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Erinnerungen Paris

Einige Tage mit dir – 4. Tristesse in Pigalle

Ein kalter Tag im Februar 1990. Jean-Philippe ist seit gestern wieder in der Klinik. Abends erreiche ich nur Syriac am Telefon, der kurz angebunden ist, aufgeregt wirkt, von der Arbeit kommend gerade zur Klinik aufbrechen will als ich anrufe. Diesmal sei Jean-Philippe jedoch in einer Privatklinik, die städtische Klinik vorher habe ihm so gar nicht gefallen.
Ich möchte ihn sehen, zu ihm fahren, ist mir sofort klar, diesmal ohne Bauchschmer­zen, ohne Ängste, ohne Hin- und Hergerissensein. Selbstver­ständlich könne ich solange im Gästezimmer wohnen, Syriac ist unkompli­ziert wie meist. Und wohl auch froh angesichts einer möglichen Entlastung. Sechs Tage die Woche arbeitet er tagsüber in einer Immobilien-Agentur, kann sich weniger um Jean-Philippe kümmern als er gerne würde. Am Abend des nächsten Tages sitze ich im Nachtzug nach Paris. Habe mit irgendei­ner fadenscheinigen Begründung kurz­fristig einige Tage frei ge­nommen.

~

Unerträglich langsam quält sich der Nachtzug durch Belgien. Wir kom­men kaum voran, scheint mir.

Die französische Grenze muss scheinbar schon passiert sein, der Zug ist endlich schneller geworden. Ich bin wohl etwas eingenickt. Müde reibe ich mir die Au­gen, halte beide Hände neben meinem Gesicht an die Scheibe, vielleicht lässt sich so etwas vom ‚draußen‘ erahnen. Nein, außer gelegentlichen vorbei­huschenden Lichtern nichts zu sehen. Wir rasen durch anonyme nordost-fran­zösische Landschaften. Der Wagen rattert. ‚Paris, Paris‘ scheint seine Melodie zu sein.

Irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr am Morgen. Zermar­tert komme ich am Gare du Nord an. Immerhin, ich kann mich nicht an die letzten zwei drei Stunden erinnern, keinen Halt, keine Station. Irgendwann muss ich wohl doch vor Müdigkeit eingeschlafen sein. Meine Gelenke schmerzen. Bequem ist es nicht, billig mit Sitzplatz statt im Liegewagen nach Paris zu fahren.

Noch ist es viel zu früh, um in die Klinik zu fahren. Zwei oder drei der Touris­ten-Cafés gegenüber dem Bahnhof haben bereits geöffnet. Ich kaufe mir eine Tageszeitung, setze mich in eines der Cafés. Einen Tee, ein Croissant, erstmal richtig wach werden. Ein angenehmes Ankommen in der Stadt sieht anders aus. Müde dreinschau­ende Menschen auf der Straße, zügig zur U-Bahn-Station oder zum Bahnhof ei­lend. Durch riesige Eingänge verschlingt sie der graue, heute morgen besonders trist dreinschauende Bahn­hof.
Weiter hinten im Café röhrt es unruhig, eine farbige Putzfrau schiebt ein Reini­gungsgerät hin und her. Der Geruch starker Putzmittel zieht leise durch den Saal. Was tue ich hier? Klar, warten. Warten dass die Zeit vergeht, dass die Uhr endlich sagt dass ich zur Klinik, zu Jean-Philippe aufbrechen kann. Ungeduld. So unruhig wie die Fahrt im Nachtzug sind auch meine Gedanken, Ängste, Gefüh­le. Was kommt gleich auf mich zu? Wie mag es Jean-Philippe wohl gehen? Wie wird es sein, ihn im Krankenhaus wiederzusehen?

Die Zeiger der Bahnhofsuhr gegenüber gehen gemächlich auf sieben Uhr zu. Ich lege einige Franc auf den Bistrotisch, nehme meinen Rucksack. Zurück zum Bahnhof gegenüber, hinunter in den Schlund, der nun auch mich verschluckt, auf der Suche nach der richtigen U-Bahn-Linie.

Schon wenige Minuten später wirft mich die Metro wieder aus. ‚Pigalle‘, Asso­ziationen an französische Chansons, Filmszenen flackern auf, Ideen und Bilder eines Viertels von Paris, das ich bisher kaum kenne.

Place Pigalle (Foto: Jean-Alexis Aufauvre)
Place Pigalle (Foto: Alex, Lizenz cc by-sa 3.0)

Place Pigalle, Paris IXe, France – AlexCC BY-SA 3.0

Erste Blicke, oben angekommen, irritieren. So sieht also eine Lasterhöhle aus? Eine dreckige Straßenkreuzung, Passanten strömen auf die Metrostation zu, andere aus ihr hinaus. Karge, abweisende Häuser, die meisten im Erdgeschoss mit hinunter gelassenen Rollläden, nur ein ‚Bar Tabac‘ und ein Café haben be­reits geöffnet. An der Ecke gegenüber alte Neonreklamen, aussehend als hätten sie ihr letztes Licht schon vor Jahren von sich gegeben. Eine schmuddelige, heruntergekommen wirkende Ecke, die so gar nichts mit den Bildern meiner Phantasie gemein hat.

Syriac hat mir den Weg zur ‚Clinique Henner‘ beschrieben. Die Rue Henner ist eine klei­ne ruhigere Seitenstraße an Pigalle. Eng stehen vier- und fünfgeschossige Wohnhäuser des 18. und 19. Jahrhunderts nebeneinander, bürgerlicher, wohliger als an der prominenten Kreuzung. Wo hier eine Klinik sein soll scheint mir unklar. Nirgends ein größeres, moderneres Gebäude zu sehen. Schließlich finde ich die Adresse, die Syriac mir genannt hat. Allein, hier ist weit und breit kein Krankenhaus. Kein großes Eingangsportal, keine Krankenwagen-Auffahrt, keine Taxis, nichts. Mehrmals gehe ich die Stra­ße suchend auf und ab. Eher zufällig entdecke ich schließlich an einem dieser beige-braunen Wohnhäuser einen Hinweis. Ein Mes­singschild ‚Clinique Henner‘, nicht größer als ein Hinweisschild für eine Arztpraxis, sagt mir dass ich tatsächlich richtig bin. Ich wundere mich ein wenig, kann das seriös sein, so eine kleiner Eingang? Wenn die ganze Klinik so mickrig ist, wie wollen die dann auf Aids-Patienten spezialisiert sein? Nun denn, erstmal hinein.

So leer und ruhig wie die Straße ist auch der Eingang der Klinik. Wenig mehr als ein etwas breiterer Hausflur. Hinten rechts entdecke ich ein Glasfenster, da­hinter scheint sich die Rezeption zu verbergen. Irritiert sieht mich die junge Frau an, als ich zaghaft an die Scheibe klopfe. Zimmer 314, dritter Stock, da drüben sei der Lift, erfahre ich. Und einen mah­nenden Hinweis, es sei aller­dings noch sehr früh. „Ich weiß“, entgegne ich ihr, „ich komme gerade aus dem Nachtzug.“ Als sei das eine Erklärung für die frühe Störung. Achselzuckend nimmt sie meine Antwort zur Kenntnis, schließt das Fenster wieder.

