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CSD München 2013 – 2mecs Impressionen

CSD München 2013 – vom 12. bis 15. Juli 2013 waren wir zu Besuch in München und haben uns u.a. den CSD und die Parade angeschaut, hier unsere

2mecs Impressionen vom CSD München 2013

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It’s always a pleasure to find something that matters.
Don Cornelius, DJ und ex-Nachrichtensprecher, Chicago

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Christian Ude voran. Er eröffnet den CSD München 2013 und marschiert vorweg. Der (wegen der Landtagswahl pausierende) Bürgermeister von München ist Schirmherr des Münchner CSD seit zwanzig Jahren. Für diese langjährige Unterstützung wird er kurz darauf auf der Bühne auf dem Marienplatz zum „ersten lebenslangen CSD-VIP“ gekürt.

Christian Ude, wie seit 20 Jahren auch Schirmherr des CSD München 2013
Christian Ude, wie seit 20 Jahren auch Schirmherr des CSD München 2013

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Die Münchner CSD-Parade kann man schön mit der Straßenbahn entlang fahren und überholen – stellen wir fest, als wir nach einem Vormittag in Schloß und Park Nymphenburg in die Stadt fahren, Richtung Gärtnerplatz. Am Stachus begegnen wir, in der Tram sitzend, dem Ende der Parade, begleiten, überholen sie in gemächlichem Tempo – und haben bald ihre Spitze erreicht. Hhmmm – das war jetzt aber kurz, gemessen an den Paraden, die wir aus Köln oder Berlin vom CSD kennen. Wir bleiben in der Tram, fahren weiter gen Müllerstrassse.

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Auf der Müllerstrasse, inzwischen spazieren wir zu Fuß weiter, den Weg der CSD-Parade entlang. Regenbogenfahnen, die Tische vor Bars und Cafés sind alle besetzt, erwartungsvolle Menschen fiebern offensichtlich der nahenden Parade entgegen.
Einige junge Männer, muskuliert, enge T-Shirts, unterhalten sich ziemlich aufgedreht, wild gestikulierend, in offensichtlich von Alkohol gelockerter Stimmung. Zahlreiche Champagner-Flaschen stehen neben ihnen auf dem Boden, die meisten bereits geleert.

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Am Gärtnerplatz. Mit ein wenig Glück haben wir noch einen Platz vor einem netten Café gefunden. Gegenüber, an einem der Straßenbäume, bietet ein A4 großer kopierter Zettel eine Wohnung feil. 90m², teilmöbliert, Seitenstraße vom Gärtnerplatz. Für maximal sechs Monate, 2.000 Euro – pro Monat.

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Vor vierzig Jahren begann die Vorgeschichte dessen, was heute CSD ist, in München. Die Süddeutsche Zeitung widmet am Samstag (13.7.) die ganze Seite 2 ihres München-Blatts dem CSD. Erinnert an den Juli 1973, als in München erstmals Schwule an die Öffentlichkeit gingen.
Selbstkritisch bemerkt der Journalist, das Blatt habe zwar in dieser Zeit über den ersten Münchner Flohmarkt berichtet, die vier Tage dauernden ersten Schwulen Info-Tage in München jedoch seien nicht mit einer Silbe erwähnt worden.

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Nun schauen wir also die Parade des 34. Münchner Christopher Street Day. Moment – 34? War eben nicht von „vor vierzig Jahren“ die Rede? Genau. Erste Schwulendemo 1973, erster CSD 1980 – damals mit ganzen 50 Teilnehmern. Einige mehr sind es 2013 schon, die SZ berichtet am Montag (15.7.) von 80.000 Schaulustigen, die die Parade am Straßenrand verfolgt hätten.

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Lockere, entspannte, freudige Stimmung am Gärtnerplatz. Eine Mischung aus Picknick, Sekt- (bzw., wir sind ja , s.o., in München, Champagner-) Frühstück und Familienfest.

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Kurz nach zwei. Die Parade aus 57 Wagen (darunter erfreulich wenig Groß-Paradewagen), 7.000 Teilnehmer/innen im Zug, erreicht den Gärtnerplatz.

Eine Parade mit – neben den in jeder Parade unzählbar vielen unvermeidlichen Transen und Transen-Parodien (leider kaum Trash-Transen) – viel Lokal-Kolorit wie Trachtengruppe oder Bavaria in Regenbogen-Tuch, und der Erkenntnis, dass der Deutsche Alpenverein eine Schwule Sektion hat. Diverse schwule Fußball-Fangruppen.

