich beim 3. Deutscher Aids-Kongress Hamburg 1990 noch im Rahmen einer ACT UP Aktion überhaupt Zutritt verschaffen. (siehe auch Fotos hier). Beim 4. Deutschen Aids-Kongress Wiesbaden 1992 (25. bis 28. März 1992) erhielten Positive immerhin schon in begrenztem Umfang die Möglichkeit teilzunehmen – mehr aber auch nicht. „Nicht über uns – mit uns“ war also weiterhin unsere Devise, „Schweigen = Tod“. Positiven-Beteiligung an Aids-Kongressen war damals noch ein sehr neues Thema, besonders für Mediziner und Politik.

Eines der Themen: Ignoranz und Desinteresse der Politik. Aus aktuellem Anlass – die damalige Bundesgesundheitsministerin Gerda Hasselfeldt (CDU) zeigte sich nicht eben engagiert beim Thema Aids, und blieb auch dem Kongress fern. Der Spiegel bemerkte damals lakonisch

„Als vor zwei Wochen in Wiesbaden der Vierte Deutsche Aids-Kongreß stattfand, ließ die Ministerin sich gar nicht erst blicken.“

Die Situation hatte sich für Menschen mit HIV gegenüber 1990 nicht wesentlich verändert. Noch immer gab es kaum Medikamente (mit ddI war kurz zuvor nach AZT und ddC erst das dritte Medikament in den USA zugelassen worden). Studien dauerten, der bisherige Fortschritt erschien zäh und zu langsam, die bisherigen Medikamente hatten enorme Nebenwirkungen und wirken nicht lange.

Wir wollten nicht weiter “zusehen”, wollten “rein” – nicht nur rein in den Kongress, sondern auch rein in Planung und Vorbereitung, in HIV-Studien und Aids-Forschung. ACT UP protestierte erneut, dieses mal während einer Plenar-Veranstaltung vor allen Teilnehmern während der Eröffnung des Kongresses:

ACT UP Aktion beim 3. Deutschen Aids-Kongress Wiesbaden 1992
3. Deutscher Aids-Kongress Wiesbaden 1992, ACT UP Aktion

Auf dem Bild zu sehen am Mikrophon: der 1996 im Alter von 31 Jahren an den Folgen von Aids verstorbene ACT UP Aktivist Ingo Schmitz aus Köln.

(Und der in der roten Hose und mit ACT UP T-Shirt bin ich …)

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Homosexualitäten

Michelangelo Signorile : Aktivismus hat uns voran gebracht, nicht schwuler Mainstream

Aktivismus hat uns voran gebracht, nicht der schwule Mainstream …“, sagt Michelangelo Signorile anlässlich der heute beginnenden Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof über die Homo-Ehe.

In den USA entscheidet im Juni 2013 der Supreme Court (Oberste Gerichtshof, SCOTUS) darüber, ob gleichgeschlechtliche Ehen (Homoehen) mit der US-Verfassung vereinbar sind. In einem Artikel der HuffPost Gay Voices geht der US-Schriftsteller Michelangelo Signorile u.a. der Frage nach, wie Schwule und Lesben es geschafft haben, diese Frage bis zum Obersten Gerichtshof zu bringen:

Ob es nun ACT UP war mit seinem Organisieren von zivilem Ungehorsam Ende der 1980er Jahre, als die US-Regierung die Aids-Krise völlig ignorierte, oder Mitglieder von Get Equal, die sich an den Zaun des Weißen Hauses ketteten, um den Präsidenten dazu zu bewegen, sich zu ‚don’t ask don’t tell‚ zu äußern – es brauchte mutige Menschen, die ihren guten Ruf, ihre Privatsphäre, ihre Zukunft, ihren Beruf, ihre Familien und manchmal sogar ganz wortwörtlich ihre Körper einsetzten, um die Dinge voran zu bringen. Sie widerstanden den Angriffen nicht nur der anti-schwulen Zeloten [Eiferer], der Polizei und der Medien, sondern auch denen des schwulen Establishments, das ihnen nahelegte doch brave Jungs und Mädchen zu sein.“

Michelangelo Signorile in New York währned der (von ihm mit organisierten) Proteste gegen 'Proposition 8' vor dem Lincoln Center Mormonen-Versammlungsraum (Foto: David Shankbone)
Michelangelo Signorile in New York während der (von ihm mit organisierten) Proteste gegen ‚Proposition 8‘ vor dem Lincoln Center Mormonen-Versammlungsraum (Foto: David Shankbone; Lizenz cc by-sa 3.0)

Michelangelo Signorile at the New York City protest outside the Lincoln Center Mormon temple he helped organize in protest of California Proposition 8.David ShankboneCC BY-SA 3.0

Der 1960 geborene Michelangelo Signorile ist Schriftsteller und Rundfunksprecher der wöchentlich in den ganzen USA und Kanada ausgestrahlten Sendung The Michelangelo Signorile Show. Signoriles Aktivismus wurzelt in Erfahrungen der Aids-Krise Ende der 1980er Jahre. Signorile engagiert sich seit 1988 in der Schwulenbewegung sowie bei ACT UP (wo er u.a. Vorsitzender des Media Committee war). Er war u.a. Mit-Gründer des Magazins OutWeek, schrieb für The Advocate und war Mit-Gründer der Aktivistengruppe Queer Nation. Signorile war früher Chefredakteuer der HuffPost Gay Voices.

In seinem zweiteiligen Artikel „Out at The New York Times“ thematisierte Signorile 1994 die jahrzehntelange Homophobie der New York Times, zahlreiche schwule und lesbische Mitarbeiter/innen der Zeitung, aber auch Chefredakteure und Herausgeber kamen zu Wort. Signorile hat zahlreiche Bücher über Schwule und Lesben geschrieben, u.a. Queer In America: Sex, Media, and the Closets of Power, in dem er sich mit den Folgen des versteckten Lebens als Homosexueller auseinander setzt und Outing in bestimmten Konstellationen befürwortet. Signorile outete während seiner Tätigkeit bei OutWeek  u.a. den Hollywood-Produzenten David Geffen als schwul, der damals u.a. bei seinem Platten-Laben Musik der Gruppe Guns N’Roses herausbrachte, die für schwulenfeindliche Texte kritisiert wurde.

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Michelangelo Singnorile: How We Got to the Supreme Court. in: HuffPost Gay Voices Blog 25.03.2013

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