Dritte Etage. Leise öffnen sich die Türen des kleinen Lifts. Lange Flure zu beiden Seiten, Linoleum-Boden, mehrere gläserne Türen teilen einzelne Berei­che ab. Am Ende des Flurs in einer Ecke finde ich Zimmer 14. Soll ich schon hinein ge­hen? Schließlich, es ist gerade einmal halb acht, reichlich früh für einen Kran­kenbesuch. Andererseits, ich kann ja mal leise schauen. Ich klopfe zaghaft. Klopfe, nach­dem keine Reaktion kommt, noch einmal. Nichts zu hören. Schläft er noch? Wahrscheinlich.
Ich versuche, leise die Klinke zu drücken. Sie quietscht, als wolle sie meinen Versuch sabotieren. Die Tür gibt den Blick frei in ein kleines Einzelzimmer, in der gegenüber liegen­den Ecke ein zweiflügeliges Fenster, auf einen Innenhof zeigend. Davor ein Bett. Erst jetzt sehe ich ihn, tief eingemummelt in seiner Bettdecke, nur sein Kopf lugt auf der dem Fenster zugewandten Seite heraus. Jan-Philippe scheint noch zu schlafen.
Leise stelle ich meinen Rucksack neben dem Bett ab. Schaue mich um, gibt es hier einen Stuhl, irgend etwas wo ich warten kann, bis er wach wird? Das Bett knarrt, er bewegt sich, dreht sich um. Öffnet verschlafen die Augen, nur ganz wenig, als würde die morgendliche Sonne ihn blenden.
Eine Sekunde, dann ein Grinsen, ein Lächeln um seine Lippen, „Ulli, c’est toi? C’est vrai? Tu est là …“. Ungläubig, voller Freude strahlt sein müdes Gesicht mich an.
„Hey, schön dich wieder zu sehen!“ Ich gehe an sein Bett, gebe ihm einen Kuss auf die Stirn.
Er greift nach einem Haken, der an einem verchromten Arm seitlich am Bettge­stell angebracht ist, zieht sich daran im Bett hoch, bis er beinahe aufrecht sit­zt. „Hey, wieso bist du denn hier? Und dann um diese Uhrzeit?“ Er ist plötzlich ganz aufge­regt, völlig wach trotz seiner verschlafenen Augen.
Überraschung gelungen, Syriac hat ihm anscheinend nichts von unserem Tele­fonat und meinen spontanen Reiseplänen erzählt. „Na, dachtest du ich lass dich hier mutterseelenallein, und dann mitten im Nut­ten-Viertel Pigalle?“
Er muss lachen, fasst sich aber gleich an die Brust, scheint Schmerzen zu ha­ben. Wir umarmen uns. Er legt seinen Kopf an meine Brust, fast wie damals an der Nordsee. ‚Mein Gott, dieses ‚damals‘, das ist doch erst Wo­chen her‘, schießt es mir durch den Kopf.
„Mensch, was freu ich mich, dass du hier bist!“ Er schaut mir in die Augen, und ich versinke in seinem Blick.
„Hab ich dich geweckt?“
„Ach Quatsch. Ich verbring doch eh den halben Tag mit Schlafen und Dösen, was soll man denn hier schon mehr machen.“

Immer noch grinst mich Jean-Philippe breit an. „Ja! Und? Wie war die Fahrt?“ Ich muss auch grinsen. Welche Frage. Als gäbe es nichts wichtigeres.
„Und, willst du gar nicht frühstücken?“ Ich deute auf das Tablett auf dem Nachttisch.
„Keinen Hunger.“ Das Grinsen weicht aus seinem Gesicht.
„Du siehst ziemlich eingefallen aus, wenn ich ehrlich sein soll. Meinst du nicht, es wär‘ gut, zumindest ein wenig zu essen? Kraft kannst du jetzt gut gebrau­chen.“ Ich versuche, ihm möglichst sanft das Essen etwas näher zu bringen.
„Ich weiß, ich weiß“, sagt er zu meiner Überraschung. „Ich hab schon zu hause auf der Wage gesehen, dass ich wieder einige Kilo verloren habe. Aber das?“, er zeigt auf den Teller.
Auf dem Tablett sehe ich die halb leer getrunkene Tasse Tee, einen zerquetsch­ten Teebeutel daneben. Einen Apfel, einen Teller, darauf einige Stücke ge­toastetes Baguette und zwei Portionspackungen Marmelade. Zwar nicht viel für meinen Geschmack, aber sieht doch eigentlich ganz lecker aus. Ich sehe ihn ahnungslos an.
„Das da“, und nebenbei lerne ich so das französische Wort für Zwieback, „kann ich nicht essen. Kratzt viel zu sehr im Hals.“
Er macht seinen Mund weit auf. Zeigt mit seinem Zeigefinger auf seine Zunge.
Ein Blick, und ich verstehe. Beinahe alles ist weiß, Zunge und Gaumen sind von einer pelzigen weiß-grauen Schicht überzogen. „Du hast Pilz!“
„Im Rachen auch“, ergänzt er.
Kein Wunder, dass er das knochentrockene ge­toastete Baguette nicht essen kann. Zwieback geht gar nicht, nicht mit Pilz im Rachen. Gedankenlosigkeit des Personals? Uner­fahrenheit?
„Bekommst du Medikamente dagegen?“
Er zeigt auf die Nachttisch-Schublade, in der einige Pillen in einem großen Plas­tik-Schieber liegen. „Wirkt aber nicht. Soll heut Nachmittag was anderes be­kommen, angeblich ganz neu zugelassen.“
„Aber trotzdem musst du doch jetzt was essen“, beharre ich.
„Ich weiß“, nickt er still. „Aber das war gestern auch schon so. Da hab ich das Frühstück gleich wieder zurück gehen lassen, hab nur den Tee getrunken.“
„Moment mal, da muss es doch was anderes zu essen gehen.“
Er schaut mich verunsichert an, während ich aufstehe.

Einige Zimmer weiter treffe ich auf eine der Stationsschwestern. Eine nette far­bige sehr korpulente Frau, wohl etwa in unserem Alter.
‚Champignon‘, das französische Wort, das wir für einen bestimmten Speisepilz verwenden, in Frankreich bezeichnet es auch diverse Pilzerkrankungen. Welche bittere Ironie, Nahrung und Unmöglichkeit zu essen so nahe in einem Wort bei einan­der. Ich schiebe meine Gedanken beiseite. Versuche ihr in meinem nicht allzu guten Französisch zu erklären, dass er mit einem Rachen voller Pilz wohl un­möglich trockenen Zwieback essen könne.
Zunächst sieht sie mich ungläubig an, lacht aber immer wieder, als würden sie meine lebhafter werdenden Gesten erheitern. War das mit dem ‚Champignon‘ doch verkehrt? Nein, plötzlich grinst sie. Ich muss wohl sehr rat­los dreingeschaut haben.
„Ist schon gut, ich glaub ich hab verstanden, der Zwieback kratzt so, dass er ihn nicht mag.“
Erleichtert atme ich auf.
„Geben Sie mal her“, sie nimmt mir das Tablett ab, „ich werd mal sehen was ich machen kann.“

Nach einer halben Stunde, Jean-Philippe kommt gerade von der Morgenwäsche aus dem Bad, klopft sie an die Zimmertür. Bringt ein neues Tablett herein. Dar­auf ein Teller mit einigen Scheiben ungetoastetem Weißbrot, etwas Marmelade, eine kleine Packung Obst-Kompott, ein Becher Joghurt, eine Tasse Kraftbrühe.
„Speziell für Sie!“ Sie lacht Jean-Philippe über ihr ganzes Gesicht an. „Und alles aufessen!“ Sie versucht streng zu wirken und muss doch selbst lachen.
„Ich hab Ihrem Bekannten gleich einen mitgebracht.“ Sie zeigt auf einen zweiten Becher. „Muss dann mal weiter, viel zu tun heute Morgen!“
„Klasse, vielen Dank“ rufe ich ihr hinterher, während sie schon wieder durch die Tür entschwindet.