CSD München 2013 : Queerpass
CSD München 2013 : Queerpass

Aber auch viel Politisches, viele Plakate und Transparente mit nachdenklichen Slogans, sei es zur Situation in Deutschland (darunter bemerkenswert viele Danksagungen an das Bundesverfassungsgericht) oder auch zur Situation von Lesben und Schwulen in Staaten wie Russland oder der Ukraine. Unvermeidbar (es sind bald Bundestags- wie auch Landtagswahlen) wohl auch Wagen von Parteien und die Teilnahme von Politiker/innen, von Christian Ude (dem Schirmherrn, s.o.) über Claudia Roth und Volker Beck bis zu – ja, selbst CSU-Politiker haben es dieses Jahr auf den CSD geschafft.

Eine gute Stunde, scheint mir, länger hat’s nicht gedauert – dann war der Zug vorbei.

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Die Publikums-Reaktionen sahen vor vierzig Jahren anders aus. Bei der ersten Schwulen-Demo in München (im Nymphenburger Park …) am 19. Juli 1973 hätten, vermerkt die SZ, Zeitzeugen zufolge „einige Passanten hörbar dafür plädiert, die Teilnehmer zu vergasen.

Ist München toleranter geworden? Wie viel Schein, wie viel Realität? Wie viel dauerhaft, wie viel zeitgeistige Attitüde?

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Eins stört mich ja doch ganz schön.“ Ich bin mit den Mädels am Nachbartisch ins Gespräch gekommen, eine Gruppe Lesben um die 30, aus Zürich, München und dem Umland. „Siehst die beiden Typen dahinten? Dass die Schwulen immer so offen ihre Sexualität zeigen müssen. Ich mein, so … sie zögert … man sieht ja alles.“ ‚Die Typen‘ sind zwei Männer in Lederchaps und Jockstrap, die Arm in Arm, einige Meter entfernt stehen. „Ich mein, es könnten ja auch Kinder da sein. Muss denn das sein?
Ja, es muss sein, einmal im Jahr feiern wir uns, unser Schwulsein, auch unsere Sexualität, denke ich, halt aber den Mund.

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Vom Gärtnerplatz in die Innenstadt, zum Straßenfest auf dem Marienplatz. Die ‚gute Stube‘ der Stadt, vor der beeindruckenden Kulisse von altem und ’neuem‘ Rathaus Regenbogenfahnen, viele Menschen, Musik. Der Platz ist voll, eingerahmt von Konsum-Buden von Bratwurst über Bier bis Cocktails, darüber weht die Beschallung des Bühnenprogramms – das aber einen Großteil der Besucher selbst bei der Trauer-Minute für an Aids Verstorbene nicht wesentlich zu interessieren scheint.

Wir machen uns auf die Suche nach den Inhalten. Wollen Bekannte treffen, uns über Gruppen informieren, den ein oder anderen Kontakt vertiefen oder auffrischen. Und suchen. Suchen. Gehen umher, suchen weiter. Auf dem Marienplatz: viele Menschen, viele Konsum-Stände, keine Inhalte (wenn man vom Bühnenprogramm absieht). Wir wenden uns nach links, gen Rindermarkt. Ebenfalls viele viele Menschen, überwiegend jung, wenig bekleidet, aufgeregt und ein Cocktailglas in der Hand (und oft unübersehbar schon mehrere intus). Der Platz eingerahmt von Ständen, die – Getränke verkaufen. Wieder nichts mit Gruppen, Initiativen, Inhalten.

Sollte dies ein CSD-Straßenfest ohne Stände von Gruppen und Initiativen sein? Wir umrunden den Marienplatz, entdecken schließlich am rückwärtigen Ende eine Art ‚Straße der Initiativen‘. Zahlreiche Stände auf beiden Seiten, und – wenige Menschen an selbigen. Ganz im Kontrast zur übergroßen Fülle an feiernden Besuchern auf den Party-Plätzen herrscht hier zwar nicht gähnende Leere, aber doch äußerst wenig Betrieb mit viel Beinfreiheit, gemischt mit einer Spur Langeweile und Tristesse.

