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Bordeaux Frankreich Homosexualitäten

Bordeaux: Homosexuelle von Gedenk-Veranstaltung an Deportation ausgeschlossen

In Frankreich wurde am Sonntag der Gedenktag für die Opfer der Deportation begangen. In Bordeaux wurden 2013 – anders als in anderen Städten Frankreichs – Homosexuelle von der offiziellen Gedenkveranstaltung ausgeschlossen. 2014 war eine Teilnahme dann möglich.

Bordeaux am vergangenen Sonntag: in erster Reihe bei der offiziellen Gedenk-Veranstaltung an die Deporation: Vertreter der Veteranen-Verbände, Staats-Funktionäre, Würdenträger. Ganz hinten, allerletzte Reihe, weit abgedrängt, nicht eingeladen, nicht in Reden erwähnt Homosexuelle. Dieses traurige Bild bot eine Gedenkveranstaltung an die Deportation, die am Sonntag 28. April 2013 in Bordeaux stattfand.

Roger Joly, Präsident der Nationalen Vereinigung der Deportierten, hält die Rede. Spricht von der Deportation vieler Franzosen durch NS-Besatzer und hilfswillige französische Behörden. Erwähnt Widerstandskämpfer, Juden, Roma und Sinti. Er erwähnt mit keinem Wort: Homosexuelle.

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Politisches

Abba Kovner Manifest

Am 14. März 1918 wurde Abba Kovner in Sewastolpol geboren – Schriftsteller und Widerstandskämpfer (* 14.3.1918 Sewastopol; † 25.9.1987 Kibbuz En haChoresch, Israel).

Kovner beteiligte sich am bewaffneten Aufstand im Ghetto Wilna (Vilna, heute Vilnius) und veröffentlichte das Manifest des jüdischen Widerstands, A. Kovner, verlesen am 1.1.1942 im Ghetto von Wilna.

Abba Kovner während des Eichmann-Prozesses 1961
Kovner während des Eichmann-Prozesses 1961 (public domain)

Abba Kovner testifying at Eichmann’s trial, Jerusalem 1961Israel Government Press OfficeIsrael National Photo CollectionPublic Domain

Kovner war Kommandeur der jüdischen Widerstandsgruppe Fareinikte Partisaner Organisatzije und gehörte später zu den Gründern der Untergrundbewegung Bricha, die 1944 bis 1948 über 300.000 Juden bei der illegalen Flucht und Einwanderung nach Palästina unterstützte. 1961 gehörte Kovner zu den zeugen, die im Eichmann-Prozess aussagten.

Im Ghetto von Wilna wurden über 40.000 Juden ermordet.

A. Kovner starb am 25. September 1987 im Kibbuz En haChoresch in Israel.

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Abba Kovner: Zeugenaussage im Eichmann-Prozess (Video, englisch)
New York Times 27.09.1987: Abba Kovner, Israeli Poet, Dies

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Hamburg Homosexualitäten

Ludwig Meyer: Jude, schwul, NS-verfolgt – & nicht entschädigt

Ludwig Meyer wird 1903 als Sohn einer jüdischen Familie von Vieh- und Fleischhändlern geboren. Zwar soll auch Ludwig den Familenbetrieb der „en-gros-Schlachterei“ fortführen – doch nach der Lehre geht er 1923 für ein Jahr nach Berlin. Erst 1930 kommt er nach Bielefeld zurück, arbeitet nun im Familienbetrieb und wird bald dessen Mitinhaber.

Am 17. Oktober 1936 wird Ludwig Meyer von der Gestapo verhaftet – im Rahmen der ‚Sonderaktion gegen Homosexuelle in Bielefeld‘. Meyer wird wegen Vergehens nach (dem erst kurz zuvor verschärften) Paragraph 175 angeklagt und zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt.

Im Dezember 1937 wird der Familie das Ausüben des Schlachterhandwerks verboten – das Aus für den Betrieb. Ludwig Meyer wird arbeitslos – und ist als Jude auch chancenlos auf dem Arbeitsmarkt in Nazi-Deutschland.

Am 2. Juni 1938 wird Ludwig Meyer in ‚Vorbeugehaft‘ genommen. Im September 1938 wird er nach Buchenwald deportiert. Nach fünf Jahren Aufenthalt im KZ Buchenwald wird er im Mai 1943 in das KZ Auschwitz verlegt, später in das KZ Mauthausen.

Ludwig Meyer überlebt jahrelange KZ-Haft und NS-Verfolgung. Nach der Befreiung von Mauthausen am 8. Mai 1945. Er kehrt kurz darauf, völlig mittellos, in seine Heimatstadt Bielefeld zurück. Im Mai 1946 wird Ludwig Meyer als rassisch Verfolgter anerkannt.

1949 steht Ludwig Meyer erneut vor Gericht – nach dem unverändert in der NS-Fassung weiter gültigen Paragraphen 175. Wegen ‚unzüchtiger Handlungen‘ wird er zu 5 Wochen Gefängnis verurteilt. Die Bielefelder Wiedergutmachungsstelle plant daraufhin, seine Anerkennung als rassisch Verfolgter zu widerrufen, diese habe er aufgrund seiner Homosexualität verwirkt. Die jüdische Kultusgemeinde, in der Meier seit der Befreiung 1945 Mitglied ist, interveniert vergeblich. Sein Verfolgten-Status wird zunächst aberkannt. Meyer gewinnt ein Einspruchs-Verfahren, doch die Stadt Bielefeld legt Widerspruch ein. Als er wegen Betrugs und Bestechlichkeit im Amt zu 13 Monaten Gefängnis verurteilt wird, verliert er den Status als rassisch Verfolgter. Erst 1956/57 „kamen alle Entschädigungs- und Rentenangelegenheiten zu einem positiven Ausgang“, wie Niko Evers in der taz resümiert.

1953 eröffnet Ludwig Meyer gemeinsam mit seinem Freund Günter Heidemann eine der ersten Schwulenkneipen Hannovers, das ‚Wielandseck‚ in der Glockseestrasse. 1960 gibt er die Kneipe ab, zieht später nach Hamburg.

Im April 1975 meldet die Hamburger Lokalpresse „wieder ein Mord auf St. Pauli: Rentner erschlagen“, das Opfer sei „homosexuell veranlagt“ gewesen. Ludwig Meyer wird Opfer eines Raubmords, sein Leben fand im Alter von 71 Jahren ein gewaltsames Ende.