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In den nächsten Tage pendele ich fast nur zwischen der Wohnung von Syriac und Jean-Philippe und der Place Pi­galle. Syriac arbeitet tagsüber, so dass wir schon am ersten Abend gemeinsam mit Jean-Philippe eine Art Aufgabenteilung vereinbaren. Morgens, nach dem Früh­stück, fahre ich in die Klinik, um zusammen mit Jean-Philippe den Tag zu verbrin­gen. Abends, nach seiner Arbeit, kommt dann Sy­riac, bleibt in der Klinik bis Jean-Philippe einschläft. Am nächsten Morgen über­nehme ich wieder.

So vergehen die Tage. Jean-Philippe bekommt erstaunlich wenig Besuch. Seine Mut­ter, sein kleiner Bruder. Einige wenige Freunde, die ich teils bereits kenne. Sein Vater nicht, ‚um Himmels Willen‘ bekomme ich zur Antwort, als ich danach fra­ge.

Die meiste Zeit verbringt Jean-Philippe im Bett; er hat nur wenige Untersuchungen oder Arzt-Visiten. Vertreibt sich die Zeit, hofft auf Besserung, darauf dass die Medi­kamente zu wirken beginnen.
Wir unterhalten uns viel in diesen Tagen, über sein Leben, seine Arbeit, wie er Syriac kennen gelernt hat. Über mein Leben, Frank, meinen Job. Über mein Engagement bei ACT UP Köln, das er nicht verste­hen kann, ab­lehnt. Zu aggressiv, findet er. Militantes Auftreten, das versucht er mir in teils hefti­gen Diskussionen klar zu machen, das bringe doch gar nichts, loh­ne sich nicht, das sei der falsche Weg die Dinge zu ändern. Klar, auch in Frankreich werde bei wei­tem nicht genug für Infizierte und Kranke unternom­men. Mit Gesprächen, Petitionen, Diskussionen, damit könne man doch viel mehr erreichen. Aber ACT UP? Das sei doch viel zu radikal. Wir würden doch gerade die verprellen, deren Hilfe wir bei der Lösung der Probleme benö­tigten.

Die Abende verbringe ich meist zuhause. Zuhause, dazu ist die Wohnung von Syriac und Jean-Philippe geworden, wenn auch nur zeitweise, behelfsmäßig, und ohne das Gefühl des Zuhauseseins.
Rosalie, Jean-Philippe und Syriacs Katze, streift um meine Beine, schnurrt zu­frieden, während ich sie vorsichtig kurz kraule. Hatte Rosalie mich in den ersten Tagen noch misstrauisch beäugt, Abstand ge­halten, so hat sie inzwischen längst vorsichtig, je­den Tag ein wenig mehr, Vertrauen zu mir gefasst. Liegt nun abends oft zu meinen Fü­ßen, wenn ich im Sessel sitze, irgendein französischer Fernsehkanal läuft, oder ich am Minitel mit wildfremden Männern chatte. Jean-Philippe, der einige Tage später aus der Klinik entlassen wird, grinst, als er hört wie ich die Katze ‚Toxe‘ rufe.

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Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?

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Politisches

Gene Sharp (1928 – 2018): Die Macht – Frage

Gene Sharp wurde am 21. Januar 1928 in North Baltimore (Ohio) geboren. Sehr bekannt ist Gene Sharp außerhalb der Politikwissenschaften nicht – sein Einfluss auch auf jüngste politische Entwicklungen allerdings ist teilweise erheblich. Gene Sharp ist einer der Väter der ‚gewaltfreien Aktion‘ als Form politischen Engagements. Sharp starb am 28. Januar 2018.

Macht ist das Ergebnis einer Übereinkunft. Ausüben von Macht setzt das stillschweigende Zustimmen der (oft ’schweigenden‘) Mehrheit voraus. Herrschaftstechniken diesen dazu, diese schweigende Zustimmung zu sichern und als ‚unausweichlich‘ aufrecht zu erhalten. Wenn aber die Beherrschten erkennen, dass sie selbst es sind, die den Herrschern die Macht (sie zu beherrschen) verliehen haben, habe sie das Werkzeug in der Hand – eine Herrschaft so zu gestalten, dass sie ihren Interessen dient.

Mittel der Wahl dazu ist die ‚gewaltfreie Aktion‘. Hierzu gehören gewaltfreier Protest und Überzeugung, soziale Nichtzusammenarbeit, Boykott- und Streikaktionen, politische Nichtzusammenarbeit sowie gewaltfreie Intervention – mit Formen, die von Flugblättern über Sit-Ins bis Straßentheater und ‚Dienst nach Vorschrift‘ reichen.

Die sind die zentralen Gedanken zweier wesentlicher Werke von Gene Sharp – ‚the politics of nonviolent action‚ (1973) und ‚from dictatorship to democracy‚ (2003).

Beide Werke gehören seit Jahren zum ’ständigen Inventar‘ zahlreicher Freiheitsbewegungen, inspirierten Blogger und Aktivisten, waren Ideengeber für zahlreiche Jugend- und Protestbewegungen, von Serbien (Otpor / Sturz Milosevics) über die Ukraine bis zu jüngsten Bewegungen in Tunesien (Sturz Ben Alis) oder Ägypten (Sturz Mubaraks). Vorbild Sharps, besonders seines wichtigsten Werks zu gewaltfreier Aktion: Mahatma Gandhi und sein Kampf für die Unabhängigkeit Indiens.

1983 gründete Gene Sharp mit finanzieller Unterstützung eines befreundeten Investmentbankers die ‚Albert Einstein Institution‘ (AEI) – viele Jahre die zentrale Organisation zur Unterstützung von Aktivisten in Freiheits- und Demokratiebewegungen in zahlreichen Staaten weltweit.

Logo der Albert Einstein Institution (Screenshot)
Logo der Albert Einstein Institution (Screenshot)

Sharp selbst beschrieb seine Arbeit in einem Interview („Sie müssen das System verstehen„, SZ 24.02.2011):

Wir greifen nie ein und geben auch keine Ratschläge. Die Leute vor Ort müssen selber wissen, was sie tun„. Er betont „was zählt, sind die Ideen, die Kenntnis, der Plan“ – und kommentiert Passivität und Desinteresse lakonisch „wenn die Bevölkerung ihre Situation nicht ändern will, … dann wird sie nicht gewinnen„.

Gene Sharp war auch – in Deutschland kaum bekannt – einer der gedanklichen Väter eines der Handlungskonzepte von ACT UP. Die Aids-Aktionsgruppen ACT UP hatte viele Handlungsfelder – die künstlerischen Auseinandersetzungen z.B. durch Gruppen wie ‚General Idea‘ sind hierzulande recht bekannt. Die medialen Aktionen vielleicht auch noch. Eine der zentralen Punkte der Arbeit von ACT UP war jedoch immer auch die Gewaltfreiheit – und die Frage, wie kann man / frau effizient gewaltfreie Aktionen machen, und wie sich auch bei Gewalt der ‚Gegenseite‘ (die häufig vor kam) gewaltfrei verhalten? Mitglieder von ACT UP Gruppen in zahlreichen Ländern (auch in Deutschland, auch ich selbst) nahmen vielfach an Trainings zur Gewaltfreiheit teil – diese Trainings basierten auch auf den Konzepten von Gene Sharp. Und sein Konzept der Gewaltfreiheit und gewaltfreien Aktion waren auch ein Teil des damaligen Erfolgskonzepts von ACT UP.

Gene Sharp starb am 28. Januar 2018 in seinem Haus in East Boston, eine Woche nach seinem 90. Geburtstag.

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weitere Informationen:
The Albert Einstein Institution
Gene Sharp: From Dictatorship to Democracy (pdf)
Gene Sharp: The Politics of Nonviolent Action
Gene Sharp: Das politische Äquivalent des Krieges – die gewaltlose Aktion
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Politisches

Die Ronald-Reagan-Strasse von Berlin (akt.)