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Später am Abend. „Und, ihr wart heute beim CSD?“, fragt mein Internet-Date, das ich die vergangenen Tage über die Blauen Seiten aufgetan habe. Gerade will ich erzählen, wie nett’s am Gärtnerplatz war, er erwartet jedoch gar keine Antwort, fährt fort „Wir gehen zu sowas ja nicht hin. Wir sind fast nie in der Szene.“ Auf meinen anscheinend etwas irritierten Blick hin (schließlich, was ist „sowas“? Waben wir eben gemacht? Und sind die blauen Seiten nicht auch Szene?), ergänzt er „mein Mann und ich, wir haben halt gern Sex mit Männer. Aber das ist auch schon alles. Wir sind nicht wie die (er lässt offen, wer ‚die‘ genauer sei). Wir sind sonst ganz normal.

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Ganz anders mein Mann. Der ‚beschwert‘ sich beim Frühstück, er werde von „so vielen anstrengend gut aussehenden Jungs angetickert.“ Der Arme …

2mecs beim Krabler
2mecs beim Krabler

Lachend sitzen wir abends wieder beim Krabler im Biergarten – den uns Sven glücklicherweise empfohlen hat, welch guter Tipp!

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Nicht CSD München 2013 – oder doch?:

Auch du, Lustwandler, ehre das Andenken des Biedermannes
Inschrift auf einer Säule (Freiherr-von-Sckell-Denkmal)
am See im Englischen Garten

„Auch du, Lustwandler, ehre das Andenken des Biedermannes“
„Auch du, Lustwandler, ehre das Andenken des Biedermannes“

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Zahlreiche Fotos von der CSD Parade München 2013 gibt’s morgen hier … CSD München 2013 Fotos

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Politisches

Gene Sharp (1928 – 2018): Die Macht – Frage

Gene Sharp wurde am 21. Januar 1928 in North Baltimore (Ohio) geboren. Sehr bekannt ist Gene Sharp außerhalb der Politikwissenschaften nicht – sein Einfluss auch auf jüngste politische Entwicklungen allerdings ist teilweise erheblich. Gene Sharp ist einer der Väter der ‚gewaltfreien Aktion‘ als Form politischen Engagements. Sharp starb am 28. Januar 2018.

Macht ist das Ergebnis einer Übereinkunft. Ausüben von Macht setzt das stillschweigende Zustimmen der (oft ’schweigenden‘) Mehrheit voraus. Herrschaftstechniken diesen dazu, diese schweigende Zustimmung zu sichern und als ‚unausweichlich‘ aufrecht zu erhalten. Wenn aber die Beherrschten erkennen, dass sie selbst es sind, die den Herrschern die Macht (sie zu beherrschen) verliehen haben, habe sie das Werkzeug in der Hand – eine Herrschaft so zu gestalten, dass sie ihren Interessen dient.

Mittel der Wahl dazu ist die ‚gewaltfreie Aktion‘. Hierzu gehören gewaltfreier Protest und Überzeugung, soziale Nichtzusammenarbeit, Boykott- und Streikaktionen, politische Nichtzusammenarbeit sowie gewaltfreie Intervention – mit Formen, die von Flugblättern über Sit-Ins bis Straßentheater und ‚Dienst nach Vorschrift‘ reichen.

Die sind die zentralen Gedanken zweier wesentlicher Werke von Gene Sharp – ‚the politics of nonviolent action‚ (1973) und ‚from dictatorship to democracy‚ (2003).

Beide Werke gehören seit Jahren zum ’ständigen Inventar‘ zahlreicher Freiheitsbewegungen, inspirierten Blogger und Aktivisten, waren Ideengeber für zahlreiche Jugend- und Protestbewegungen, von Serbien (Otpor / Sturz Milosevics) über die Ukraine bis zu jüngsten Bewegungen in Tunesien (Sturz Ben Alis) oder Ägypten (Sturz Mubaraks). Vorbild Sharps, besonders seines wichtigsten Werks zu gewaltfreier Aktion: Mahatma Gandhi und sein Kampf für die Unabhängigkeit Indiens.

1983 gründete Gene Sharp mit finanzieller Unterstützung eines befreundeten Investmentbankers die ‚Albert Einstein Institution‘ (AEI) – viele Jahre die zentrale Organisation zur Unterstützung von Aktivisten in Freiheits- und Demokratiebewegungen in zahlreichen Staaten weltweit.

