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Erinnerungen Paris

Mauerfall 1989 – wo warst du am 9. November?

„Jubiläum Mauerfall“, unübersehbar, unüberhörbar ist dieses Thema immer wieder omnipräsent in den Medien. Berichte à la „wie ich die Wende erlebte“ oder „“wo warst du am 9. November?“ füllen Spalten und Sendeminuten.

Wo war ich in jenen Wochen? Was bewegte mich als in Berlin die Mauer fiel?

Berlin? Damals für mich weit weg, wenig interessant, es sei denn ich war beruflich dort. Viel näher war mir: Paris.

Dort, in Paris gab es einen jungen Mann, der es mir sehr angetan hatte. Mit dem bald eine große Nähe war, die in der Gemeinsamkeit des HIV Serostatus eine weitere Dimension fand.

Ein junger Mann, der im Herbst jenes Jahres 1989 erstmals ins Krankenhaus kam. Ein Ort, den er wegen Lungenentzündungen, bakterieller Infektionen, Toxoplasmose und was Aids und seine Folgen damals alles zu „bieten“ hatten in den folgenden Monaten nur zu oft sehen, erleben müssen sollte. An dem ich ihn so oft es möglich war besuchte, mich abwechselnd mit seinem Mann um ihn kümmerte.

Diese zwölf Monate vom Herbst 1989 bis zum Herbst 1990, sie sind in meiner Erinnerung eine Zeit vieler Aufenthalte in Paris. Wenige von ihnen mit einigen unbeschwerten, glücklichen Momenten. Viele hingegen voller Sorge, Ungewissheit, Angst.

Mauerfall, Wende – all das war weit weg für mich damals. Ein manchmal näheres, meist eher entferntes Grummeln, das ich wohl wahr nahm, das mich allerdings nicht wirklich erreichte.

Ich erinnere zum Beispiel Kollegen, die an den auf den Mauerfall folgenden Tagen und Wochen immer wieder aufgeregt erzählten, wie es in Berlin war, an und auf der Mauer, in den Straßen, in den Clubs. Wie ich, gerade wieder aus Paris zurück, nur hätte erzählen können von einem jungen Mann, der schwerer und schwerer erkrankte, dahin siechte, verfiel. Und den ich liebte. Dessen einst strahlendes jungenhaftes Lächeln zerbröselte zu einem Gesicht voller Trauer und Hoffnunglosigkeit. Ich hielt meist den Mund bei den Mauerfall – Erzählungen der Kolleg_innen. Zu wenig passten ihre aufgeregten, freundvollen, überschäumenden Geschichten mit meiner eigenen Realität zusammen.

Mein Bezug war in diesen Monaten 1989 / 1990 weniger Berlin, mein Horizont lag weiter westlich. Viele Stunden, Tage, Wochen verbrachte ich in Paris, bei Jean-Philippe.

Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer geöffnet. Der 3. Oktober 1990 ist der Tag des „Wirksamwerdens des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland“ – der ‚Tag der Deutschen Einheit‘.

An diesem 3. Oktober 1990 starb Jean-Philippe in Paris an den Folgen von Aids.

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Was ist von Bedeutung?
Was ist wirklich wichtig?
Eine bedeutende Situation so gespalten zu erleben, wie bei Mauerfall und Wiedervereinigung, es sollte sich noch einmal wiederholen für mich – am 11. September 2001, Nineleven.

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Nachdenkliches Paris

tu me manques

Vor einigen Tagen war sein Todestag. Der 19.

Zwanzig Jahre ist Jean-Philippe nächstes Jahr nun schon tot.
Zwanzig Jahre.
Und doch – gelegentlich stehen immer noch gemeinsame Momente vor meinem inneren Auge, schöne wie auch schwierige. Paris Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre.

Zwanzig Jahre.

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Schock Prävention und die Inflation der Währung Aufmerksamkeit

Wie und warum funktioniert Schock Prävention? Was hat Thilo Sarrazin damit zu tun? Und was Inflation und Ignorieren?