Ronald Reagan, der 40. Präsident der USA, wäre vor einigen Tagen 100 geworden. ‚Reaganiana‘, mit monatelangen Feierlichkeiten wird dieser Anlass nicht nur in den USA begangen. Auch in Deutschland forderten Politiker, Plätze oder Straßen nach Ronald Reagan zu benennen, so in Berlin die ‚ Ronald-Reagan-Strasse ‚..

Vergessen wurde dabei gerne, dass mit Reagan eine Person geehrt werden würde, die direkt für eine ignorante und desaströse Aids-Politik und indirekt (nicht nur) für Tausende Aids-Tote verantwortlich ist (gegen die sich ACT UP mit zahlreichen Aktionen wandte).

Auch in Berlin forderte der Senat die Bezirke auf, Vorschläge für Umbenennungen einzureichen. Nun ist scheinbar ein Reagan-Fan von sich aus aktiv geworden – über Nacht verwandelten sich die Kleine Alexander- und die Weydingerstraße in „Ronald-Reagan-Straßen“:

geehrter Aids-Ignorant? Ronald-Reagan-Strasse in Berlin (12.2.2011)
geehrter Aids-Ignorant? Ronald-Reagan-Straße in Berlin (12.2.2011; Foto: Andreas Günther)

Aus dem Vorschlag der CDU Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf, den Joachimsthaler Platz am Ku’damm (und nahe zur Berliner Aids-Hilfe …) in ‚Ronald-Reagan-Platz‘ umzubenennen, wird hoffentlich nichts. Die SPD-Fraktion jedenfalls wird gegen den Vorschlag stimmen, teilte der Fraktionsvorsitzende auf Anfrage mit.

Und auch die partisanenhafte ‚Ronald-Reagan-Straße‘ in Berlin Mitte ist hoffentlich nur eine sehr vorübergehende Erscheinung.

Die ‚BZ‘ betont „die Polizei ermittelt nicht.“
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Jetzt hat’s die BZ auch entdeckt: Spaß-Aktion: Volksbühne jetzt am Ronald-Reagan-Platz
und der Tagesspiegel einen Tag später: Pro & Contra – Braucht Berlin einen zentralen Platz für Reagan?
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Danke an Andreas für Hinweis und Foto!

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

ACT UP Paris: Co-Präsident Stéphane Vambre zurück getreten

Stéphane Vambre, Co-Präsident von ACT UP Paris, ist bereits am 16. September 2010 überraschend von seinem Amt zurück getreten, wie erst gestern bekannt wurde. “Unser Handeln ist von Wut aus Prinzip geprägt, nicht mehr von einer Wut der Kranken”, begründete Vambre seinen Schritt:

“Nos actions sont motivées par une colère de principe et non plus par une colère de malades.”

Seine Absicht sei nicht, einen ACT UP – internen Konflikt zu verursachen. Er habe sich lange Gedanken gemacht über seine Situation und die Funktionsweise von ACT UP Paris und seine Entscheidung reiflich überlegt.

Die Wut, die eigentlich die Aktionen von ACT UP treiben solle, richte sich derzeit eher nach innen. Statt des gemeinsamen Kampfes für die Rechte der Infizierten und Kranken stünden heute oft persönliche Ambitionen im Vordergrund. Demgegenüber sei es wichtig, diese Wut zukünftig wieder gegen die eigentlichen Gegner zu richten. Dazu forderte er eine demokratische Debatte.

Vambre kritisierte deutlich Art und Stil interner Prozesse. ACT UP sei entstanden als etwas wie die ‘Gewerkschaft der Kranken’ – doch heute sei die Stimme HIV-Positiver oft kaum noch zu hören, werde gar verspottet. “Unser Handeln ist von Wut aus Prinzip geprägt, nicht mehr von einer Wut der Kranken.

Der 37jährige Vambre, der öffentlich als “HIV-positiv und an Aids erkrankt” auftritt und sich seit vier Jahren bei ACT UP engagierte, war seit März 2009 Co-Präsident von ACT UP Paris. Am 11. April 2010 erst war er in einer Wiederwahl als Co-Präsident bestätigt worden. Er war gleichzeitig (bezahlter) Verwaltungs-Leiter der Gruppe. Die Pariser ACT UP Gruppe ist die älteste und einer der wenigen in Europa noch existierenden ACT UP Gruppen.

ACT UP Paris kommentierte Vabres Schritt in einer ersten Stellungnahme, man verstehe nicht, weswegen es nicht zu einer einvernehmlichen gemeinsamen Lösung gekommen sei. Eine offizielle Reaktion wurde am 12.10. bekannt. Dort benennt ACT UP Paris zahlreiche Handlungsfelder, denen man die Priorität einräumen müsse, “im Kontext einer katastrophalen Politik”, ohne weiter konkret auf den Rücktritt einzugehen.

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weitere Informationen:
Stephane Vambre im Tetu-Interview 03.05.2010: Stéphane Vambre: «Même si on est malade, on peut se dépasser dans l’effort» (etwa: “Auch wenn man krank ist, kann man sich Mühe geben”)
Yagg 05.10.2010: Exclusif: Stéphane Vambre quitte ses fonctions de co-président d’Act Up-Paris
Yagg 06.10.2010: Démission de Stéphane Vambre, co-président d’Act Up-Paris: « Nos actions sont motivées par une colère de principe et non plus par une colère de malades »
Yagg 12.10.2010: Act Up-Paris réagit officiellement à la démission de Stéphane Vambre de ses fonctions de co-président
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Text 18.02.2016 von ondamaris auf 2mecs

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Homosexualitäten

Ovo Maltine (1966 – 2005)

Ovo Maltine wurde geboren am 16. April 1966. Sie starb am 8. Februar 2005 in Berlin.

“Ovo (das Ei) legte sich ins Nest der Berliner Tuntenbewegung und brütete an verschiedenen politischen Projekten: Schwules Überfalltelefon, Act up, AIDS Benefize, Marihuana Legalisierung, Anerkennung von Prostitution als Beruf, Anerkennung der Gehörlosensprache, Transgender Visibility, …
Ovo Maltine war die erste Berliner Kabaretttunte, die sich 1998 zur Direktwahl zum deutschen Bundestag gestellt hat. Sie bekam 534 Stimmen, das waren mehr Menschen, als in ihrem Heimatdorf leben. Dort hätte sie Bürgermeister/in werden können.”

(spreedosen)

Ovo Maltine („das Ovo“) wurde am 16. April 1966 als Christoph Josten in Rech an der Ahr geboren. Am 8. Februar 2005 starb Ovo im Alter von 38 Jahren im AVK in Berlin an den Folgen von Aids.

Das Grab befindet sich auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof in Berlin Schölneberg. Die historische Grabstätte hatte Ovo bereits 2003 in Pflege übernommen und zur Patenschaft registriert.

Ovo Maltine Grab
Ovo Maltines Grab

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Es kommt nicht darauf an, wie sich eine Tunte bewegt, sondern was sie bewegt.
O. Maltine

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

ACT UP Comeback ?

In den USA treten 20 Jahre nach dem Höhepunkt dieser Form des Aids-Aktivismus wieder ACT UP – Gruppen mit Aktionen in Erscheinung. Ein ACT UP Comeback , wie POZ spekuliert?

Vor 20 Jahren war sie auf ihrem Höhepunkt, die ACT UP – Bewegung. „Aids Coalition To Unleash Power“, unter diesem Motto fanden sich von HIV betroffene Menschen zusammen, um sich mit medienwirksamen Aktionen Gehör zu verschaffen. Inzwischen war es ruhig geworden um ACT UP, nur noch sehr wenige Gruppen existieren, die meisten ohne größere Aktionen.