Logo der Albert Einstein Institution (Screenshot)
Logo der Albert Einstein Institution (Screenshot)

Sharp selbst beschrieb seine Arbeit in einem Interview („Sie müssen das System verstehen„, SZ 24.02.2011):

Wir greifen nie ein und geben auch keine Ratschläge. Die Leute vor Ort müssen selber wissen, was sie tun„. Er betont „was zählt, sind die Ideen, die Kenntnis, der Plan“ – und kommentiert Passivität und Desinteresse lakonisch „wenn die Bevölkerung ihre Situation nicht ändern will, … dann wird sie nicht gewinnen„.

Gene Sharp war auch – in Deutschland kaum bekannt – einer der gedanklichen Väter eines der Handlungskonzepte von ACT UP. Die Aids-Aktionsgruppen ACT UP hatte viele Handlungsfelder – die künstlerischen Auseinandersetzungen z.B. durch Gruppen wie ‚General Idea‘ sind hierzulande recht bekannt. Die medialen Aktionen vielleicht auch noch. Eine der zentralen Punkte der Arbeit von ACT UP war jedoch immer auch die Gewaltfreiheit – und die Frage, wie kann man / frau effizient gewaltfreie Aktionen machen, und wie sich auch bei Gewalt der ‚Gegenseite‘ (die häufig vor kam) gewaltfrei verhalten? Mitglieder von ACT UP Gruppen in zahlreichen Ländern (auch in Deutschland, auch ich selbst) nahmen vielfach an Trainings zur Gewaltfreiheit teil – diese Trainings basierten auch auf den Konzepten von Gene Sharp. Und sein Konzept der Gewaltfreiheit und gewaltfreien Aktion waren auch ein Teil des damaligen Erfolgskonzepts von ACT UP.

Gene Sharp starb am 28. Januar 2018 in seinem Haus in East Boston, eine Woche nach seinem 90. Geburtstag.

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weitere Informationen:
The Albert Einstein Institution
Gene Sharp: From Dictatorship to Democracy (pdf)
Gene Sharp: The Politics of Nonviolent Action
Gene Sharp: Das politische Äquivalent des Krieges – die gewaltlose Aktion
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Homosexualitäten

Gegen das Vergessen homosexueller NS-Verfolgter – Gedenken an Pierre Seel (1923 – 2005)

Pierre Seel wurde wegen seiner Homosexualität verfolgt, im KZ inhaftiert und gequält. Seit 2008 erinnert die rue Pierre Seel in Toulouse an ihn. In Toulouse gedenkt seit 2010 eine Plakette.

Pierre Seel in Berlin 2000 (Foto James Steakley, Lizenz cc by-sa 4.0)
Pierre Seel in Berlin 2000 (Foto James Steakley, Lizenz cc by-sa 4.0)

Pierre Seel 1923 – 2005

Am 16. August 1923 wurde Pierre Seel in Hagenau geboren. Als 17jähriger 1940 in Mulhouse von der Gestapo unter dem Vorwurf der Homosexualität verhaftet. Er wurde im KZ Schirmeck interniert, gefoltert und missbraucht. Er wurde gezwungen, die Ermordung seines Freundes mit anzusehen.

Nach seiner Entlassung im November 1941 wurde Seel als Soldat eingezogen und an die Ostfront in die Ukraine geschickt. Dort geriet er in Kriegsgefangenschaft.

Nach seiner Rückkehr nach Frankreich heiratete er – auch in Frankreich war nach dem Zweiten Weltkrieg kaum an ein offenes Leben als Homosexueller zu denken. So betand das unter dem Kollaborations-Regime von Pétain 1942 neu eingeführte Sonderstrafrecht gegen Homosexuelle in Frankreich auch nach 1945 weiterhin.

Erst spät, ab 1982, konnte Seel offen über seine Erlebnisse sprechen. Aus seinen Erzählungen und Berichten entstand in Zusammenarbeit mit dem im April 2010 verstorbenen Jean LeBitoux, Gründer des legendären ‚Gai Pied‚, das Buch “Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen”.