Thilo Sarrazin, seines Zeichens Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank und ex-Finanz-Senator von Berlin, hat wieder einmal deutliche Worte gefunden. Die verbreitet Anstoß erregen – und erinnern an den wohl bekannten Mechanismus, Aufmerksamkeit zu erzeugen, egal was es kostet – oder was die Folgen sind.

In einem Artikel in der Wochenend-Ausgabe der ‚Süddeutschen Zeitung‘ betrachtet Evelyn Roll die Frage öffentlicher Provokation. Und analysiert die zugrunde liegende Wirkweise:

„Es ist ja so: Viel wichtiger, lukrativer und karrierefördernder als Taten und Leistungen sind heute Bedeutung und Prominenz. Aufmerksamkeit ist die Währung. Und Provokation, der gezielte Tabubruch also, ist, was das Herstellen dieser Währung angeht, immer und zuverlässig erfolgreich. Die verbale Provokation, der unpassende Vergleich und die öffentliche Beleidigung sind also niemals wirklich Ausrutscher oder selbstentlarvende Versehen. Es handelt sich immer um eine so einfache wie nur gelegentlich gefährliche Medienstrategie im Durchlauferhitzer der Erregungsdemokratie. Sie stößt auf eine fein ausgesteuerte und leicht anzusteuernde Kultur von Empörung und Heuchelei, die zuverlässig anspringt. Jedes durch Sprech- und Denktabus eingeklemmte Publikum hasst und liebt deswegen den Provokateur.“

Wohl war, denke ich. Und ich fühle mich erinnert an Schock-Kampagnen, mit denen sich eine gewisse Stiftung, ein ominöser Verein gelegentlich hervortun. Bei denen mir auch oft der Eindruck kommt, es ginge hier um vieles, um Aufmerksamkeit, um Spenden, um mediale Hypes – nur nicht um die eigentliche und doch nur vordergründig plakatierte Frage, die Aids-Prävention.

Und genau darin liegt das Problem, auch in Rolls Analyse. Derartige Strategien können eben doch gefährlich sein. Sie konterkarieren bisher erfolgreiche HIV-Prävention, können erzielte Erfolge zunichte machen oder gefährden, produzieren Klärungs- und Richtigstellungs-Aufwand (bei anderen selbstverständlich, nicht beim Verursacher) – und verpuffen schon nach wenigen Tagen im Dunst des nächsten medialen Hypes. Die Arbeit ist getan, die Aufmerksamkeit erzielt, irgend etwas wird sicher hängen blieben – und die Arbeit und den Schaden haben andere.

Doch Roll weist auch Wege aus dieser medialen Aufmerksamkeits-Falle. Ein wenig mehr Bedacht in den Reaktionen, etwas weniger Aufregung und Empörung, überlegtere Kommentare, weniger Geschrei – indem wir ihnen ihre Währung, die Aufmerksamkeit entziehen, können wir ihren Schaden vielleicht begrenzen. Und ihre regelmäßige Wiederkehr vielleicht nach und nach unattraktiver, da erfolgloser machen. Die Inflation der Währung ‚Schock-Aufmerksamkeit‘. Wir können handeln – schalten wir ihn zumindest in unserem Bereich wenn schon nicht ‚aus‘, dann doch einige Stufen kälter, den ‚Durchlauferhitzer der Erregungsdemokratie‘.
Stattdessen könnten wir von der Bedeutung der Aufmerksamkeit, der Prominenz, des Image vielleicht wieder ein wenig mehr zurück kehren zur Bedeutung von Taten, von Handeln, von Ergebnissen für die Menschen (und nicht für die Initiatoren).

Schock-Kampagnen & co. – in die Mülltonne. Aber vielleicht nicht immer durch lauten Protest, sondern gelegentlich auch durch überlegte Gelassenheit, vielleicht auch geflissentliches Ignorieren?

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weitere Informationen:
Evelyn Roll: „Das musste mal gesagt werden“ (Süddeutsche Zeitung 10./11.10.2009)
(online zweiteilig unter dem Titel „Thilo Sarrazin und die Folgen„)

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Text 25.02.2016 von ondamaris auf 2mecs

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Hamburg Kulturelles

Gustaf Gründgens (1899 – 1963)

Am 7. Oktober 1963 starb in Manila der 1899 in Düsseldorf geborene Schauspieler, Regisseur und Intendant Gustaf Gründgens.

