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Erinnerungen Paris

Einige Tage mit dir – 4. Tristesse in Pigalle

Ein kalter Tag im Februar 1990. Jean-Philippe ist seit gestern wieder in der Klinik. Abends erreiche ich nur Syriac am Telefon, der kurz angebunden ist, aufgeregt wirkt, von der Arbeit kommend gerade zur Klinik aufbrechen will als ich anrufe. Diesmal sei Jean-Philippe jedoch in einer Privatklinik, die städtische Klinik vorher habe ihm so gar nicht gefallen.
Ich möchte ihn sehen, zu ihm fahren, ist mir sofort klar, diesmal ohne Bauchschmer­zen, ohne Ängste, ohne Hin- und Hergerissensein. Selbstver­ständlich könne ich solange im Gästezimmer wohnen, Syriac ist unkompli­ziert wie meist. Und wohl auch froh angesichts einer möglichen Entlastung. Sechs Tage die Woche arbeitet er tagsüber in einer Immobilien-Agentur, kann sich weniger um Jean-Philippe kümmern als er gerne würde. Am Abend des nächsten Tages sitze ich im Nachtzug nach Paris. Habe mit irgendei­ner fadenscheinigen Begründung kurz­fristig einige Tage frei ge­nommen.

~

Unerträglich langsam quält sich der Nachtzug durch Belgien. Wir kom­men kaum voran, scheint mir.

Die französische Grenze muss scheinbar schon passiert sein, der Zug ist endlich schneller geworden. Ich bin wohl etwas eingenickt. Müde reibe ich mir die Au­gen, halte beide Hände neben meinem Gesicht an die Scheibe, vielleicht lässt sich so etwas vom ‚draußen‘ erahnen. Nein, außer gelegentlichen vorbei­huschenden Lichtern nichts zu sehen. Wir rasen durch anonyme nordost-fran­zösische Landschaften. Der Wagen rattert. ‚Paris, Paris‘ scheint seine Melodie zu sein.

Irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr am Morgen. Zermar­tert komme ich am Gare du Nord an. Immerhin, ich kann mich nicht an die letzten zwei drei Stunden erinnern, keinen Halt, keine Station. Irgendwann muss ich wohl doch vor Müdigkeit eingeschlafen sein. Meine Gelenke schmerzen. Bequem ist es nicht, billig mit Sitzplatz statt im Liegewagen nach Paris zu fahren.

Noch ist es viel zu früh, um in die Klinik zu fahren. Zwei oder drei der Touris­ten-Cafés gegenüber dem Bahnhof haben bereits geöffnet. Ich kaufe mir eine Tageszeitung, setze mich in eines der Cafés. Einen Tee, ein Croissant, erstmal richtig wach werden. Ein angenehmes Ankommen in der Stadt sieht anders aus. Müde dreinschau­ende Menschen auf der Straße, zügig zur U-Bahn-Station oder zum Bahnhof ei­lend. Durch riesige Eingänge verschlingt sie der graue, heute morgen besonders trist dreinschauende Bahn­hof.
Weiter hinten im Café röhrt es unruhig, eine farbige Putzfrau schiebt ein Reini­gungsgerät hin und her. Der Geruch starker Putzmittel zieht leise durch den Saal. Was tue ich hier? Klar, warten. Warten dass die Zeit vergeht, dass die Uhr endlich sagt dass ich zur Klinik, zu Jean-Philippe aufbrechen kann. Ungeduld. So unruhig wie die Fahrt im Nachtzug sind auch meine Gedanken, Ängste, Gefüh­le. Was kommt gleich auf mich zu? Wie mag es Jean-Philippe wohl gehen? Wie wird es sein, ihn im Krankenhaus wiederzusehen?

Die Zeiger der Bahnhofsuhr gegenüber gehen gemächlich auf sieben Uhr zu. Ich lege einige Franc auf den Bistrotisch, nehme meinen Rucksack. Zurück zum Bahnhof gegenüber, hinunter in den Schlund, der nun auch mich verschluckt, auf der Suche nach der richtigen U-Bahn-Linie.

Schon wenige Minuten später wirft mich die Metro wieder aus. ‚Pigalle‘, Asso­ziationen an französische Chansons, Filmszenen flackern auf, Ideen und Bilder eines Viertels von Paris, das ich bisher kaum kenne.