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Berichtet hat die Geschichte von Ludwig Meyer der Journalist Niko Ewers vom ‚Bielefelder Stadtblatt‘ (einer aus der 1970er Protestbewegung entstandenen alternativen Zeitung, die 2001 nach 25 Jahren in Insolvenz ging) in der taz.

Als Theaterstück umgesetzt wurde das Schicksal Ludwig Meyers in dem Stück „Schlachter-Tango“ (2010; Konzept: Michael Grunert) das 2012 in Bielefeld (mit Förderung durch die hms Hannchen Mehrzweck Stiftung) erneut aufgeführt wurde.

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In der Gedenkstätte Buchenwald erinnert seit 2006 ein Gedenkstein an die homosexuellen NS-Opfer.

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Lesezeichen
Niko Ewers: Homosexuell und Jude – Leben und Verfolgung des Bielefelders Ludwig Meyer, dessen Leidensgeschichte nach siebenjähriger KZ-Haft noch nicht zuende war. in: Capri, 13. Jg. 2001 (H. 30), S. 35 – 41
taz 02.09.2000: Nicht verfolgt?
Theater-Labor im Tor 6: Schlachter-Tango

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Nachtrag
26.06.2012
: Das ‚Wielandseck‘ war Anfang der 1960er Jahre, in Zeiten des ‚Tanzverbots‘ für Schwule in Hamburg (1961 hatte das Verwaltungsgericht Hamburg das vom Ordnungsamt angeordnete Tanzverbot in Lokalen für Homosexuelle bestätigt), auch Zufluchtsort für Hamburger Homosexuelle, wie Mico Kaletta (Besitzer der ältesten Schwulensauna Deutschlands, der Vulkan in Hannover) berichtet (pdf):

Im Wielandseck hingen Plakate `heute kommt der Bus aus Hamburg. Wir begrüßen die Hamburger, seid alle pünktlich ́. Gegen 20 Uhr kam der Reisebus um die Ecke und die hannoverschen Tunten begrüßten die Hamburger Tunten, sogar mit Rosen. Es wurde getanzt und gefeiert, bis der Bus am nächsten Tag nur noch halbvoll nach Hamburg zurückfuhr.

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Frankreich Politisches

Philippe Petain – Vichy-Frankreich kooperiert mit Nazi-Deutschland

Philippe Petain (Henri Philippe Benoni Omer Joseph Pétain) wurde am 24. April 1856 im Artois geboren. Der Soldat und Politiker wurde zum Symbol für die Kollaboration von Teilen Frankreichs mit Nazi-Deutschland. Er starb am 23. Juli 1951.

Den Krieg von 1870 erlebt Pétain als Fünfzehnjähriger – und ist beeindruckt. Mit 20 meldet er sich bei der zur Aufnahmeprüfung an der Kriegsakademie von St. Cyr und wird aufgenommen. 1922 macht er hier den Abschluss. Schon früh wird der spätere Marschall Ferdinand Foch auf Pétain aufmerksam, u.a. aufgrund seiner an der Akademie aufgestellten Theorien.

Philippe Petain ist vor dem 1. Weltkrieg ein Offizier, der sich nicht oder wenig für Politik interessiert. Auch in der Dreyfus-Affäre positioniert er sich nicht.

Pétains Karriere – er ist inzwischen 58 Jahre alt – steht bei Beginn des 1. Weltkriegs vor ihrem Ende. Doch in Schlachten wie an der Marne ist Pétain als Brigadegeneral sehr erfolgreich – auch weil er bald die Notwendigkeit erkennt, militärisch anders als zuvor geplant und bewährt vorzugehen.

Im Februar 1916 wird Pétain für den Frontabschnitt Verdun zum Oberbefehlshaber ernannt. Pétain spricht sich gegen eine ‚Offensive um jeden Preis‘ aus, verändert die Art der französischen Kriegsführung („es geht  nicht darum Land, sondern die Schlacht zu gewinnen„, sog. ‚Direktive Nr. 4‘). Eine seiner ersten Aufgaben als Oberbefehlshaber: eine Meuterei einer großen Anzahl von Soldaten (ein Drittel der französischen Armee) niederschlagen. Mit Mühe setzt er sich durch.

Bei Kriegsende will Pétain (im Gegensatz zur Regierung sowie zu Marschall Foch, mit dem sich die Spannungen seit Monaten verschärft haben) keinen Waffenstillstand. Er strebt einen vernichtenden Gegenangriff auf deutsches Gebiet an – einen vernichtenden Sieg gegen Deutschland. Doch er kann sich nicht durchsetzen, aus politischen Erwägungen (auch vor dem Hintergrund des Kriegseintritts der USA).

Philippe Petain wird am 8. Dezember 1918 im Alter von 62 Jahren in Metz zum Marschall ernannt, der höchsten französischen militärischen Auszeichnung. Und dennoch, Pétain fühlt sich angesichts des Waffenstillstands um den in seinen Augen möglichen vernichtenden Sieg gegen Deutschland geprellt.

1925, inzwischen 70 Jahre alt, macht Pétain einen jungen Absolventen der Militärschule zu seinem Adjutanten: Charles de Gaulle. Pétain leitet eine massive Militäraktion gegen den Berber-Aufstand in Marokko – den er schon nach einem Jahr erfolgreich beendet. Immer mehr wird Pétain zu einer bedeutenden Figur auf der politischen Bühne. 1929 wird er Mitglied der Academie Francaise – als Nachfolger von Foch.

Am 6. Februar 1934, nach massiven Demonstrationen der politisch extremen Rechten, ernennt der dem zurückgetretenen Daladier folgende neue Premierminister Gaston Doumergue Pétain zum Kriegs-Minister. Pétain wird damit vom Militär zu einem der führenden Politiker Frankreichs. Er findet deutliche Worte:  „Frankreich hat den Krieg gewonnen und ist nun dabei, den Frieden zu verlieren“ – Pétain spricht sich immer deutlicher gegen das demokratische System und für autoritäre Strukturen aus, interessiert sich für eine antiparlamentarische Bewegung (‚le redressement francais‚). Bereits früh warnt er vor der Aufrüstung Nazi-Deutschlands. Ende 1934 beim Sturz der Regierung Doumergue tritt Pétain als Kriegsminister ab.