1933, die Nazis ergreifen die Macht in Deutschland. Ein junger Schauspieler weilt gerade im sicheren Ausland – und kehrt doch zurück. Gustaf Gründgens (geboren als Gustav), einst mit den Kommunisten sympathisierend und glühender Radikaler, arrangierte sich schnell mit den neuen ‘Machthabern’ nach 1933 – Kritiker bezeichneten ihn als “zuverlässigen künstlerischen Diener von Hitlers Herrschaft”.

Plakette zur Erinnerung an Gustaf Gründgens, Düsseldorf, Geburtshaus
Plakette zur Erinnerung an Gustaf Gründgens, Düsseldorf, Geburtshaus

Im Februar 1933 wurde er von Hermann Göring zum künstlerischen Leiter des preußischen Staatstheaters ernannt, 1934 zum Intendanten und 1935 zum Generalintendanten – ein Amt, das er bis 1945 inne hatte.

“Aus seiner Homosexualität machte er seinem obersten Dienstherren gegenüber kein Hehl, heiratete aber dennoch 1936 die Schauspielerin Marianne Hoppe. Bis zum Ende des Dritten Reichs währte diese Zweckehe”.

(NDR)

Öffentlich äußerte sich Gründgens hingegen nie zu seiner Homosexualität.

Bereits 1946 arbeitet Gründgens wieder als Schauspieler, zunächst in Berlin. 1955 bis 1963 ist der Generalintendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg.

Klaus Mann, einst in Jugendjahren mit Gründgens befreundet, portraitierte ihn in seinem 1936 im Amsterdamer Querido-Verlag erstmals erschienenen Roman “Mephisto” in der Figur des ‘Hendrik Höfgen’ als undurchsichtigen, ja gewissenlosen Opportunisten.
Obwohl inzwischen auch in Deutschland erhältlich, ist der Vertrieb des Romans aufgrund der umstrittenen ‘Mephisto-Entscheidung’ offiziell in Deutschland weiterhin verboten.

Gründgens, am 22. Dezember 1899 in Düsseldorf geboren, stirbt unter ungeklärten Umständen am 7. Oktober 1963 im philippinischen Manila an einer Überdosis Schlafmittel.

Sein Grab befindet sich auf dem Hauptfriedhof Ohlsdorf in Hamburg.

Grab Gustaf Gründgens in Hamburg
Grab Gustaf Gründgens in Hamburg
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unterwegs

Traumlandschaft in Kaschubien

 

Traum-Landschaft (Kaschubien, Polen, September 2009)
Traum-Landschaft (Kaschubien, Polen, September 2009)

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Berlin Homosexualitäten

Hans-Georg Stümke (1941 – 2002)

Am 29. September 2002 starb in Berlin der Historiker, Publizist und Schwulen-Aktivist Hans-Georg Stümke.

Ein junger Schüler wird wieder einmal von seinen Mitschülern gehänselt. Einer jedoch springt ihm bei, des öfteren.
Der gehänselte Schüler hieß Hans-Georg, der ihm helfende heißt Gerhard. Gerne erzählte Hans-Georg Stümke die Anekdote, wie der Mit-Schüler Gerhard Schröder, der spätere Bundeskanzler, ihn in seiner Jugend unterstützte.

Hans-Georg Stümke wurde am 16. September 1941 in Königsberg geboren. Er wuchs in Celle auf, machte später auf dem zweiten Bildungsweg Abitur und studierte Geschichte in Berlin. Zunächst war Hans-Georg Stümke aktiv im ‘Kommunistischen Bund’ KB, engagierte sich bald in der westdeutschen Schwulenbewegung. Als erster berichtete er, gerade aus einem Urlaub in New York zurück,  in der westdeutschen Homo-Presse über eine Schlägerei – über die Aufstände im Stonewall Inn gegen Polizei-Verfolgung.

