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Erinnerungen HIV/Aids

Community Beteiligung an Aids-Kongressen – 1990 noch Skandal, heute Normalität

Zuletzt aktualisiert am 30. November 2019 von Ulrich Würdemann

Community Beteiligung – HIV-Positive nehmen am Aids-Kongress teil, diese Nachricht wäre heute kaum noch eine. Die Teilnahme HIV-Positiver an Aids-Kongressen, und zwar nicht ’nur‘ als Teilnehmer, sondern auch in der Planung und Vorbereitung, ist inzwischen selbstverständlich. Doch was heute Normalität ist, war vor wenig mehr als 25 Jahren noch Skandal.

Community Beteiligung an Aids-Kongressen – 1990 noch Skandal, heute Normalität

Die Community Beteiligung an Aids-Kongressen in Deutschland hat eine längere und wechselvolle Geschichte. Sie beginnt 1990:

3. Deutscher Aids-Kongress Hamburg 1990

Am 24. November 1990 begann in Hamburg der 3. Deutsche Aids-Kongress. Es waren die Früh-Jahre von Aids, von Konferenzen zu HIV und Aids. HIV-Positive und Aids-Kranke auch nur als Teilnehmer zuzulassen, dies schien den meisten Ärzten ein absurder Gedanke.

„Dies ist ein Kongress für Experten“ und „dies ist ein wissenschaftlicher Kongress“, das waren stereotyp immer wieder Antworten, die wir zu hören bekamen auf unser Begehren, auch nur als Teilnehmer zugelassen zu werden.

Doch dieses mal nahmen wir diese Ausgrenzung nicht mehr hin. Wir verschafften uns im Rahmen einer ACT UP – Aktion Zugang: wir waren drin, erstmals nahmen HIV-Positive und Aids-Kranke an einem Aids-Kongress in Deutschland teil.

Ein Bericht darüber in den getrennten Artikeln: 2mecs 17.01.2013: 1990: ‚Nicht über uns, mit uns‘ – HIV-Positive und Aids-Kranke verschaffen sich Zutritt zum 3. Deutscher Aids-Kongress Hamburg 1990 und 2mecs 21.01.2013: „Fotos: ACT UP Aktion beim Deutscher Aids-Kongress Hamburg 1990“.

In den Folgejahren erhielten HIV-Positive die Möglichkeit, an Deutschen Aids-Kongressen teilzunehmen. Doch was wurde dort vorgestellt, beraten, präsentiert – und wie wirkten wir daran mit?

4. Deutscher Aids-Kongress Wiesbaden 1992

Vom 25. bis 28. März 1992 fand in Wiesbaden der 4. Deutsche Aids-Kongress statt. Noch immer gab es kaum Medikamente (mit ddI war kurz zuvor nach AZT und ddC erst das dritte Medikament in den USA zugelasen worden). Studien dauerten, der bisherige Fortschritt erschien zäh und zu langsam, die bisherigen Medikamente hatten enorme Nebenwirkungen und wirken nicht lange.

Wir wollten nicht weiter „zusehen“, wollten „rein“ – nicht nur rein in den Kongress, sondern auch rein in Plaung und Vorbereitung, in HIV-Studien und Aids-Forschung. Forderten ‚echte‘ Community Beteiligung. ACT UP protestierte erneut, dieses mal während einer Plenar-Veranstaltung vor allen Teilnehmern während der Eröffnung des Kongresses: ACT UP Deutscher Aids-Kongress Wiesbaden 1992.

Am 1.12.1994 verabschiedeten die Staats- und Regierungs-Chefs von 42 Staaten eine Erklärung zu HIV / Aids, die ‚Paris Declaration‘. Sie gilt als das zentrale Grundlagen-Dokument der Community Beteiligung, zur Beteiligung von HIV-Positiven an sie betreffenden Entscheidungen (GIPA – greater involvement of people with HIV / Aids).

1998 wurde die Community Beteiligung in Aids-Kongressen international erstmals konsequent umgesetzt, bei der Welt-Aids-Konferenz in Genf. Der Ort prägte auch den Namen – fortan sprach man vom ‚Genfer Prinzip‚.

7. Deutscher Aids-Kongress Essen 1999

Bei deutschsprachigen Aids-Kongressen wurde das Genfer Prinzip erstmals 1999 umgesetzt, beim 7. Deutschen Aids-Kongress, der vom 2. bis 6. Juni 1999 in Essen stattfand (Präsident Prof. Norbert Brockmeyer).

Zum ersten mal waren HIV-Positive und Community-Vertreter nicht nur als Teilnehmer/innen im Kongress, sondern von Beginn an bei Planung und Organisation beteiligt, und zwar auf allen Ebenen des Kongresses – vom eigenen Community Board bis zu Community-Vertretern im Steering Committee des Kongresses (bei beidem war ich auch selbst aktiv, sowohl im Community Board wie auch als Community-Vertreter im Steering Committee). Das ‚Essener Prinzip‘ war geboren.

Dieses ‚Essener Prinzip‘ wurde unverändert auch beim folgenden Kongress umgesetzt, dem 8. Deutschen Aids-Kongress 2001 in Berlin. Wieder gab es ein Community Board, und Community Vertreter im Kongress-Präsidium.

SÖDAK St. Gallen 2009

Der Schweizerisch-Österreichisch-Deutsche Aids-Kongress in St. Gallen 2009 wurde zu einem Rückschlag für die Community Beteiligung – oder er machte bereits zuvor schleichend eingetretene Veränderungen deutlich sichtbar.