Im März 1939, im Alter von 82 Jahren, wird Pétain französischer Botschafter im franquistischen Spanien. Am 3. September 1939, nach der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland, lehnt Pétain ein Angebot Daladiers ab, in die französische Regierung einzutreten.

Nach dem deutschen Angriff auf Frankreich wird Pétain am 18. Mai 1940 von Ministerpräsident Reynaud (der auf den am 20. März 1940 zurückgetretenen Daladier gefolgt war) zum Vize-Ministerpräsident ernannt. Sofort versucht er entgegen den Erwartungen Reynauds (sowie Churchills), den Krieg zu beenden, durch einen Waffenstillstand mit Deutschland („Wir können nicht schon wieder völlig ausbluten„, 13.6.1940).

Die französische Regierung unter Premierminister Reynaud flieht vor den heranrückenden deutschen Truppen nach Bordeaux. Paul Reynaud selbst überträgt Pétain am 16. Juni 1940 die Regierungsverantwortung, beauftragt ihn mit der Bildung einer Regierung. Einzig Charles de Gaulle, nach London geflohen, ruft von dort zum Widerstand auf.

Noch am selben Tag sondiert Pétain bei der deutschen Regierung mögliche Bedingungen für einen Waffenstillstand. Am 22. Juni 1940 unterzeichnet Pètain im Wald von Compiegne das Waffenstillstandsabkommen mit NS-Deutschland.Die Unterzeichnung erfolgt in exakt dem Waggon, in dem 1918 Deutschland die Kapitulation erklärte.

Frankreich wird in der Folge geteilt –  in eine von den Nazis besetzte Zone, und in eine mit NS-Deutschland kooperierende Zone, Frankreich ist geteilt durch eine Demarkationslinie. (Die Verwaltungskompetenz des Vichy-Regimes erstreckt sich formal auf gesamt Frankreich, sie ist im von NS-Truppen besetzten Teil jedoch stark abhängig von deren Zustimmung)

Die französische Regierung verlegt ihren Sitz am 29. Juni 1940 in das Heilbad Vichy, eine Kleinstadt im Département Allier. Vichy wird gewählt, weil die Kleinstadt über ausreichedn Hotel-Plätze verfügt, ein modernes telefonsystem vorhanden ist – und die Demarkationslinie nahe.

Die französische Verfassung wird geändert (angekündigt von Laval am 4. Juli 1940). Das Parlament stimmt mit 570 zu 80 Stimmen für eine Übertragung von umfassenden Machtbefugnissen auf Philippe Petain. Pétain überschreitet diese weitreichenden Befugnisse noch, reißt Legislative, Exekutive und Judikative an sich. Er wird mit 84 Jahren zum Diktator.

Pétain will eine „nationale Revolution“ mit, im Kern, einer Ablehnung der französischen Revolution und ihrer Folgen, der Verachtung des Parlamentarismus. Die Nationalversammlung beauftragt Pétain am 10. Juli 1940 eine neue Verfassung erstellen zu lassen. Es entsteht der ‚État français‘. Die Werte der Republik (Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit) werden ersetzt durch die zentrale Idee des Vichy-Regimes: das „rassemblement“ – das nationale Zusammenstehen für traditionelle Werte Familie, Vaterland, Arbeit und Kirche. Pétain errichtet darauf ein de facto faschistisches Regime – nationalistisch, autoritär, antirepublikanisch, mit Führerkult. Im August 1940 betont Pétain, er sei Führer einer Revolution, die sich einreihen werde in die anderen Revolutionen, jene in Italien (Faschismus) und jene in Deutschland (Nationalsozialismus).

Der britische Historiker Tony Judt kommentiert (in ‚Das vergessene 20. Jahrhundert‚):

Drei Monate nach der schlimmsten Niederlage in der französischen Geschichte waren die unmittelbar Verantwortlichen komfortabel in einem Regime etabliert, das durch ihr Versagen an die Macht gekommen war. […] Solche Männer mochten die Niederlage nicht erwartet haben, aber sie arrangierten sich umso eher mit ihr, als nicht die Deutschen ihr Hauptfeind waren.

Philippe Petain und Hitler – der ‚Handschlag von Montoire‘ 1940

Pètains Frankreich wird umfassend geprägt nicht nur vom alternden Marschall. Ideologischer Kopf ist mehr und mehr Pierre Laval, der ausgeprägt die Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland befürwortet. Zunehmend umgibt sich Pétain zudem mit Politiker, die Kreisen um Charles Maurass entstammen. Der Schriftsteller Maurass prägte die nationalistische, die Demokratie bekämpfende und antisemitische  ‚Action Française‚ – nun gewinnt seine Ideologie zunehmend Einfluss in Vichy-Frankreich.

Vier Monate nach der Niederlage der französischen Streitkräfte kommt es zu einer denkwürdigen Begegnung: im kleinen Ort Montoire (im Département Loir-et-Cher) treffen Laval, Pétain und Hitler aufeinander:

24.10.1940: Adolf Hitler begrüßt den französischen Staatschef Marschall Henry Philippe Petain in Montoire-sur-le-Loir (Foto: Bundesarchiv)
24.10.1940: Adolf Hitler begrüßt den französischen Staatschef Marschall Henry Philippe Pétain in Montoire-sur-le-Loir (Foto: Bundesarchiv, Lizenz cc by-sa 3.0)

de:Pétain schüttelt die Hand mit de:Hitler –  Bundesarchiv, Bild 183-J28036 | Foto: Jäger, Oktober 1944 – CC BY-SA 3.0 de

Bereits zuvor hatte Petian sich klar positioniert. In seiner Rede vom 11. Oktober 1940 hatte er die Überlegenheit des Siegers akzeptiert und erklärt, er „rechercher la collaboration dans tous les domaines“ (die Zusammenarbeit / Kollaboration auf allen Gebieten anzustreben).

Doch das Treffen von Montoire stellt einen markanten Wendepunkt in der französischen Politik dar: händeschüttelnd beschließen Philippe Petain und Adolf Hitler eine Zusammenarbeit. Am 30. Oktober erklärte Pétain per Radio, dass er ab sofort den Pfad der Kollaboration einschlagen werde (laut ‚Le Monde hors-série: 1940, la débâcle et l’espoir‘, Mai/Juni 2010). „Ich bin für eine Zusammenarbeit.“ Und „cette collaboration doit etre sincère“ (diese Kollaboation muss eine ernsthafte sein).