Besondere Bedeutung erlangte Stümke mit einem Buch – erstmals überhaupt dokumentierte er umfassend, wie homosexuelle Männer in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verfolgt, unterdrückt und vernichtet wurden, schrieb über Nazi-Terror gegen Homosexuelle:

Hans-Georg Stümke, Rudi Finkler: “Rosa Winkel, rosa Listen: Homosexuelle und ‘gesundes Volksempfinden’ von Auschwitz bis heute” (1981)

Stümke engagierte sich besonders bei der Realisierung des Hamburger Schwulenzentrums ‘Magnus-Hirschfeld-Zentrummhc – und war verbittert, dass die Kölner Schwulen und Lesben ihr bald darauf eröffnetes Zentrum SchuLZ aus wohlüberlegten Gründen nicht ebenfalls nach Magnus Hirschfeld benennen wollten.

Stümke prägte wesentlich mit die Unterscheidung zwischen vermeintlich unverbindlich agierenden ‚Spontis‘ und kontinuierlich ernsthaft aktiven ‚Kontis‘ (er sich selbst selbverstandlich zu letzteren zählend).

Bekanntheit erlangte später eine Kunstfigur Stümkes, sein ‘alter ego’ ‘Elvira Klöppelschuh’ mit ihrem Roman “Elvira auf Gran Canaria” (1994) – Stümke verbrachte seine Urlaube besonders gerne auf der Insel.

Hans-Georg Stümke starb am 29. September 2002, kurz nach seinem 61. Geburtstag, in Berlin an Krebs. “Ein Darling konnte er niemals sein“, begann Jan Feddersen seinen Nachruf auf den verstorbenen Weggefährten, und ergänzt “Hans-Georg Stümke darf als Nervensäge beschrieben werden.” Und prägte schon damals einen “-isten” (wie später den unsäglichen “Menschenrechtist”): “Stümke – das war ein, wenn es das Wort gäbe, Schwulist“.

Hans-Georg Stümkes Grab befindet sich auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin (Haupteingang, erstes Feld rechts des Hauptweges).

Hans-Georg Stümke, Grab in Berlin
Hans-Georg Stümke, Grab in Berlin
Hans Georg Stümke Grab 2018
Hans Georg Stümke Grab 2018

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Kennengelernt haben wir uns 1982/83, in der Phase der Gründung des Magnus Hirschfeld Centrum in Hamburg, als es u.a. um die Frage ging, ob die Schwul-Lesbische Schüler- und Jugendgruppe Schwusel (in der ich damals aktiv war) sich am MHC beteilige.

Was haben wir damals in Köln debattiert, bitter gestritten um den Namen des Schwulen- und Lesbenzentrums- und dann mit einem Wettbewerb den Namen ‚SCHULZ‚ gefunden, der sich passenderweise auch noch aus den von der Vorbesitzerin hinterlassenen Buchstaben des 50er-Jahre Neon-Schriftzugs ‚Tanzschule Meyer‘ bilden ließ – viel zu banal, unverständlich für Hans-Georg, zudem von ihm als unpolitisch empfunden.

Hans-Georg war zutiefst empört über unsere ‚unpolitische‘ Namenswahl – kam aber doch mich in Köln besuchen, und auch Ende 1989 zu einer Veranstaltung ins SCHULZ im Rahmen der ‚Antifa-Veranstaltungsreihe‚ „Gewalt gegen Schwule und Lesben – Nährboden für Faschismus?„.

Mitte der 1990er Jahre wurden unsere Kontakte seltener – zu sehr war ich im Aids-Aktivismus engagiert, mit dem wohl er nur wenige (politische) Berührungspunkte empfand.

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Virus-Mythen : die neue Sorglosigkeit

Neue Sorglosigkeit ? Die Menschen (ersatzweise: die Schwulen, ersatzweise: verantwortungslose Positive) sind wieder so sorglos im Umgang mit HIV und Aids – so wird immer wieder behauptet, besonders gerne um Schock-Kampagnen wie jüngst die ‚Massenmörder-Kampagne‚  zu ‚legitimieren‘.

Die neue Sorglosigkeit im Umgang mit HIV – gibt es sie?
Wie sieht die Realität aus?
Sind die Menschen in Deutschland sorgloser geworden?