Doch in den letzten Monaten haben mehrere ACT UP – Aktionen in den USA für Aufmerksamkeit gesorgt, allein 2009 wurden vier ACT UP – Gruppen neuu oder wieder gegründet in den USA . So bildete sich in Wisconsin eine ACT UP – Gruppe neu, um die Gründung einer Aids-Organisation anzustoßen. Zuvor hatte diese ACT UP – Gruppe bereits eine existierende lokale Aids-Organisation angegriffen mit dem Vorwurf, sie nütze Positive aus, und ihre schlechte Service-Qualität beklagte.
Eine andere ebenfalls neu (wieder-) gegründete Gruppe in San Diego kämpft gegen massive Kürzungen des Aids-Budgets in der Region. Und Mitglieder der (bereits existierenden) ACT UP Gruppe Philadelphia waren beteiligt bei der Besetzung der Rotunde des Kapitols in Washington im Rahmen einer Aids-Protest-Aktion.

Und am Rand der Ausstellung „ACT UP NEW YORK: ACTIVISM, ART, AND THE AIDS CRISIS, 1987–1993“, die von Oktober bis Dezember 2009 gemeinsam vom Carpenter Center for the Visual Arts und dem Harvard Art Museum gezeigt wurde, kam es zu einem Handgemenge mit Mitgliedern der religiösen Rechten.

Die US-amerikanische Positiven-Zeitschrift POZ fragt sich nun, ob dies erste Anzeichen eines Wandels in der Kultur und in den HIV-Communities seien, erste Zeichen für eine „Rückkehr von ACT UP“. Ein ACT UP Comeback ?

Erwacht ACT UP in den USA aus einem langen Winterschlaf? Einige US-Aktivisten meinen ja. Die vorhandenen Aids-Organisationen seien viel zu sehr dem Geist der 1980er Jahre verhaftet und darauf fokussiert, einerseits Prävention anzubieten und andererseits „Klienten von der Diagnose bis zum Tod zu begleiten“. ACT UP könne diese Organisationen aus der Vergangenheit reißen, sie zwingen sich den neuen Herausforderungen des Lebens mit HIV zu stellen und veränderte Dienstleistungen anzubieten.

Kritiker beklagen eine seltsame Mischung aus Selbstgefälligkeit und Hilflosigkeit. Einerseits seien viele HIV-Positive gerade in der Situation von Rezsession und Wirtschaftskrise dankbar für jede Art von Angebot, nähmen alles kritiklos hin. Und andererseits gebe es viel Selbstgefälligkeit bei Aids-Organisationen, die der Ansicht seien, sie leisteten bereits alle erforderliche Arbeit.

ACT UP könne diesen Positiven wieder eine Stimme geben – und die Aids-Organisationen zwingen, sich den neuen Realitäten anzupassen. Menschen mit HIV müssten die (auch) für sie gedachten Organisationen wieder mehr in die Pflicht nehmen.

Zudem hoffen einige Aktive, dass die nach der Aufhebung des US- HIV-Einreiseverbots nach Ankündigung der IAS 2012 in Washington stattfindende Welt-Aids-Konferenz neuen Schwung in den Aids-Aktivismus in den USA bringen werde.

Kritiker entgegnen, es gebe immer noch eine große Apathie, gerade auch unter HIV-Positiven. Die Bereitschaft, sich zu engagieren, für die eigenen Interessen und Rechte, und sich zu organisieren sei immer noch sehr gering.

Eine spannende Situation und Debatte, die sich in den USA abzeichnet über ein etwaiges ACT UP Comeback .

Und der Eindruck, dass einem vieles bekannt vorkommt. Aids-Organisationen, die selbstgefällig glauben, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, soll es auch hier geben. Und Apathie und Desinteresse unter Positiven, sich für ihre eigene Situation einzusetzen soll auch gelegentlich beobachtet worden sein.

Andererseits gibt es immer wieder HIV-Positive, die sich gegen Diskriminierung und Stigmatisierung zur Wehr setzen, wie jüngst bei der angekündigten Behandlungs-Verweigerung in einer Klinik oder bei einem Zahnarzt.

Erste Anzeichen eines neuen Engagements für die eigenen Rechte- auch bei uns?

weitere Informationen:
Newsweek 01.12.2009: The Comeback of AIDS Activism
POZ 03.02.2010: ACT UP’s Latest Act
POZ November 2009: Acting Up
Carpenter Center: ACT UP NEW YORK: ACTIVISM, ART, AND THE AIDS CRISIS, 1987–1993
ACT UP Wisconsin
ACT UP San Diego
ACT UP Philadelphia
rollcall 09.07.2009: AIDS Activists Arrested After Shutting Down Capitol Rotunda
housing works 09.07.2009: 26 AIDS activists shut down U.S. capitol
The Badger Herald 03.02.2010: HIV/AIDS activists clash over unspecified funding, limited services offered (pdf)

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Berlin Kulturelles ondamaris Texte zu HIV & Aids

Hunter Reynolds (1959 – 2022) aka Patina du Prey

Der us-amerikanische Künstler, AidsAktivist und ‚Visual Aids‚ – Mitglied Hunter Reynolds (1959 – 2022) verlieh in seinem alter ego ‘Patina du Prey’ und ihren Kleidern und Performances seit Anfang der 1990er den Gefühlen und Verlusten der Menschen mit HIV und Aids Ausdruck.

Hunter Reynolds, Berlin 18.07.2009
Hunter Reynolds, Berlin 18.07.2009

Bekannt wurde Hunter Reynolds, der früh Mitglied von ACT UP wurde und 1989 Art Positive mit gründete, u.a. mit seiner Kunstfigur ‘Patina du Prey’ und seinen Performances (u.a. Memorial Dress).

In seinem alter ego ‘Patina du Prey’ und ihren Kleidern und Performances verlieh Reynolds, der selbst seit 1984 Jahren von seiner HIV-Infektion wusste, seit Anfang der 1990er den Gefühlen und Verlusten der Menschen mit HIV und Aids Ausdruck.

„Patina was born on october 21, 1989. I was documenting the feminization of my male face—putting on makeup and taking pictures, which I had never done before. I wanted to address negative feelings that many male queers have against trans and gender-fluid people.“

Hunter Reynolds in einem Interview 2019

Sein ‘Memorial Dress’ (1993) z.B. besteht aus schwarzer Seide – bedruckt mit den Namen von 25.000 an den Folgen von Aids Verstorbenen:

„In 1993, I moved to Berlin for a residency at the Künstlerhaus Bethanien, leaving everything. I didn’t know if I would be alive in two years or not. Those years were some of the worst of the epidemic. Thousands of people died just before the AIDS cocktail came out. As part of my first European performance I wanted to do a reading of names of people who had died due to complications with AIDS. I went to Washington, DC, to see the largest display of the NAMES quilt, got the catalogue, and did the first performance on one of my hospital bed pieces. That led to ‚Memorial Dress.‘ Frank Wagner curated the first major European art exhibition about AIDS, and he and I decided to produce a dress with all the names from my reading. I transcribed 26,000 names, printed them out, and pasted each one to create a silk screen.“

Eine Travestie der Trauer, Symbol des grenzenlosen Leids angesichts der von diesem grauenhaften Gesundheits-Desaster vernichteten Menschen”, beschrieb Frank Wagner (NGBK) 1993 die erste ‘Memorial Dress’ – Performance in der NGBK Berlin.

Trauer, Verlust, Angst, Hoffnung – ‘Patina du Prey’ verlieh ihnen Ausdruck, Gestalt.

Reynolds, am 30. Juli 1959 in Rochester geboren, lebte in den 1990er Jahren lange Zeit in Berlin (u.a. Künstlerhaus Bethanien, als Stipendiat der Aids-Stiftung). In dieser Zeit hatte er zahlreiche Ausstellungen und Performances, u.a. in Berlin (NGBK), Köln, Hamburg, Polen, Niederlande.

Ende der 90er kehrte Reynolds zurück nach New York, wo er weiter als Künstler arbeitete.

Am 12. Juni 2022 starb Hunter Reynolds in New York.