Öffentliche Bekanntmachung Petains über sein Treffen mit Hitler
Öffentliche Bekanntmachung Petains über sein Treffen mit Hitler

Schon bald nach Pétains Machtantritt folgen erste anti-jüdische Maßnahmen der Pétain-Regierung (die erste bereits am 22. Juli 1940). Am 3. Oktober unterzeichnet Pétain das erste ‚Juden-Statut‘. Die bald dazu führen, dass nicht-französische Juden im Mutterland wie in den damaligen französischen Kolonien an die Nazis und damit der Vernichtung in den KZs ausgeliefert wurden (Sammellager Drancy). Französische Juden werden in der Vichy-Zone unterdrückt, aber nicht ausgeliefert.

Am 13. Dezember 1940 entlässt Pétain seinen stellvertretenden Ministerpräsidenten und Außenminister Pierre Laval (der die Verhandlungen mit den Deutschen betrieben hatte) – nicht aus Abneigung gegen eine Kollaboration, sondern weil Pétain das Gefühl hat, zu sehr im Schatten Lavals zu stehen. Zentrale Idee der Politik Pétains ist, den Deutschen klar machen, dass Frankreich im „neuen System Europas“ der Nazis nützlicher sein könnte, wenn es ein klein wenig mehr Freiheit erhalte – eine Strategie, die nie aufging.

Am 18. April 1942 holt Pétain jedoch Pierre Laval zurück an die Macht – der bald die Oberhand gewinnt. Laval wird Regierungschef, intensiviert die Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland und vereinbart administrative ‚Lösungen‘ mit den Nazis zur ‚Umsetzung der Endlösung der Judenfrage‘. Laval und der SS-Führer Carl Oberg vereinbaren bei einem Treffen hierzu eine „Sprachregelung“ – aus der deutlich hervorgeht, dass Laval (und wohl auch Pétain) wussten, was mit den an Nazi-Deutschland ausgelieferten Juden geschah.

Mit einer Verordnung Pétains vom 6. August 1942 (Gesetz Nr. 744) wird die Strafbarkeit homosexueller Handlungen erstmals seit der französischen Revolution wieder eingeführt.

Mehr und mehr Franzosen engagieren sich inzwischen in der Résistance. Pétain ordnet ihre Überwachung und Bekämpfung an. In Vichy wird Pétain immer noch von der Bevölkerung als ‚Retter Frankreichs‘ gefeiert – auch wenn er de facto in den letzten Monaten des Vichy-Regimes politisch kaum noch eine Rolle spielt. Auch nach dem Charles de Gaulle sich selbst längst als legitime Regierungschef Frankreichs bezeichnet, sieht sich Pétain ebenfalls als Chef Frankreichs. Eine von Pétain vorgeschlagene Begegnung lehnt de Gaulle ab.

Philippe Petains Zeit als Präsident nähert sich dem Ende. Während des Rückzugs der Nazis aus Frankreich bringen sie Pétain über Belfort nach Sigmaringen – wo er, gemeinsam mit Laval, 8 Monate bleibt.

Er soll vom Schloss des Fürsten von Hohenzollern aus (das am 30. August 1944 von den Nazis beschlagnahmt wurde) eine neue Regierung mit einem ‚Schatten-Kabinett‘ unter Fernand de Brinon bilden – der ‚Etat francais‚, das Vichy-Regime wird endgültig zur Farce. Sigmaringen, kurzzeitig für extraterritorial erklärt, wird am 8. September 1944, zumindest formal, für gut sieben Monate bis zum 21. April 1945 ‚Hauptstadt des besetzten Frankreich‘ und Sitz des flüchtenden französischen Kollaborations-Regimes. Jacques Doriot, am 22. Febraur 1945 ermordeter Parteivorsitzender der französischen Faschisten PPF, weilt unterdessen, schmollend dass nicht er Regierungschef wurde, auf der Insel Mainau.

Am 21. April 1945 stehen französische Truppen nur noch 45 km vor Sigmaringen (dem ‚chateau de la trahison‚, Schloß des Verrats). Der Sigmaringer Puppen-Hofstaat flüchtet. Am 22. April treffen Truppen des freien Frankreichs in Sigmaringen ein.

Am 23. April 1945 reist Pétain mit Genehmigung der NS-Behörden in die Schweiz. Schließlich stellt er sich (noch vor der Kapitulation der Wehrmacht am 7. Mai 1945 in Reims) am 25. April 1945 an der französisch-schweizerischen Grenze den französischen Behörden.

Vor einem Kriegsgericht beginnt am 23. Juli 1945 im Justizpalast in Paris der Prozess gegen Pétain. Er betrachtet sich weiter als Retter Frankreichs. Am 14. August 1945 wird Philippe Pétain für schuldig der Kollaboration mit dem Feind und des Hochverrats befunden und zum Tod verurteilt. Die bürgerlichen Ehrenrechte werden ihm aberkannt. Pétain legt am Ende des Verfahrens die Marschallsuniform ab.

Sein indirekter Nachfolger Charles de Gaulle wandelt die Todesstrafe auf Wunsch des Gerichts in lebenslange Haft und Verbannung um. Immer noch betrachtet Philippe Petain de Gaulle als seinen Sohn – der mit ihm gebrochen hat.

Am 23. Juli 1951 stirbt Philippe Pétain im Alter von 95 Jahren. Er wird auf der Ile d’Yeu beigesetzt – in seiner Uniform als Marschall Frankreichs.

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Die französische Regierung vereinfachte auf Drängen von Historikern mit Dekret veröffentlicht am 27.12.2015 ab 4. Januar 2016 den Zugang zu Archiven des Außen-, Innen- und Justizministeriums aus der Zeit des Vichy-Regimes sowie der nachfolgenden ‚Épuration‚.

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Die Entwicklung vom ‚Ur-Vater‘ des französischen Faschismus Charles Maurass bis zur Kollaborations-Regierung unter Philippe Petain zeichnet der zweite Teil dieses Artikels recht übersichtlich nach: Französischer Faschismus – Die Republik widersteht

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Deutschland

Carlebach Synagoge Lübeck – Die jüdische Gemeinde von Lübeck

die Carlebach Synagoge Lübeck im Juli 2021

Bei unseren Spaziergängen 2011 durch das frühlingshafte Lübeck kommen wir an der Synagoge vorbei – die gerade offen ist, eine kleine Informations-Veranstaltung beginnt gerade.