„Je me souviens d’un garçon, condamné à mort pour je ne sais quelle raison, que l’on fit se dévêtir. Nu. il se retrouvra au milieu du camp, un seau métallique sur la tête. Les SS lâchèrent sur lui en excitant les chiens de garde, qui le dévorèrent vivant. La nuit, jèntends encore ses cris dans lesd cauchemars …“ (Pierre Seel im Gai Pied 1983)
(‚Ich erinnere mich an einen Jungen, ich weiß nicht mehr warum zum Tod verurteilt, den man zwang sich auszuziehen. Nackt, einen Metalleimer auf dem Kopf, stand er in der Mitte des Lagers. Die SS-Leute hetzten die Wachhunde auf ihn, die ihn bei lebendigem Leib verschlangen. Nachts höre ich in meinen Albträumen immer noch seine Schreie. (Übers. UW))

Sel berichtet in dem Buch u.a. auch, bei seinen Zwangsarbeitseinsätzen an der Errichtung des benachbarten KZ Struthof mitgearbeitet zu haben.

Seel ist der erste und der einzige wegen Homosexualität Deportierte in Frankreich, der je offen über seine Erlebnisse gesprochen hat. Seel war in den 1990er Jahren auch des öfteren in Deutschland -für ihn auch das Land der Täter- zu Vorträgen und Veranstaltungen.
Bewegend auch Seel im Gespräch mit Hervé Joseph Lebrun, Ausschnitt als html (französisch) hier.

Pierre Seel starb am 25. November 2005 in Toulouse.

Pierre Seel – Gedenken

Bereits kurz nach dem Tod von Pierre Seel am 25. November 2005 forderte eine Initative aus Anlass seines Todes erneut in Frankreich ein Monument zur Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Homosexuellen.
Schon früher hatte die Initiative MDH unter Leitung von Jean Le Bitoux die Errichtung eines ‘Memorial de la Déportation Homosexuel’ gefordert. Nachdem es vergleichbare Monumente bereits in Italien, Deutschland und den Niederlanden gebe, sei es an der Zeit, ein ähnliches Monument z.B. in Strasbourg zu errichten.
Bis 2007 gab es in Frankreich keinerlei Homomonument oder ähnliches Mahnmal, das dezidiert an die homosexuellen Opfer des NS-Terrors erinnert. [Aufstellung der Denkmale für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen]

Das KZ Schirmeck ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Auf dem Gelände des früheren Lagers ist heute eine ‘idyllische’ Siedlung (Bericht eines Besuchs auf sintiundroma.de).

Pierre Seel – Gedenklen in Toulouse

Die Initiative forderte zudem von den Bürgermeistern der Städte Mulhouse und Toulouse, jeweils einen Platz oder eine Straße nach Pierre Seel zu benennen. In Toulouse böte sich der Square Steinbach an, in den 1930er Jahren ein Ort schwulen Cruisings. Pierre Seels Diebstahlmeldung einer hier verlorenen Uhr brachte ihm 1939 die behördliche Registrierung als Homosexueller, der die Deportation 1940 folgte.

Am 21. Dezemberr 2007 beschloss der Stadtrat von Toulouse, zukünftig im Quartier Saint Sauveur eine Straße in Toulouse nach Pierre Seel zu benennen. In Gegenwart von Bürgermeister Jean-Luc Moudenc (UMP) und nahezu 200 Gästen wurde das Straßenschild am Samstag, 23. Februar 2008 eingeweiht.
Französische Medien wiesen darauf hin, dass weder Seels langjähriger Partner noch seine Söhne oder Seels langjährige Biograph (Jean le Bitoux) zur Zeremonie eingeladen wurden.

rue Pierre Seel in Toulouse (Foto: Namaacha)
rue Pierre Seel in Toulouse (Foto: Namaacha)

This file depicts the name plate of a street in the French city of Toulouse that was named after Pierre Seel, who suffered deportation under the Nazis on the basis of homosexuality.NamaachaCC BY-SA 3.0

Pierre Seel – Gedenken in Mulhouse

Am Samstag, 15. Mai 2010 wurde in Mulhouse (am Théâtre de la Sinne, avenue Auguste Wicky) eine Plakette eingeweiht, die an Piere Seel erinnert. Sie ist die erste Gedenk-Plakette Frankreichs, die an homosexuelle NS-Opfer erinnert. Die Plakette trägt den Text

Zur Erinnerung an Pierre Seel 1923 – 2005 und andere unbekannte Mulhouser, die wegen des Vorwurfs der Homosexualität festgenommen und deportiert wurden”.