„Nein. Die sinkende Gefahreneinschätzung geht mit der realistischen Erkenntnis einher, dass Aids nur dann gefährlich ist, wenn man sich nicht schützt. Aber das tun die Menschen immer besser“,

sagt Prof. Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Und ergänzt

„Die große Mehrzahl der Menschen verhält sich verantwortungsbewusst.“

Zu den HIV-Neuinfektionsraten betont Pott ebenso wie jüngst Dr. Dirk Sander (DAH):

„Nirgendwo sonst [in Europa, d.Verf.] sind die Infektionsraten so niedrig.“

weitere Informationen:
SZ 24.09.2009: Interview Elisabeth Pott: „Deutsche sind nicht sorgloser“
DAH-Blog 11.09.2009: Interview Dr. Dirk Sander: Laien beurteilen Schock-Kampagnen als wirksamer

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was ist eigentlich so ’schlimm‘ an Sorglosigkeit? -> Sorglosigkeit und die Rettung der Lüste

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Geschichten und Geschichte – Vergessen macht sich breit …

„Keine Atempause – Geschichte wird gemacht – es geht voran“, sangen ‚Fehlfarben‘ (auf ‚Monarchie und Alltag‚) im Jahr 1980. Ein Jahr später werden erste Fälle einer Erkrankung festgestellt, die später als Aids bezeichnet wird.

„Keine Atempause – Geschichte wird gemacht.“
Und wie weiter?
„Spacelabs falln auf Inseln, Vergessen macht sich breit, es geht voran.“

Zwar fielen bisher meines Wissens keine Spacelabs auf Inseln. Aber Vergessen macht sich tatsächlich breit, allenthalben. Es geht voran, scheinbar, indem wir über unsere eigene Geschichte hinweg gehen, vergessen. Vergessen unserer Aids-Geschichten. Vergessen unserer Geschichte.

Inzwischen sprechen wir munter von „altes Aids“ im Unterschied zu „neues Aids“ – doch was das hieß, „altes Aids“, das gerät abseits einiger immer wieder gern präsentierter Klischees und Mythen zunehmend in Vergessenheit.

Warum?
Wie gehen wir mit unserer eigenen Geschichte um?
Wann wird Erlebtes zu Geschichte?
Sind diese, unsere  Geschichten überhaupt erzählbar?
Ist diese Geschichte überhaupt vermittelbar?

Sind diese Fragen bedeutend?

Wer wenn nicht wir soll diese Geschichte(n) erzählen? schreiben?
Und wer aufarbeiten?

Wer, wenn nicht wir?

Wenn wir nicht unsere eigenen Geschichten aufschreiben, unsere eigene Geschichte schreiben, werden andere es irgendwann tun. Auf ihre Weise. Werden dabei ihre eigenen Bilder (die nicht unsere sind) transportieren, auch ihre pejorativen Bilder.

Doch – es ist unsere Geschichte!
Erzählen wir sie aus unseren Blickwinkeln!

Denn sonst …

Hegel konstatiert in seinen ‚Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte‘, dass Geschichte immer zweimal stattfinde. Und sein Schüler Karl Marx verfeinert im ‚Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte‘, Geschichte wiederhole sich “ das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce“.

Dann lasst uns vorher unsere Geschichte(n) erzählen, all die Tragödien, all die schönen, schmerzvollen, erfolgreichen, vorzeitig abgebrochenen … Geschichten …

Den  Anfang im „unsere Geschichte(n) erzählen“ macht ein positiver Mann aus Berlin, Nikolaus Michael, der in den nächsten Wochen hier in vier Texten einen Teil seiner Geschichte(n) erzählt …

1. Die ‚Totenbank‘
2. Stress im Krankenhaus
3. Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe
4. Drei Engel

Ich würde mich freuen, wenn möglichst viele Leser dies zum Anlass nehmen, selbst ihre HIV-positiven Geschichte(n) zu erzählen – und bei Interesse auch andere lesen lassen. Ich biete dafür auf ondamaris gerne Zeit und Raum [und bei genügend Interesse auch gerne eine eigene Rubrik „unsere Geschichte(n)} – wer mag, sende mir eine Mail mit seinen Texten, ich melde mich baldmöglich …

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Text 14. April 2017 von ondamaris auf 2mecs

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Leben mit HIV in Polen

In Polen findet derzeit das 13. nationale Treffen von Menschen mit HIV und Aids statt, unter Beteiligung auch einer kleinen deutschen Delegation aus Selbsthilfe und Aids-Hilfe.