Lübeck Synagoge
Lübeck Synagoge im Jahr 2011

Juden leben in der Region Lübeck seit dem 17. Jahrhundert – lange im Dorf Moisling, damals vor den Toren der Stadt. 1812, während der drei Jahre währenden Napoleonischen Phase (und der damit verbundenen erstmaligen Gleichstellung der Juden), entstand erstmals eine Synagoge in Lübeck. Doch nach der Niederlage Napoleons widerrief der Lübecker Senat die Gleichstellung, 1824 wurden die Juden aus Lübeck vertrieben und zogen zurück nach Moisling.

Geschichte der Synagoge in Lübeck

1848, in Folge der März-Revolution, erlangten die Juden wieder das Recht, sich in Lübeck niederzulassen. 1850 wurde eine Synagoge eingeweiht. 1862 erwarb die jüdische Gemeinde Lübeck ein Grundstück an der St. Annen Straße. 1880 wurde die neue Synagoge an der St.-Annen-Straße eingeweiht. Sie ist noch heute Sitz der Synagoge und jüdischen Gemeinde Lübecks.

1938 wurde die Synagoge Lübeck stark verwüstet. Dennoch ist sie die einzige Synagoge in Schleswig Holstein, die die NS-Zeit überstand und heute noch als Synagoge genutzt wird.

Nur sehr wenige Lübecker Juden überlebten den Holocaust. Nach 1945 entwickelte sich zunächst eine bis zu 250 Mitglieder starke neue jüdische Gemeinde, schon Anfang der 1950er Jahre jedoch sank die Mitgliederzahl stark.

Lange hatte die jüdische Gemeinde Hamburg die Verwaltung der Lübecker Synagoge übernommen – zu gering war die Mitgliederzahl der Lübecker Gemeinde. Seit einigen Jahren, die Mitgliederzahl war stetig gestiegen, ist die (orthodoxe) Lübecker jüdische Gemeinde, die seit Kurzem auch ein kleines Museum unterhält, wieder selbständig. Heute wird die Lübecker jüdische Gemeinde überwiegend getragen von Auswanderern aus den Staaten der früheren Sowjetunion.

Lübeck Synagoge Innenraum
Lübeck Synagoge Innenraum

Von 2014 bis August 2020 wurde die Synagoge Lübeck umfangreich saniert. Seit 1991 steht das Gebäude unter Denkmalschutz.

Am 12. August 2021 wurde die Synagoge im Rahmen eines feierlichen Festakts offiziell wiedereröffnet.

Die 1880 eröffnete Synagoge trägt inzwischen den Namen Carlebach Synagoge. Salomon Carlebach (1845 Heidelsheim – 1919 Lübeck) war ein orthodoxer Rabbiner und konservativer Politiker. Seit 4. Juli 1970 war er Rabbiner von Lübeck.

Salomon Carlebach (1845-1919), deutscher Rabbiner – Robert Mohrmann – Alexander Bastek/Jan Zimmermann (Ed.): Fotografie in Lübeck 1840-1945. Michael Imhof Verlag, 2016 – Gemeinfrei

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Brandanschlag 1994

Die Lübecker Synagoge steht auch für ein weiteres Stück sehr traurige und bestürzende deutsche Geschichte: am 24. März 1994 verüben vier Täter einen Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge. Erstmals seit der Pogrom-Nacht 1938 wurde in Deutschland ein Anschlag auf eine Synagoge verübt. Die Täter des rechtsextremistischen Anschlags wurden gefasst und am 13. April 1995 zu zweieinhalb bis viereinhalb Jahren Haft verurteilt.

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Eines der bekanntesten Mitglieder der jüdischen Gemeinde Lübecks im 19. Jahrhundert war der Apotheker Siegfried Seligman Mühsam. Mühsam, auch Mitglied der Lübecker Bürgerschaft, führte die ‚Apotheke am Lindenplatz‘ – und ist Vater von Erich Mühsam, später als Autor und Anarchist bekannt geworden, der in Lübeck seine Jugendjahre verbrachte.

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siehe auch:
Jüdische Gemeinde Lübeck
Horst Schinzel: Die Juden in Lübeck – Der lange Kampf um die Bürgerrechte
Michael Winter: Die Juden in Moisling und Lübeck – Drei zusammenfassende Darstellungen, ein ergreifender Bericht aus der Zeit des Nationalsozialismus‘ und eine Zeittafel der wichtigsten Ereignisse
Der jüdische Friedhof in Moisling
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Politisches

11. April 1961: Beginn Eichmann-Prozess

Am 11. April 1961 begann in Jerusalem der Eichmann-Prozess , das Verfahren gegen Adolf Eichmann, Mit-Organisator des millionenfachen Mordes an Juden Europas.

Vom 11. April bis 15. Dezember 1961 fand vor dem Jerusalemer Bezirksgericht der Prozess gegen Adolf Eichmann statt, gegen den ‚Referatsleiter IV B 4 ‚Juden- und Räumungsangelegenheiten‘) und Organisator des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden.

Eichmann-Prozess 1961: Adolf Eichmann während der Gerichtsverhandlung in Israel 1962
Eichmann-Prozess 1961: Adolf Eichmann während der Gerichtsverhandlung in Israel 1961 (Foto: wikimedia, public domain)

Eichmann, ehemaliger ‚SS-Obersturmbannführer‘, war nach 1945 zunächst in Niedersachsen (ausgerechnet nahe dem ehemaligen KZ Bergen-Belsen) untergetaucht. Ab 1950 flüchtete er dann über Stationen u.a.in Innsbruck und Tramin nach Argentinien – wo ihn der israelische Geheimdienst Mossad aufspürte und 1960 nach Israel brachte. Am 23. Mai 1960 wurde Eichmann in Haifa inhaftiert.

Der Eichmann-Prozess 1961 erregte international sehr großes Aufsehen. Und er beendete in Deutschland eine bis dahin weit verbreitete Vergessenheit der Ermordung der Juden gegenüber.

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (Frankfurt) hatte früh Hinweise auf den Aufenthaltsort von Eichmann erhalten und diese an Stellen in Israel weitergegeben.