Gedenk-Plakette für Pierre Seel in mulhouse (Foto Ji-Elle; Lizenz cc by-sa 3.0)
Gedenk-Plakette für Pierre Seel in mulhouse (Foto Ji-Elle; Lizenz cc by-sa 3.0)

Mulhouse : plaque à la mémoire de Pierre Seel sur l’une des façades du théâtre côté parcJi-Elle – CC BY-SA 3.0

Pierre Seel Gedenken in Paris

Seit dem 19. Juni 2019 erinnert eine Strasse zwischen der Rue de Rivoli und der Rue du Roi de Sicile an Pierre Seel – die rue Pierre Seel.

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Kulturelles

„Was wäre aus mir geworden, wenn…“

Ein sonniger Spätsommer-Nachmittag im Schleusenkrug. In Ruhe Zeitung lesen, bis ein Artikel im Feuilleton mich elektrisiert.

‘Was wäre aus mir geworden, wenn ich nicht 1967 in Amerika, sondern 1923 in Deutschland geboren worden wäre?’ Diese Frage ist Ausgangssituation für den Roman von Jonathan Littell.

In seinem Erstlingswerk beschriebt er einen jungen Deutschen namens Max Aue, der als Freiwilliger aus vollster Überzeugung der SS beitritt. Max ist schwul – und geht gerade in die SS, um dies zu verbergen. Er macht schnell Karriere, hat bald einen Büro-Job bei Eichmann, kommt nach Stalingrad, in die Ukraine, beteiligt sich selbst an der Tötung von Juden. Nach dem Kriegsende macht er in Deutschland eine neue Karriere als Miederwaren-Fabrikant, bereut nichts von seinem früheren Wirken – und hat Alpträume, in denen die Gestapo ihn wegen seiner Homosexualität verfolgt.

„Les Bienveillants“ [‚bienveillant‘ übersetzt etwa wohlwollend, geneigt] ist gerade in Frankreich erschienen und beherrscht dort die Feuilletons in der wichtigen Zeit direkt nach Ferien-Ende.

Was mich elektrisiert? Zunächst natürlich, die ungeheuren Verbrechen, den Horror der Nazi-Zeit literarisch „von innen“ zu erzählen, fiktiv zwar, aber in (der Rezension zufolge) glasklarer Kälte, die selbstherrliche offensive Erzählweise der Titelfigur (der Roman stellt die fiktive Autobiographie des Ich-Erzähler dar).

Vor allem aber die Ausgangsfrage, die den Autor zu seinem Roman veranlasst hat. Wie oft habe ich sie mir gestellt. Wie oft (… gerade erst wieder vor einigen Tagen …) bin ich mit meinem Vater über die NS-Zeit, seinen Umgang damit aneinander geraten, manches Mal bis zum völligen Zerwürfnis. Und habe mich doch auch hinterher gefragt, in wie weit bist du selbstgerecht in deinem Urteil? Wie hättest du dich damals verhalten?

Es ist leicht, ‘hinterher’ zu kritisieren, die ‘Wahrheit’ zu wissen, sie zu ‘verteidigen’.
Wie unendlich schwer ist es, nicht Versuchungen zu erliegen, nicht Einfachheiten zu folgen, moralisch zu bleiben, integer.
Wie würde ich mich in einer ähnlichen Situation verhalten? Wie leicht ist es, sich schuldig zu machen – würde ich?

Dies als Ausgangspunkt eines Romans zu nehmen, damit eigentlich den Leser selbst auf’s Glatteis der Entrüstung zu führen, die eigenen Vor-Urteile, die (anmaßende?) Einschätzung der eigenen Standhaftigkeit auf diese hintergründige Art in Frage zu stellen, das ist es, was mich elektrisiert.
Die Frage, würde ich mich schuldig machen? Oder: warum ausgerechnet ich nicht? Die Vermessenheit des eigenen Urteils hinterfragen …

Warum solch ein Buch lesen? Heute noch? Heute gerade! Die Frage, die Littell seinen Erzähler direkt im zweiten Satz implizit selbst stellen lässt „Wir sind nicht dein Bruder, werdet ihr sagen, wir wollen deine schlimme Geschichte gar nicht hören“, diese Frage beantwortet er selbst mit „Jeder ist ein Deutscher“.

Das Buch liegt bisher leider nur auf Französisch vor – und ich befürchte, meine Französisch-Kenntnisse reichen hierfür dann doch nicht aus. Bleibt also nur zu warten, geduldig, dass sich bald ein deutscher Verlag findet …

Jonathan Littell: Les Bienveillants. Gallimard 11.9.2006, Broschur, 903 Seiten, ISBN 2-07-078097-X