Place Pigalle (Foto: Jean-Alexis Aufauvre)
Place Pigalle (Foto: Alex, Lizenz cc by-sa 3.0)

Place Pigalle, Paris IXe, France – AlexCC BY-SA 3.0

Erste Blicke, oben angekommen, irritieren. So sieht also eine Lasterhöhle aus? Eine dreckige Straßenkreuzung, Passanten strömen auf die Metrostation zu, andere aus ihr hinaus. Karge, abweisende Häuser, die meisten im Erdgeschoss mit hinunter gelassenen Rollläden, nur ein ‚Bar Tabac‘ und ein Café haben be­reits geöffnet. An der Ecke gegenüber alte Neonreklamen, aussehend als hätten sie ihr letztes Licht schon vor Jahren von sich gegeben. Eine schmuddelige, heruntergekommen wirkende Ecke, die so gar nichts mit den Bildern meiner Phantasie gemein hat.

Syriac hat mir den Weg zur ‚Clinique Henner‘ beschrieben. Die Rue Henner ist eine klei­ne ruhigere Seitenstraße an Pigalle. Eng stehen vier- und fünfgeschossige Wohnhäuser des 18. und 19. Jahrhunderts nebeneinander, bürgerlicher, wohliger als an der prominenten Kreuzung. Wo hier eine Klinik sein soll scheint mir unklar. Nirgends ein größeres, moderneres Gebäude zu sehen. Schließlich finde ich die Adresse, die Syriac mir genannt hat. Allein, hier ist weit und breit kein Krankenhaus. Kein großes Eingangsportal, keine Krankenwagen-Auffahrt, keine Taxis, nichts. Mehrmals gehe ich die Stra­ße suchend auf und ab. Eher zufällig entdecke ich schließlich an einem dieser beige-braunen Wohnhäuser einen Hinweis. Ein Mes­singschild ‚Clinique Henner‘, nicht größer als ein Hinweisschild für eine Arztpraxis, sagt mir dass ich tatsächlich richtig bin. Ich wundere mich ein wenig, kann das seriös sein, so eine kleiner Eingang? Wenn die ganze Klinik so mickrig ist, wie wollen die dann auf Aids-Patienten spezialisiert sein? Nun denn, erstmal hinein.

So leer und ruhig wie die Straße ist auch der Eingang der Klinik. Wenig mehr als ein etwas breiterer Hausflur. Hinten rechts entdecke ich ein Glasfenster, da­hinter scheint sich die Rezeption zu verbergen. Irritiert sieht mich die junge Frau an, als ich zaghaft an die Scheibe klopfe. Zimmer 314, dritter Stock, da drüben sei der Lift, erfahre ich. Und einen mah­nenden Hinweis, es sei aller­dings noch sehr früh. „Ich weiß“, entgegne ich ihr, „ich komme gerade aus dem Nachtzug.“ Als sei das eine Erklärung für die frühe Störung. Achselzuckend nimmt sie meine Antwort zur Kenntnis, schließt das Fenster wieder.

Dritte Etage. Leise öffnen sich die Türen des kleinen Lifts. Lange Flure zu beiden Seiten, Linoleum-Boden, mehrere gläserne Türen teilen einzelne Berei­che ab. Am Ende des Flurs in einer Ecke finde ich Zimmer 14. Soll ich schon hinein ge­hen? Schließlich, es ist gerade einmal halb acht, reichlich früh für einen Kran­kenbesuch. Andererseits, ich kann ja mal leise schauen. Ich klopfe zaghaft. Klopfe, nach­dem keine Reaktion kommt, noch einmal. Nichts zu hören. Schläft er noch? Wahrscheinlich.
Ich versuche, leise die Klinke zu drücken. Sie quietscht, als wolle sie meinen Versuch sabotieren. Die Tür gibt den Blick frei in ein kleines Einzelzimmer, in der gegenüber liegen­den Ecke ein zweiflügeliges Fenster, auf einen Innenhof zeigend. Davor ein Bett. Erst jetzt sehe ich ihn, tief eingemummelt in seiner Bettdecke, nur sein Kopf lugt auf der dem Fenster zugewandten Seite heraus. Jan-Philippe scheint noch zu schlafen.
Leise stelle ich meinen Rucksack neben dem Bett ab. Schaue mich um, gibt es hier einen Stuhl, irgend etwas wo ich warten kann, bis er wach wird? Das Bett knarrt, er bewegt sich, dreht sich um. Öffnet verschlafen die Augen, nur ganz wenig, als würde die morgendliche Sonne ihn blenden.
Eine Sekunde, dann ein Grinsen, ein Lächeln um seine Lippen, „Ulli, c’est toi? C’est vrai? Tu est là …“. Ungläubig, voller Freude strahlt sein müdes Gesicht mich an.
„Hey, schön dich wieder zu sehen!“ Ich gehe an sein Bett, gebe ihm einen Kuss auf die Stirn.
Er greift nach einem Haken, der an einem verchromten Arm seitlich am Bettge­stell angebracht ist, zieht sich daran im Bett hoch, bis er beinahe aufrecht sit­zt. „Hey, wieso bist du denn hier? Und dann um diese Uhrzeit?“ Er ist plötzlich ganz aufge­regt, völlig wach trotz seiner verschlafenen Augen.
Überraschung gelungen, Syriac hat ihm anscheinend nichts von unserem Tele­fonat und meinen spontanen Reiseplänen erzählt. „Na, dachtest du ich lass dich hier mutterseelenallein, und dann mitten im Nut­ten-Viertel Pigalle?“
Er muss lachen, fasst sich aber gleich an die Brust, scheint Schmerzen zu ha­ben. Wir umarmen uns. Er legt seinen Kopf an meine Brust, fast wie damals an der Nordsee. ‚Mein Gott, dieses ‚damals‘, das ist doch erst Wo­chen her‘, schießt es mir durch den Kopf.
„Mensch, was freu ich mich, dass du hier bist!“ Er schaut mir in die Augen, und ich versinke in seinem Blick.
„Hab ich dich geweckt?“
„Ach Quatsch. Ich verbring doch eh den halben Tag mit Schlafen und Dösen, was soll man denn hier schon mehr machen.“