Folgende offiziellen Zahlen kennzeichnen die HIV-Situation in Polen:

  • Derzeit (Stand 1. Halbjahr 2009) leben in Polen 12.268 Menschen mit HIV.
  • 5.490 von ihnen stammen aus der Gruppe der i.v.-Drogengebraucher/innen; 30% sind Frauen; 134 Kinder.
  • Insgesamt 2.246 Menschen sind an Aids erkrankt.
  • Zwischen 1985 und 2009 sind bisher 1.004 Menschen in Polen an den Folgen von Aids verstorben.
  • Jährlich wird bei etwa 550 bis 750 Menschen neu eine HIV-Infektion diagnostiziert.
  • 4.105 HIV-Positive in Polen erhalten derzeit antiretrovirale Therapie.

Der Bereich Aids sieht sich dabei immer wieder vor Herausforderungen. So sei eine Präventions-Kampagne auf große Schwierigkeiten in den Medien gestoßen, sei nur auf MTV gelaufen. Gerade im öffentlich-rechtlichen Rundfunk hingegen sei man oft der Aussage begegnet, diese Kampagne „passe nicht zum Programm“. Eine Studie zum Bereich der Männer, die Sex mit Männern haben, sei an Aids-Zentren geplant gewesen, habe aber aus Mangel an Mittel unterbleiben müssen, berichtet Anna Marzec-Bogulawska, die Leiterin des staatlichen Nationalen Aids-Zentrums.

Alle HIV-Infizierten erhalten ihre medizinische Versorgung nicht (wie z.B. in Deutschland) im Rahmen der medizinischen ‚Normal-Versorgung‘ bei Ärzten, sondern in speziellen Aids-Zentren.An diesen speziellen Aids-Zentren erfolgt nicht nur die medizinische Behandlung, hier werden auch Medikamente ausgegeben. Bei nur elf Aids-Zentren im ganzen Land bedeutet dies für viele HIV-Positive, bei jeder Behandlung, bei jedem Medikamenten-Bedarf eine weite Anreise von z. T. mehr als 150 km in Kauf nehmen zu müssen.
Seit 2009 ist im Rahmen eines neuen Projekts erstmals auch eine Beratung HIV-positiver Menschen per E-Mail möglich, bei Bedarf auch anonym.

Im Budget des polnischen Gesundheitsministeriums standen in den vergangenen Jahren folgende Beträge für die antiretrovirale Behandlung zur Verfügung:

  • 2004: 78 Mio. Zloty (für die Behandlung von 2.250 Patienten)
  • 2006: 108 Mio.
  • 2007: 95 Mio.
  • 2008: 153 Mio.
  • 2009: geplant 114,3 Mio. für geplant 3.822 Patienten.

Sowohl das Budget für die antiretrovirale Behandlung als auch für die Aids-Zentren selbst ist immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Aufgrund des begrenzten Budgets der Aids-Zentren ist es in der Vergangenheit auch zu Problem in der Medikamenten-Versorgung gekommen. So wurden in der Presse Fälle berichtet, in denen Positive nur den Medikamenten-Bedarf für 2 Wochen ausgehändigt bekommen konnten, aufgrund nicht ausreichender Vorräte. Vereinzelt wurde berichtet, dass Prophylaxe gegen opportunistische Infektionen nicht möglich gewesen sei aufgrund fehlender Gelder.

Die Aids-Zentren bemühen sich auch um politische Lobby-Arbeit, Gespräche mit dem Ministerium etc. Auch vor dem Hintergrund der angespannten Mittel-Situation, so wird mehrfach deutlich, ist es jedoch wichtig, dass politischer Druck nicht nur von diesen staatlichen Zentren kommt, sondern dass Menschen mit HIV auch selbst ihre Interessen und Bedürfnisse formulieren und äußern, und vor allem auch über diskriminierende Erfahrungen berichten. Dies gelte, so wird mehrfach erläutert, umso mehr, als gesetzliche Aufgabe der Aids-Zentren eigentlich nur die medizinische Versorgung sie, Befugnisse, auch den Bedarf zu formulieren habe man jedoch nicht.