Der Prozeß sorgte in Deutschland für Aufregung, zu sehr befürchtete die Adenauer-Regierung, belastendes Material über ihr Spitzen-Personal könne bekannt werden, insbesondere über den Staatssekretär im Kanzleramt und Kommentator der ‚Nürnberger Gesetze‘ Hans Globke. Doch trotz Antrag des Eichmann-Verteidigers Servatius wurde ein Antrag auf Vernehmung Globkes im Prozess abgelehnt.

Hannah Arendt, die als Reporterin der Zeitschrift ‚The New Yorker‘ zeitweise am Prozess gegen Adolf Eichmann teilnahm, prägte mit ihrer Bezeichnung von Eichmann („der größte Verbrecher seiner Zeit„) als ‚Schreibtisch-Täter‚ einen viel zitierten Begriff – der als Denkfigur auch für Argumentationen in zahlreichen späteren Prozessen gegen NS-Täter Bedeutung gewann. Arendt beschrieb Eichmann dabei als „normalen Menschen“ wie die meisten Nationalsozialisten und sprach von der ‚Banalität des Bösen‚.

„Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“

Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem

Arendts Berichte vom Eichmann-Prozess erschienen zunächst in der US-amerikanischen Zeitschrift ‚New Yorker‘, 1964 wurden sie dann als Buch veröffentlicht. Arendts Berichte und Analysen erregten viel Aufsehen – und stießen damals auf viel Unverständnis. Nicht nur ihre Formulierung von der ‚Banalität des Bösen‘ wurde oft missverstanden, auch ihrer Darstellung der (kollaborierenden) Rolle der ‚Judenräte‘ wurde damals viel widersprochen.

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Gabriel Bach, am 13. März 1927 in Halberstadt geborener und heute in Jerusalem lebender isrealischer Jurist, war stellvertretender Ankläger im Prozess gegen Adolf Eichmann. Am 30. Januar 2010 sprach Bach im Polittbüro (der Bühne von Herrchens Frauchen) in Hamburg über seine Erinnerungen an den Eichmann-Prozess und Einschätzungen der damaligen und heutigen politischen Situation; seine Rede ist als Mitschnitt bei freie-radios.net online.

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Politisches

“Ich habe meine Chance genutzt” – Ärzte in der NS-Zeit

2010 jährt sich zum 65. Mal die Befreiung vom Faschismus. Ein weniger bekanntes Kapitel im System der NS-Herrschaft und des Terrors ist die Beteiligung von Medizinern an Verfolgung und Vernichtung. Ihre zumindest ansatzweise juristische Aufarbeitung führte zu einem der wesentlichen Grundlagen des Schutzes von Patienteninteressen, dem Nürnberger Codex.

Ärzte spielten eine bedeutende Rolle im Verfolgungs- und Vernichtungs-Apparat der NS-Diktatur, so auch bei der Vernichtung von Juden, Roma und Sinti, psychisch Kranken oder der Verfolgung und Unterdrückung von Homosexuellen.
Die Bedeutung von Ärzten in der NS-Rasse- und Vernichtungspolitik wird durch Zitate wie dieses deutlich:

Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Zigeuner und Juden. Sie sind daher gleichfalls gottgewollte Wesen, aber man kann sie ebensowenig durch rücksichtsvolle Behandlung bessern oder beim zusammenleben von uns fernhalten wie entartete Asoziale und unnormal ichsüchtige, kriminell-hemmungslose Menschen. Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge biologisch allmählich ausmerzen.

Dr. Kurt Hannemann, in “Ziel und Weg” Nr. 9 / 1939, Organ des Nationalsozialistischen Ärztebundes; zitiert nach Bastian / Homosexuelle im Dritten Reich

Zwei der bedeutendsten Ärzte bei der Verfolgung Homosexueller:
Dr. med. Carl-Heinz Rodenberg (Reichsicherheitshauptamt Amt III b 3 sowie ‘sexualpsychologischer Berater’ der Abteilung V; u.a. Gutachter bei der ‘Mordaktion T4‘ sowie ab 1943 ‘wissenschaftlicher Leiter’ der ‘Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung‘)

Carl Heinz Rodenberg
Carl Heinz Rodenberg

sowie der dänische Mediziner Dr. Carl Vaernet (bekannt und gefürchtet für seine Experimente an Homosexuellen in Buchenwald).(In der Gedenkstätte Buchenwald erinnert seit 2006 ein Gedenkstein an die homosexuellen NS-Opfer).

Carl Vaernet
Carl Vaernet

Eines der wichtigsten Zentren der NS-Ideologie im Medizin-Betrieb: die am 1. Juni 1935 eingeweihte “NS-Ärzteschule” (“Führerschule der deutschen Ärzteschaft”) in Alt Rehse, heute zur Stadt Penzlin in Mecklenburg-Vorpommern gehörend. Etwa 40.000 Ärzte und medizinisches Personal wurden hier in einem ehemaligen Rittergut von 1935 bis 1943 (ab 1941 überwiegend Reserve-Lazarett) entsprechend der NS-Ideologie medizinisch ‘weitergebildet’. Darunter auch Ärzte, die später in Konzentrationslager Menschenversuche vornahmen, Ärzte die in Behörden über “lebensunwertes Leben” urteilten, Ärzte die Menschen in die Vernichtung schickten.

Auf dem Gelände und in Gebäuden der ehemaligen “NS-Ärzteschule” befindet sich nach langem Leerstand seit 2006 der “Tollense Lebenspark”. Im Gutshaus Alt-Rehse erinnert die Ausstellung “Alt Rehse und der gebrochene Eid des Hippokrates” des ‘Vereins für die Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse e. V.’ an die Geschichte des Orts.

Dorfplatz in Penzlin-Alt Rehse September 2008 (Foto: wikimedia / GNU Lizenz)
Dorfplatz in Penzlin-Alt Rehse September 2008 (Foto: Bear62 / Lizenz cc by 2.0)

Village-Place Alt RehseBear62CC BY 3.0

Nach 1945 hatten viele Mediziner eine einfache Begründung für ihr kritikloses, teils bedingungs- und gnadenloses Engagement im und für das NS-System. Klar zum Ausdruck brachte dies zum Beispiel Karl Gebhardt, Oberster SS-Arzt, 1946 im Nürnberger Ärzte-Prozess [vgl. Memorium Nürnberger Prozesse] :

So hat mir… das Dritte Reich … auf ärztlichem Gebiet eine große Chance gegeben. Ich habe sie genutzt.