Im Vergleich zu medizinischen und Grundlagen-Fragen wurden ganze Bereiche vernachlässigt. Bereiche, die für Menschen mit HIV und von HIV bedrohte Communities von besonderer Bedeutung sind, wie zum Beispiel sozialwissenschaftliche Fragen, aber auch Zahnheilkunde oder Psychiatrie. Im Auswahl-Prozess des Kongresses schien die Relevanz der Themen für das Leben von Menschen mit HIV nahezu keine Rolle gespielt zu haben. Hinzu kam, dass von Anfang an keine breite Teilnahme von Positiven erwünscht schien, sondern eher eine gezielte Einladung ausgewählter Berichterstatter. Aus diesen Gründen zog das Community-Board dieses Kongresses geschlossen seine Mitarbeit zurück. Sowohl die AIDS-Hilfe NRW  als auch die Deutsche AIDS-Hilfe schlossen sich diesem Rückzug aus dem SÖDAK an.

Doch der Kongress in St. Gallen war nicht nur Rückschlag, er war auch Anlass für einen neuen Auftakt in Sachen Community-Beteiligung im Rahmen deutschsprachiger Aids-Kongresse:

Gemeinsame Erklärung 2010

Nach intensiven und in der Schlussphase öffentlichen Diskussionen unterzeichneten Deutsche Aids-Gesellschaft DAIG sowie Deutsche Aids-Hilfe (DAH), LHIVE (für die Schweiz) und Positiver Dialog (für Österreich) am 22. Juli 2010 die „Gemeinsame Erklärung der Deutschen AIDS-Hilfe und der Deutschen AIDS-Gesellschaft zur Beteiligung der deutschsprachigen Communities am Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress„. Erstmals ist Community Beteiligung schriftlich fixiert.

Diese ‚Gemeinsame Erklärung‘ legt „Eckpunkte zur aktiven Beteiligung der deutschsprachigen Communities am Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress“ fest. Sie ist seitdem Basis der Zusammenarbeit, auch im Rahmen des 6. Deutsch-Österreichischen Aids-Kongresses DÖAK  2013 in Insbruck – und seines Nachfolgers 2015 in Düsseldorf.

Community Beteiligung: Logo des Community Boards des Deutsch-Österreichischen Aids-Kongresses (Logo: Community Board, www.http://www.cbdoeak.net)
Logo des Community Boards des Deutsch-Österreichischen Aids-Kongresses (Logo: Community Board, www.http://www.cbdoeak.net)

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Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

12 Antworten auf „Community Beteiligung an Aids-Kongressen – 1990 noch Skandal, heute Normalität“

[…] Als Anfang der 1990er Jahre sich die Veranstalter von Aids-Konferenzen (nicht nur in Deutschland) weigerten, Menschen mit HIV und Aids, und auch Vertreter von Aidshilfen an Aids-Kongressen teilnehmen zu lassen, war es vermutlich der schnellere und damit auch effizientere Weg, den ACT UP gegangen ist: nicht (nach einigen vorangegangenen, kläglich gescheiterten Versuchen) weiter auf Dialog, Bitten und Gespräche mit Kongresspräsidium und Veranstalter setzen, sondern stattdessen durch konkrete Aktionen unser Aussperren, unsere Ausgrenzung erfahrbar, erlebbar (auch medial) machen – und sie mit dieser Aktion zugleich zu durchbrechen. Einige Aktionen, einige Aids-Kongresse, und nach einigen Jahren nahmen HIV-Positive und Aids-Kranke, Aidshilfen und andere Organisationen an Kongressen teil, erhielten nach und nach auch Rederecht (zuerst in Form einer Podiums-Besetzung) und später Mitbestimmungs-Möglichkeiten. In den folgenden Jahren etablierte sich die Zusammenarbeit, wurde Positiven-Beteiligung im Genfer Prinzip festgeschrieben und … schriftlich vereinbart, und ist heute Normalität. […]

[…] Als Anfang der 1990er Jahre sich die Veranstalter von Aids-Konferenzen (nicht nur in Deutschland) weigerten, Menschen mit HIV und Aids, und auch Vertreter von Aidshilfen an Aids-Kongressen teilnehmen zu lassen, war es vermutlich der schnellere und damit auch effizientere Weg, den ACT UP gegangen ist: nicht (nach einigen vorangegangenen, kläglich gescheiterten Versuchen) weiter auf Dialog, Bitten und Gespräche mit Kongresspräsidium und Veranstalter setzen, sondern stattdessen durch konkrete Aktionen unser Aussperren, unsere Ausgrenzung erfahrbar, erlebbar (auch medial) machen – und sie mit dieser Aktion zugleich zu durchbrechen. Einige Aktionen, einige Aids-Kongresse, und nach einigen Jahren nahmen HIV-Positive und Aids-Kranke, Aidshilfen und andere Organisationen an Kongressen teil, erhielten nach und nach auch Rederecht (zuerst in Form einer Podiums-Besetzung) und später Mitbestimmungs-Möglichkeiten. In den folgenden Jahren etablierte sich die Zusammenarbeit, wurde Positiven-Beteiligung im Genfer Prinzip festgeschrieben und … schriftlich vereinbart, und ist heute Normalität. […]

[…] engagiert.  Und ACT UP hat in Deutschland dazu beigetragen, Realitäten zu verändern. Dass die Teilnahme HIV-Positiver an Aids-Konferenzen wie dem Deutsch-Österreichischen Aids-Kongress heute se… und durch eine Vereinbarung abgesichert ist – diese Selbstverständlichkeit zum Beispiel […]

[…] track“ mitgestaltet. Auch die Community-Beteiligung in der klinischen Aidsforschung und die Community-Beteiligung bei Aids-Kongressen ist aus diesen Erfahrungen entstanden. Heute, in Zeiten breit verfügbarer gut verträglicher und […]

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