95% des für Aids bereitgestellten Budgets werden verwendet für die medizinische Versorgung, nur 5% (etwa 200.000 Zloty) stehen für alle Aids-Zentren in Polen pro Jahr für Prävention zur Verfügung.

Das geringe staatliche Aids-Budget stellt die Aids-Zentren des Landes jedes Jahr vor neue Herausforderungen. Nicht nur,dass die Zentren sich immer wieder in einem Spannungsfeld bewegen aus begrenztem Budget und Patienten, die dringend ihre Medikamente benötigen. Die einzelnen Zentren können sich zudem auch aus diesem Grund nur vergleichsweise langsam entwickeln, an veränderte Bedürfnisse anpassen. Besonders prekär: die jährlichen Streichungen. Bei 7% Budget-Kürzungen im Jahr 2008 und sogar 19% im Jahr 2009 stellt sich jedes Jahr erneut die Frage des „wo streichen“.

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Text 22. Februar 2017 von ondamaris auf 2mecs

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Virus-Mythen : die Infektionszahlen in Deutschland seien so hoch

Immer wieder wird kolportiert, in Deutschland seien die HIV-Infektionszahlen so hoch, die Aids-Zahlen am Steigen. Wie sieht die Realität aus? Anders …

Fragen wir ‚EuroHIV‘, das ‚European Centre for the Epidemiological Monitoring of AIDS‘, eine offizielle Einrichtung der Europäischen Union.

Die Antwort fällt sehr eindeutig aus. Hier zwei Grafiken, beide © EuroHIV und aus der Analyse ‚ The HIV/AIDS epidemic in the WHO European Region at end 2006 – Western Europe‘:

HIV in Western Europe (c) EuroHIV
HIV in Western Europe (c) EuroHIV

AIDS in Western Europe (c) EuroHIV
AIDS in Western Europe (c) EuroHIV

Ein Vergleich der HIV-Inzidenz-Daten Europäischer Staaten bei der WHO ergibt dieses Bild (Datenabfrage 13.09.2009):

HIV-Inzidenz ausgewählter Europäischer Staaten 1998 - 2006 (c) WHO
HIV-Inzidenz ausgewählter Europäischer Staaten 1998 – 2006 (c) WHO

Zahlreiche weitere Zahlen sind bei EuroHIV sowie bei der Weltgesundheitsorganisation WHO recherchierbar (siehe Links unten).

Ob mangels besseren Wissens, oder gar wider besseres Wissen, die Aussagen,

  • in Deutschland seien die HIV-Infektionszahlen besonders hoch oder stark gestiegen,
  • in Deutschland stürben besonders viele Menschen an den Folgen von Aids,
  • oder gar die Deutsche Aids-Prävention sei gescheitert,

zeigen hier ihre Haltlosigkeit: sie lassen sich argumentativ aus den vorhandenen Fakten nicht untermauern. Sie sind grundlos. Sie sind wahrheitswidrig. Sie sind nicht zutreffend.

Im Gegenteil:

  • zwischen 1999 und 2006 hat Deutschland laut Vergleich von EuroHIV in West-Europa durchgängig die niedrigste Rate an HIV-Neudiagnosen pro Millionen Einwohner, und
  • zwischen 1988 und 2006 hat Deutschland, ebenfalls laut EuroHIV, in West-Europa die niedrigste Zahl an Aids-Diagnosen pro Millionen Einwohner, und
  • im Vergleich wichtiger EU-Staaten (EU vor Erweiterung) hat Deutschland mit 3,24 HIV-Fällen pro eine Million Einwohner die niedrigste Inzidenz.
    Zahlen, die eher auf eine insgesamt erfolgreiche Aids-Politik hindeuten …

weitere Informationen:
HIV Europe
dort z.B. ‚Slides set The HIV/AIDS epidemic in the WHO European Region at end 2006‘ (pdf)

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Text 14. April 2017 von ondamaris auf 2mecs