Gebhardt wurde in dem Prozess zum Tod verurteilt und hingerichtet. Viele Ärzte hingegen, die in KZs, Kliniken und Heilanstalten arbeiteten und gegen das Gebot der Menschlichkeit verstießen, an Verfolgung, Unterdrückung, Vernichtung beteiligt waren, wurden juristisch nicht belangt. Die meisten arbeiteten nach 1945 unbehelligt weiter, so auch Carl-Heinz Rodenberg und Carl Vaernet.

Der Nürnberger Ärzteprozess, in dem zwischen dem 9. Dezember 1946 und dem 20. August 1947 zumindest 20 KZ-Ärzte vor Gericht standen,  brachte einen bedeutenden Fortschritt, nicht nur juristisch, sondern auch für Patient/innenrechte: Dem Urteil des Nürnberger Ärzte-Prozesses voran gestellt war der “Nürnberger Codex” (“Stellungnahme des I. Amerikanischen Militärgerichtshofes über “zulässige medizinische Versuche”), der u.a. zu medizinischen Versuchen an Menschen festlegt:

„Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können.“.

Der Nürnberger Kodex gehört seitdem zu den ethischen Grundlagen der Ausbildung von Medizinern – und ist eine der wesentlichen Grundlagen des Schutzes von Patienten.

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Der Tollense Lebenspark musste 2015 das Gelände nach einem Gerichturteil verlassen. Erneut müssen Investoren gesucht werden.

2017 hieß es, auf dem 2016 erworbenen Gelände sei ein Hotel mit Meditationszentrum in Planung. 2021 war von der Schaffung eines Luxushotels die Rede.

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weitere Informationen:
wikipedia: Liste von NS-Ärzten und Beteiligten an NS-Medizin
IPPNW Nürnberg – Erlangen Fürth: Nünberger Kodex 1997
Evelyn Hauenstein: Ärzte im Dritten Reich – Weiße Kittel mit braunen Kragen
Tollense Lebenspark: Die Geschichte des Tollense Lebensparks
ns-eugenik.de (dort -> Die Führerschule in Alt Rehse)
Politische Memoriale Mecklenburg-Vorpommern e.V.: Alt Rehse/ Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse

Peter Tatchell 05.05.2015: The Nazi doctor who experimented on gay people – and Britain helped to escape justice
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Politisches

Erich-Mühsam-Preis für Gunter Demnig

Der Künstler Gunter Demnig wurde am 26. April 2009 in Lübeck mit dem Erich-Mühsam-Preis ausgezeichnet, verliehen für das Projekt Stolpersteine.

Der in Lübeck aufgewachsene Publizist, Schriftsteller und politische Aktivist Erich Mühsam wurde am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg nahe Berlin von Nationalsozialisten ermordet. Die 1989 in Lübeck gegründete Erich-Mühsam-Gesellschaft verleiht seit 1993 den Erich-Mühsam-Preis.

Die Erich-Mühsam-Gesellschaft schreibt dazu:

“Alle zwei Jahre wird auf der Tagung der Erich-Mühsam-Preis verliehen. Ein gewähltes Gremium schlägt Personen und Gruppen zur Auszeichnung vor, die sich mit Zivilcourage und Idealismus für soziale Gerechtigkeit und verfolgte Minderheiten einsetzen.”

Der Erich-Mühsam-Preis wird am 26. April 2006 dem Künstler Gunter Demnig (geb. 27. Oktober 1947) verliehen, Schöpfer des Projekts Stolpersteine. Am Vortag hat Demnig in Lübeck erneut Stolpersteine verlegt.

Stolperstein zum Gedenken an Erich Mühsam vor dem Buddenbrookhaus
Stolperstein zum Gedenken an Erich Mühsam vor dem Buddenbrookhaus

Projekt Stolpersteine begann 1993 mit Konzepten, 1995 wurden erste Stolpersteine (damals noch ungenehmigt) probeweise in Köln und 1997 in Berlin-Kreuzberg verlegt. Zuvor waren bereits 1994 250 Stolpersteine in der Kölner Antoniterkirche ausgestellt worden. Voran gegangen war dem Projekt eine Aktion 1990, mit der an die Deportation von Sinti und Roma aus Köln erinnert wurde.

Gunter Demnig beschreibt die Stolpersteine als

“ein Projekt, das die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, der Zigeuner, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im Nationalsozialismus wach hält.”

Stolperstein für Hans Hirschberg
Stolperstein für Hans Hirschberg

Stolperstein für Hans Hirschberg, Hamburg

Die Stolpersteine verlegt Demnig jeweils bündig in den Bürgersteig, vor dem letzten freiwillig gewählten Wohnort des jeweiligen Opfers. Bis Ende 2008 sind gut 17.000 Stolpersteine gesetzt worden.

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Berlin

Bürokraten? Täter? – Reichsbahn Holocaust

Reichsbahn Holocaust – noch heute ein schwieriges Thema? Nach zahlreichen Wirren und erst auf ministeriellen Druck hin wurde am heutigen Mittwoch 23.1.2008 in Berlin die Ausstellung “Sonderzüge in den Tod – Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn” in Anwesenheit von Beate Klarsfeld und Verkehrsminister Tiefensee eröffnet.

Beate Klarsfeld am 23.1.2008 bei der Eröffnung der Ausstellung “Sonderzüge in den Tod – Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn” Reichsbahn Holocaust
Beate Klarsfeld am 23.1.2008 bei der Eröffnung der Ausstellung “Sonderzüge in den Tod – Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn”

Die Reichsbahn beförderte Zehntausende Menschen in der NS-Zeit in den sicheren Tod. Ihre Rolle bei der Deportation sowie das Schicksal deportierter jüdischer Kinder stehen im Mittelpunkt der zweiteiligen Ausstellung.

Die “Sonderzüge in den Tod” fuhren nicht nur mit Hilfe anonym wirkender Organisation wie ‘die Reichsbahn’ oder ‘das Verkehrsministerium’. Da waren Menschen beteiligt, die handelten – nicht nur ‘ganz oben’ die bekannten ‘Eichmanns’, sondern auf allen Ebenen. Waren sie Bürokraten? Waren sie Täter?