Hunter Reynolds 2009 zurück in Berlin

Der Künstler und Aids-Aktivist Hunter Reynolds war nach langer Zeit 2009 für kurze Zeit wieder zurück in Berlin – und mit einem Werk in einer Gruppenausstellung zusehen.

Für einige Tage kehrte Reynolds 2009 nach Berlin zurück, um hier seinen 50. Geburtstag zu feiern. Ein Werk von ihm war seinerzeit in einer Ausstellung in der Galerie Rupert Goldsworthy zu sehen.

Hunter Reynolds, alias Patina du Prey, sets his full stakes on this performative act of differentiation. He is happy to be different from the rest; to lie diagonally in the riverbed of the Mainstream; to feel a sense of belonging with the Others: the Queens, the Fags, the Perverse.

Frank Wagner über Hunter Reynolds, 1993

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„Viruses follow me around, like dark shadows trailing my footsteps on the path of life. Covid-19, HIV AIDs, Syphilis, Hep-C, HIV Strokes, Viral Fungal Infections on my brain. Illness and death have been so much a part of my life and art that I cannot separate them.“

Hunter Reynolds

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weitere Informationen:
oral history – Interview mit Hunter Reynolds
Hunter Reynolds – Memorial Dress 1993 – 2007 (Video)
Galerie Rupert Goldsworthy
Creative Time: Patina du Preys Memorial Dress
Visual Aids / TheBody: Patina du Prey’s Memorial Dress
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Andreas Salmen (1962 – 1992)

Der Politologe, Schwulen- und Aids-Aktivist Andreas Salmen wurde 1962 in Göttingen geboren. Er starb am 13. Februar 1992 in Berlin an den Folgen von Aids.

Andreas Salmen wurde am 26. Mai 1962 in Göttingen geboren. Seit seiner Jugend war er politisch engagiert; so recherchierte er Wikipedia zufolge undercover in der Berliner Neonazi-Szene und engagierte sich gegen die Volkszählung 1983.

Andreas Salmen © Florian Wüst, 1990
Andreas Salmen 1990 bei einer ACT UP Aktion auf dem Deutschen Aids-Kongres Hamburg (Foto © Florian Wüst, 1990 )

Andreas gehörte 1981 zu den Mitbesetzern und Mitbegründern des Tuntenhauses in der Berliner Bülowstr. 55 (1981–1983). Es war ds ersten in einer Reihe weiterer Häuser in Berlin (Mainzer Straße und Kastanienallee) sowie auch in einigen anderen Städten (zum Beispiel Bremen, Bern und Genf, wo es „Tantenhaus“ hieß).
Ende 1983 wurde das Haus geräumt und (teilweise) abgerissen (Zeitzeugenbericht von Andreas Salmen, 1986, nicht mehr online). Auf die Zeit im Tuntenhaus schaute Andreas auch später gelegentlich begeistert zurück:

„Alles im allem aber war das Haus ein tolles Erlebnis: wer wohnt schon mal mit zwanzig schwulen Burschen, Tunten, Spontis, Studies … zusammen? Sicher gab es auch schwule Besetzer in Bielefeld, Amsterdam, London und Paris, mit denen wir auch teilweise Kontakt hatten, aber nirgends wurde das Konzept eines schwulen besetzten Hauses so klar durchgezogen und nirgends sonst hielt es sich fast drei Jahre. Und nach drei Jahren des Wohnens allein oder zu zweit bekomme ich trotz all dem Nerv, dem Schmutz und Stress beim sehnsüchtigen Zurückblicken wieder Lust auf Ähnliches: denn da waren auch viele tolle Augenblicke.“

Andreas Salmen 1986

Nach seiner Zeit im Tuntenhaus begann Andreas 1984 mit dem Studium der Politikwissenschaft an der FU Berlin. Parallel war er im Frühjahr 1984 einer der Gründer des noch heute existierenden Berliner Monatsmagazins „Siegessäule“, das sich damals nur an Schwule richtete. In der „Siegessäule“ sowie im Schwulen-Magazin „Magnus“ (es erschien vom Juni 1989 bis 1996) und ab 1988 häufig für die „taz“ schrieb Andreas besonders über Themen aus der Schwulenbewegung (z. B. „Kein Asyl für schwule Pakistani“, 4.2.1989), zu HIV/Aids (z. B. „Das HIV-Modell als Mogelpackung?“, 31.10.1988, oder „Ministerin Lehr blockiert Safer-Sex-Projekt“, 26.5.1989) und von seinen USA-Aufenthalten über dortige Proteste (z. B. „AIDS in New York City“, 7.10.1988, und „Aidsaktionsgruppen belagern das Marriot-Hotel“, 21.6.1990).
Früh engagierte sich Andreas nicht nur in der Schwulenbewegung, sondern auch im Kampf gegen Aids – wiederum auf seine ihm eigene Weise. Mit drastischen Formulierungen, manchmal im Stil von Larry Kramer (wie „Wir befinden uns im Krieg!“, siehe oben) eckte er an. Und er erwies sich immer wieder als unbequemer Denker und Aktivist, der auch vor Kritik an den eigenen Reihen nicht zurückscheute:

„Die Geschichte des Verhältnisses der Schwulenbewegung zu Aids ist die Geschichte von Verdrängung und einer Kette von Versäumnissen.“

(Haunss 2004, S. 232)

Mit deutlichen Worten kritisierte Salmen 1989 in der „Siegessäule“ das (aids-)politische Desinteresse vieler Schwuler:

Schwule Emanzipationsbemühungen können sich nicht mehr an Aids vorbeidrücken, sie sind nur noch in einem Gang mitten durch Aids denkbar.“
(Salmen 1989, zitiert nach Hutter 1993)

Am Wissenschaftszentrum Berlin arbeitete Andreas in der Präventionsforschung; gemeinsam mit Rolf Rosenbrock gab er das Buch „Aids-Prävention“ (1990) heraus. Parallel versuchte er in Berlin ein „Stop-Aids-Projekt“ nach US-Vorbild zu initiieren (das Stop Aids Project war 1984 in San Francisco gegründet worden und bemühte sich um eine communitynahe und Sexualität bejahende Aidsprävention für schwule, bisexuelle und Trans*-Männer), was nicht nur begrüßt, sondern zum Teil auch massiv kritisiert wurde, unter anderem mit dem Argument, man habe dafür doch schon Aidshilfen. Zudem war Andreas zeitweise Redakteur der Positiven-Zeitung „Virulent“, die ab 1991 mit einer Startauflage von 25.000 Exemplaren drei- bis viermal pro Jahr erschien. Sie wurde von einem Redaktionsteam gemacht wurde, in dem u.a. der Germanist Michael Fischer (Lebenspartner von Andreas), und später auch ich selbst mitarbeiteten.

Andreas Salmen brachte, frisch zurück von einem einjährigen USA-Aufenthalt, politischen Aids-Aktivismus in Form von ACT UP mit nach Deutschland.

Andreas Salmen war außerdem Herausgeber des meines Wissens einzigen Buches über ACT UP, das damals aus ACT-UP-Zusammenhängen heraus in Deutschland veröffentlicht wurde: „ACT UP Feuer unterm Arsch – Die AIDS Aktionsgruppen in Deutschland und den USA“. In diesem im Herbst 1991 erschienenen Band, den Salmen seinem langjährigen Lebenspartner widmete, wurden einige Grundlagentexte aus US-amerikanischen ACT-UP-Kontexten erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Obwohl er zwei Jahre nach Gründung der ersten ACT-UP-Gruppe in Deutschland erschien, enthält der Band aber bemerkenswerterweise neben einer Liste der deutschen ACT-UP-Gruppen nur einen einzigen Text zur Situation in Deutschland, nämlich einen Beitrag zu Mängeln in der medizinischen Versorgung. Andererseits ist mit der „AIDS Treatment Agenda“ von ACT UP New York bereits ein Beitrag enthalten, der sich genau auf der Bruchlinie von Aids- und Therapieaktivismus bewegt, die später zum Ende des „klassischen“ ACT-UP-Aktivismus beitrug.

Ohne Andreas wäre ACT UP in Deutschland vermutlich kaum denkbar gewesen. Nachdem er am 13. Februar 1992 an den Folgen von Aids gestorben war, erfuhren seine Aktivisten-Kolleg_innen auf einem Koordinierungstreffen deutscher ACT-UP-Gruppen im Waldschlösschen davon – an eben jenem Ort, an dem er im Dezember 1988 zur Gründung von ACT-UP-Gruppen in Deutschland aufgerufen hatte.

Manfred Kriener beschrieb Andreas’ Haltung in einem Nachruf in der „taz“ 1992 wie folgt:

„Mit ‚Act Up‘ und dem von ihm vorangetriebenen Berliner ‚Stop-Aids-Projekt‘ wollte Andreas die Passivität der Betroffenen in der Aidskrise durchbrechen, er wollte Gegenwehr mobilisieren statt stummer Erduldung.“

Manfred Kriener, Nachruf auf Andreas Salmen, taz 1992

In einem Nachruf der deutschen ACT-UP-Gruppen, der als Anzeige in der „taz“ sowie in einigen Schwulen-Blättern wie zum Beispiel „First“ erschien, hieß es:

„Die Königin hat ihr Königreich selbst geboren. … Andreas war derjenige, der die US-amerikanische ACT-UP-Idee aufgegriffen und auf unsere Verhältnisse übertragen hat. … Andreas war sicherlich ein schwieriger Mensch; es fiel uns nicht immer leicht, mit seiner kompromisslosen und fordernden Art umzugehen. Er war voller Ideen und Konzepte für neue Aktionen, mit denen er den Kampf gegen die Aidskrise aufgenommen hatte. Die ungeheure Energie, die er dabei entfaltete, war nicht zuletzt auch Ausdruck seiner eigenen Betroffenheit. Dabei verstand er die Aids-Epidemie nicht als isoliertes medizinisches, sondern vor allem auch als politisches Problem. Seine Arbeit war geprägt von seiner Fähigkeit, analytisch zu denken und gleichzeitig leidenschaftlich zu denken. Er hat uns vorgelebt, was SILENCE = DEATH / ACTION = LIFE bedeuten kann.“

Die Trauerfeier für Andreas fand am 21. Februar 1992 im Krematorium Ruhleben statt. Am 30. März 1992 starb Andreas’ Lebensgefährte Michael Fischer. Eine Erinnerungsfeier für Andreas und Michael fand am 25. Mai 1992 im Rathaus Berlin-Charlottenburg statt.

Der Nachlass von Andreas Salmen wird im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (Sondersammlung „Protest, Widerstand und Utopie in der Bundesrepublik Deutschland“) bewahrt.

Traueranzeige der ACT UP Gruppen in Deutschland für Andreas Salmen

Andreas Salmen - Traueranzeige der ACT UP Gruppen in Deutschland
Andreas Salmen – Traueranzeige der ACT UP Gruppen in Deutschland
Andreas Salmen - Traueranzeige der ACT UP Gruppen in Deutschland
Andreas Salmen – Traueranzeige der ACT UP Gruppen in Deutschland

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Bücher und Veröffentlichungen (nach Homowiki):

  • Salmen, A.: AIDS. Solidarität als Alternative. 1988. In: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Jahrbuch 1987. Sensbachtal/Odenwald
  • Salmen, A.: “Wir werden die Krise überleben.” Stop-AIDS-Projekte. 1988. In: Siegesäule 5 (6), 1988
  • Salmen, A.: “Schwulenbewegung und AIDS – Endlich aus der Opferrolle herauskommen!” 1989. In: Siegessäule 6 (1), 1989
  • Salmen, A.; Eckert, A. (Hrsg.): 20 Jahre bundesdeutsche Schwulenbewegung. 1969-1989 Bundesverband Homosexualität, Köln 1989
  • Salmen, A.: “Ein Scharlatan findet seine Jünger. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Duesbergs.” 1989. In: Siegessäule 6 (7), 1989
  • Salmen, A.; Rosenbrock, R.: (Hg.) AIDS-Prävention. 1990. Berlin Edition Sigma Bohn
  • Salmen, A.: (Hg.) “ACT UP Feuer unterm Arsch – Die AIDS-Aktionsgruppen in Deutschland und den USA” 1991. AIDS-Forum DAH Sonderband, Berlin, 1991

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Zur Geschichte von ACT UP in Deutschland siehe auch das Buch „Schweigen = Tod, Aktion = Leben – ACT UP in Deutschland 1989 bis 1993“

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Mythos ACT UP – oder Modell?

Mythos ACT UP – oder Modell einer Bürgerrechts-Bewegung HIV-Positiver?
einige persönliche Gedanken

Einer der ‚Höhepunkte‘ von Positiven-Aktivismus in Deutschland war ACT UP. Eine Bewegung, eigentlich aus den USA stammend, die bald auch hier mit zahlreichen Gruppen präsent war. Aktionen durchführte, Themen in die Öffentlichkeit brachte, Aufmerksamkeit in den Medien herstellte. Um dann recht schnell wieder zu verschwinden – warum?

Wie kam es, dass plötzlich Ende der 1980er HIV-Positive mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Forderungen für ihre Interessen eintraten? ACT UP entstand m.E. in Deutschland aus zwei Momenten heraus, einem Gefühl von Angst und Bedrohung sowie einem Erleben von Aktivwerden unter US-Schwulen und -Positiven.

Eine nennenswerte Zahl (überwiegend schwuler) Menschen in Deutschland empfand Ende der 1980er / Anfang der 1990er Jahre Gefühle von Angst. Gefühle, die sich vielleicht festmachen lassen an damaligen nicht immer unbegründeten Befürchtungen wie „jetzt machen die uns fertig / unsere mühsam erkämpften Freiheiten kaputt / unsere Szenen kaputt (Gauweiler)“, und von Bedrohung, die sich u.a. manifestierte in Stichworten wie ‚Maßnahmenkatalog‘, ‚Internie­rung; ‚Absonderung‘, und an einigen Personen, unter ihnen ein schwedischer Arzt, ein bayrischer Politiker (von nämlichen Arzt beraten) und ein Berliner In­nensenator.

Hinzu kamen erste Berichte aus den USA, über die zu er­leben war, dass dort (nicht nur) Schwule auf die Straße gingen, für ihre Rech­te eintraten, für ihre Szenen, für ihre Leben kämpften. Mit medienwirksamen Aktionen öffentliche Meinung beeinflussten und so ignorante Politiker, Behör­den und Unternehmen unter Druck setzten.

Ignoranz und Bedrohung waren in den USA sicher größer ausgeprägt als in Deutschland, ebenso das Gefühl der Angst (Stichwort Debatte ‚gay holocaust‘), dennoch waren auch in Deutschland genügend Druck, genügend Emotion vorhanden, dass eine nennenswerte Zahl Menschen aktiv wurde. Hinzu kam, dass Andreas Salmen, frisch zurück aus den USA, direkten Transfer amerika­nischer Ideen, Strategien und Kampagnentechniken möglich machte – und sich selbst massiv engagierte.

Bald gab es auch in Deutschland zahlreiche ACT UP Gruppen (Berlin, Bonn, Dortmund, Hamburg, Frankfurt, Karlsruhe, Mainz, München, Nürnberg, Würz­burg), die viele lokale und einige teils sehr gut wahrgenommene bundesweite Aktionen durchführten (die bekanntesten darunter sicher Die Ins gegen Luft­hansa, der ‚Marlboro-Boykott‘ und die Besetzung des Doms zu Fulda im Sep­tember 1991).