Gedenkbücher
Gedenkbücher

Eine Ausstellung auch mit viel Bezug zu Berlin – weswegen dem Ausstellungsort Berlin besondere Bedeutung zukommt. Etwa ein Drittel aller aus Deutschland stammenden in den KZs der Nazis ermordeten Personen jüdischen Glaubens stammte allein aus Berlin. Die Zahlen der in Berlin lebenden Menschen jüdischen Glaubens sprechen für sich:
1925: 172.672
Mai 1939: 82.788
1.10.1941 : 72.972
Ende des 2. Weltkriegs ca. 2.500
Gleichzeitig war Berlin auch einer der bedeutendsten Abfahr-Bahnhöfe der Züge in die Vernichtung – Transporte starteten von Berlin-Wannsee (wo heute die Gedenkstätte ‘Gleis 17‘ daran erinnert), aber auch vom Anhalter Bahnhof sowie (gern vergessen) vom Güterbahnhof Moabit.

Verkehrsminister Tiefensee am 23.1.2008 bei der Eröffnung der Ausstellung “Sonderzüge in den Tod – Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn”
Verkehrsminister Tiefensee am 23.1.2008 bei der Eröffnung der Ausstellung “Sonderzüge in den Tod – Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn”

Eine Ausstellung, die schon lange geplant war. Eine Ausstellung über die Rolle der Reichsbahn im Holocaust. Eine Ausstellung, die Bahnchef Mehdorn massiv ablehnte (offiziell aus ‘Sicherheitsgründen’), und die erst auf Druck von Verkehrsminister Tiefensee doch noch in Bahnhöfen und in Berlin im Bahnhof ‘Potsdamer Platz’ stattfinden kann – in der ‘Schamecke‘, die SpON titelt.

Neben der ministeriellen Anordnung ermöglichte dabei erst ein Kompromiss zwischen Bahn und Beate und Serge Klarsfeld die Ausstellung. Sie besteht nun aus einem DB-Teil aus Beständen aus dem Bahn-Museum Nürnberg sowie einer ‘Klarsfeld-Ausstellung’ zum Schicksal jüdischer Kinder, die auf von den Klarsfelds bereits in Frankreich organisierten Ausstellungen basiert. Die beiden Teile der Ausstellung sind auch optisch fein voneinander getrennt -die DB-Tafeln auf schwarzem Grund, die Klarsfeld-Tafeln auf hellgrau.

Nur ein Teil der DB-Tafeln der Ausstellung thematisiert direkt die Rolle der Deutschen Reichsbahn – viele auch allgemein das Thema KZs und Vernichtungslager.

Reichsbahn Holocaust Ausstellungstafel
Ausstellungstafel
Reichsbahn Holocaust Ausstellungstafel
Ausstellungstafel
Reichsbahn Holocaust Ausstellungstafel
Ausstellungstafel
Ausstellungstafel
Ausstellungstafel

Bei den Tafeln zur Beteiligung der Reichsbahn fällt auf, dass zwar von Gleichschaltung, Anpassung, Erlassen, Zusammenarbeit gesprochen wird – das Wort ‘Täter’ hingegen kommt im Sprachgebrauch nicht vor.
Ähnliches gilt für die Rolle des Verkehrsministeriums und seiner Mitarbeiter.

Da wurde geplant, berechnet, befördert, abgerechnet – Bürokraten? Täter?
Und – was haben all die beteiligten Menschen nach 1945 gemacht, was wurde aus ihnen?
Wie Herr Ganzenmüller, Staatssekretär im Verkehrsministerium und Stellvertretender Generaldirektor der Reichsbahn, der an der Koordination der Transporte Zehntausender nach Treblinka maßgeblich beteiligt war und 1996 starb. Was machte er nach 1945? War er weiter im Ministerium? Oder bei der Bahn? Kategorisch schweigt die Ausstellung über das Schicksal beteiligter Personen nach 1945.
Ganzenmüller arbeitete nach 1945 u.a. als Planungsingenieur für Hoesch; ein 1973 doch noch begonnener Prozess wurde schon 1973 vorläufig, 1977 endgültig eingestellt wegen Verhandlungsunfähigkeit)

Die Ausstellung “Sonderzüge in den Tod” ist noch bis zum 11.Februar in Berlin (Zwischengeschoss Bahnhof Potsdamer Platz) zu sehen. Weitere Stationen sollen u.a. Münster und Schwerin sein.

An die eine Million Kinder, die während der NS-Zeit deportiert wurden, erinnert auch der “zug der erinnerung”, der aus dem Klarsfeld-Projekt hervorgegangen ist. Er wird im April nach Berlin kommen … allen Widrigkeiten seitens der Bahn zum Trotz.

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Berlin

ein-Frau-Musical mit Lola

Georg Kreisler ist leider seltener zu hören – derzeit bietet sich in Berlin die Gelegenheit. Das jüdische Theater Bimah zeigt seine ‘Lola Blau’.

Theater Bimah
Theater Bimah

“Lola Blau ist Jüdin und lebt im Österreich der 30er Jahre. Als der Einmarsch Hitlers ihre Schauspielpläne durchkreuzt, muss sie flüchten … ‘Lola Blau’ ist eine musikalisch umgesetzte Lektion aus Geschichte und Unterhaltung – unsentimental, ernst, heiter und satirisch …” [aus der Programmankündigung]

Georg Kreisler ist vielen vielleicht am ehesten bekannt durch sein Chanson ‘Taubenvergiften im Park”. Sein ‘ein-Frau-Musical’ “Heute Abend: Lola Blau”, uraufgeführt am 17. November 1971, zeigt das Jüdische Theater Bimah in Berlin-Neukölln.

Wer Kreislers bitteren Humor, seine satirische Schärfe mag, wird hier einen unterhaltsamen Abend verbringen können – vielleicht entdecken auch Sie, dass Sie im verkehrten Szenenbild spielen? Oder finden den ein oder anderen Herrn oder Frau Schmidt in oder neben sich?

Theater Bimah
Theater Bimah

“Heute Abend: Lola Blau”
an zahlreichen Abenden im März und April 2007 im “Jüdischen Theater Deutsch-Jüdisches Theater (Bimah)
Jonasstr. 22, 12053 Berlin

Nachträge: einen schönen Text Kreislers über ‘Judentum leicht gemacht’ gibt’s hier. Und den Text seines netten Lieds ‘Zwei alte Tanten tanzen Tango’ gibt’s (neben anderen Texten) hier.