Doch die Blüte von ACT UP dauerte in Deutschland nicht lange. Zwar gab es eine ACT UP – Gruppe noch bis Ende der 1990er Jahre (Frankfurt), ACT UP als aktionistische Form positiver und positivenpolitischer Selbsthilfe jedoch spielte schon Mitte der 1990er Jahre in Deutschland keine nennenswerte Rol­le mehr.

ACT UP – warum ein schnelles Ende?
Zum baldigen Ende der ACT UP – Bewegung in Deutschland nach kurzzeitiger Blüte trugen m.E. mehrere Gründe bei, u.a.:
– mit den Tod von Andreas Salmen im Februar 1992 verloren die deut­schen Aktivisten nicht nur ihren spiritus rector, sondern auch eine Füh­rungsperson, Theoretiker und Kristallisationspunkt.
– viele der Aktionen in Deutschland waren letztlich aus den USA und der dortigen Situation gesetzte Themen (z.B. Kirche, Philip Morris) und hatten mit der Lebensrealität vieler deutscher Positiver nur wenig zu tun.
– die medizinische Situation änderte sich seit der Zulassung von ddI zu­nächst schleichend, bald schneller. Der existentielle Handlungsdruck wurde geringer.
– einige Aktive wandten sich bald vom politischen Aktivismus ab und (aus einem Gefühl veränderter Notwendigkeiten heraus) dem Therapie-Akti­vismus zu.
Letztlich scheint mir hatte in Deutschland zudem ACT UPs Tendenz zu zuspit­zen, zu provozieren, zu polarisieren keine ausreichende Basis im Kontext einer Gesellschaft, die eher geprägt ist von Konsens-Politik. Die kulturel­len Unterschiede zwischen Deutschland und den USA spiegeln sich hier m.E.deutlich wieder. So fassten auch aktionistischere Schwulen- und Lesbengruppen wie OutRage oder QueerNation, die in Folge von ACT UP in Großbritannien und den USA entstanden, in Deutschland nie recht Fuß.
Nebenbei, auch in den USA, wo es noch zahlreiche ACT UP – Gruppen gibt (wie ebenfalls in Paris), ist ACT UP seinem ‚godfather‘ Larry Kramer zufolge „dead – a shadow of its former self. The greast days of Aids activism are no more“ (Larry Kramer im Interview auf gaywired.com, 27.11.2008).

ACT UP – ein Modell für positiven Aktivismus?
Als Mythos hat ACT UP lange überlebt. Gelegentlich sind selbst heute noch Bemerkungen zu hören wie „Jetzt müsste man ACT UP haben“ oder „warum macht ihr nicht mal wieder ACT UP“. Es stellt sich die Frage, ist ACT UP heute noch möglich, denkbar? Mythos ACT UP ?

Über die spontane Antwort an den Fragenden hinaus „dann mach’s doch – sei ACT UP“ bleibt im Rückblick der Eindruck, ACT UP war in Deutschland Er­gebnis eines seltenen Moments, getrieben von Wut und Angst, getrieben auch von Aktivismus der eine Bahn suchte – und selbst damals immer nur von einer kleinen Gruppe Menschen aktiv nach vorne gebracht. Diese Aus­gangsvoraussetzungen (und die Bereitschaft, das erforderliche nicht geringe Maß an Zeit und Engagement aufzubringen) scheinen mir heute nicht gege­ben.

Die Frage, ob ACT UP hierzulande als Modell für positiven Aktivismus generell taugt, hat sich damit m.E. weitgehend erledigt. Ich denke nein.

(Randbemerkung: Die These „Gefühle von Angst/Bedrohung/Wut als Basis für Aktivismus“ scheint sich in den USA derzeit erneut zu bewahrheiten. Dort gehen nach den als Schock erlebten Abstimmungsniederlagen junge Leute zu Tausenden auf die Stra­ßen, engagieren sich erneut (‚Stonewall 2.0‚). Ein Druck, der hier -auch angesichts einer kon­sens-orientierten Gesellschaft – derzeit nicht vorhanden ist.)

Allerdings zeigt ACT UP auch in Deutschland eines: Auch wenige können die Welt verändern – wenn sie es wollen. ACT UP bestand nie aus vielen aktiven Menschen, vielleicht einigen Tausend in den USA, sicher kaum 100 in Deutschland. Und dennoch – ACT UP konnte Öffentlichkeit schaffen, Aids-Politik und -Lebensrealitäten ein wenig verändern. In dieser Hinsicht könnte ACT UP auch heute noch Modell sein – dafür, dass es „nur“ eine kleine, motivierte und zu Engagement bereite Gruppe Menschen braucht, um Themen zu setzen, um Veränderungen anzustoßen. Dies ist m.E. eine Erfahrung, die man an ACT UP sichtbar machen kann.

Mir persönlich schiene dabei die Frage spannend, ob Aktions- und Organisationsformen wie ACT UP nicht nur gegen etwas (wie eine damals in Sachen Aids ignorante Politik), sondern auch für eine Idee, einen Gedanken, eine Hoffnung möglich wäre, und wenn ja wie …
„il sogno di una cosa“ (PPP)

Wenn allerdings Kramer Recht hat („activism was based, pure and simple, on fear“), dann fehlt dieser Art Aktivismus heute einfach die Grundlage.

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(Text konzipiert für die Veranstaltung ’25 Jahre Deutsche Aids-Hilfe‘ der Akademie Waldschlößchen)

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Abbott gegen ACT UP Paris: Späte Einsicht, teilweise

Der Pharmamulti Abbott hat sein gerichtliches Vorgehen gegen die Aids-Aktivistengruppe ACT UP Paris eingestellt. Grund dürften insbesondere die äußerst schlechte Resonanz in der Öffentlichkeit sein. Thailändischen HIV-Infizierte klagen, ein wichtiges Medikament werde ihnen jedoch weiterhin vorenthalten.

Am 23. Mai hatte der Pharmamulti Abbott Klage gegen ACT UP Paris eingereicht. Der Konzern warf der Gruppe eine Cyber-Attacke gegen die eigene Website vor. ACT UP Paris hatte wie viele andere Gruppen und Aktivisten weltweit zu Protesten gegen das Vorgehen des Konzerns in Thailand aufgerufen.

Nach Bemühungen der thailändischen Regierung, mit einer rechtlich zulässigen Zwangslizenz die Versorgung der eigenen Bevölkerung mit einem Aids-Medikament des Konzerns sicherzustellen, hatte Abbott angekündigt, zukünftig keine neuen Medikamente mehr in das Land zu liefern. Dies hatte zu einem weltweiten Proteststurm geführt. Abbotts Verhalten hatte schon mehrfach den Eindruck erweckt, Profite stünden in weit höherem Interesse als die Medikamentenversorgung der Bevölkerung.

Ende Juli kündigte eine Abbott-Sprecherin nun an, die Klage gegen ACT UP Paris sei fallen gelassen worden. Man erwarte keine weiteren Cyber-Attacken der Gruppe.
ACT UP Paris dementierte Aussagen des Konzerns heftig, man habe sich mehrfach mit der Gruppe getroffen und suche eine schnelle gemeinsame Lösung. Dies sei skandalöse Desinformation.

Das thailändische Positiven-Netzwerk betont, dass Abbott die Versorgung der thailändischen HIV-Infizierten mit seinem lebensnotwendiges Medikament ‚Aluvia‘ weiterhin blockiere.
Der Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten sie doch wohl wichtiger als der zeitweise Zugang zu einer Internetseite, betonten sowohl ein Sprecher der thailändischen Positivennetzwerks als auch ein Sprecher von ACT UP Paris.

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Text 22. Februar 2017 von ondamaris auf 2mecs