Immer noch grinst mich Jean-Philippe breit an. „Ja! Und? Wie war die Fahrt?“ Ich muss auch grinsen. Welche Frage. Als gäbe es nichts wichtigeres.
„Und, willst du gar nicht frühstücken?“ Ich deute auf das Tablett auf dem Nachttisch.
„Keinen Hunger.“ Das Grinsen weicht aus seinem Gesicht.
„Du siehst ziemlich eingefallen aus, wenn ich ehrlich sein soll. Meinst du nicht, es wär‘ gut, zumindest ein wenig zu essen? Kraft kannst du jetzt gut gebrau­chen.“ Ich versuche, ihm möglichst sanft das Essen etwas näher zu bringen.
„Ich weiß, ich weiß“, sagt er zu meiner Überraschung. „Ich hab schon zu hause auf der Wage gesehen, dass ich wieder einige Kilo verloren habe. Aber das?“, er zeigt auf den Teller.
Auf dem Tablett sehe ich die halb leer getrunkene Tasse Tee, einen zerquetsch­ten Teebeutel daneben. Einen Apfel, einen Teller, darauf einige Stücke ge­toastetes Baguette und zwei Portionspackungen Marmelade. Zwar nicht viel für meinen Geschmack, aber sieht doch eigentlich ganz lecker aus. Ich sehe ihn ahnungslos an.
„Das da“, und nebenbei lerne ich so das französische Wort für Zwieback, „kann ich nicht essen. Kratzt viel zu sehr im Hals.“
Er macht seinen Mund weit auf. Zeigt mit seinem Zeigefinger auf seine Zunge.
Ein Blick, und ich verstehe. Beinahe alles ist weiß, Zunge und Gaumen sind von einer pelzigen weiß-grauen Schicht überzogen. „Du hast Pilz!“
„Im Rachen auch“, ergänzt er.
Kein Wunder, dass er das knochentrockene ge­toastete Baguette nicht essen kann. Zwieback geht gar nicht, nicht mit Pilz im Rachen. Gedankenlosigkeit des Personals? Uner­fahrenheit?
„Bekommst du Medikamente dagegen?“
Er zeigt auf die Nachttisch-Schublade, in der einige Pillen in einem großen Plas­tik-Schieber liegen. „Wirkt aber nicht. Soll heut Nachmittag was anderes be­kommen, angeblich ganz neu zugelassen.“
„Aber trotzdem musst du doch jetzt was essen“, beharre ich.
„Ich weiß“, nickt er still. „Aber das war gestern auch schon so. Da hab ich das Frühstück gleich wieder zurück gehen lassen, hab nur den Tee getrunken.“
„Moment mal, da muss es doch was anderes zu essen gehen.“
Er schaut mich verunsichert an, während ich aufstehe.

Einige Zimmer weiter treffe ich auf eine der Stationsschwestern. Eine nette far­bige sehr korpulente Frau, wohl etwa in unserem Alter.
‚Champignon‘, das französische Wort, das wir für einen bestimmten Speisepilz verwenden, in Frankreich bezeichnet es auch diverse Pilzerkrankungen. Welche bittere Ironie, Nahrung und Unmöglichkeit zu essen so nahe in einem Wort bei einan­der. Ich schiebe meine Gedanken beiseite. Versuche ihr in meinem nicht allzu guten Französisch zu erklären, dass er mit einem Rachen voller Pilz wohl un­möglich trockenen Zwieback essen könne.
Zunächst sieht sie mich ungläubig an, lacht aber immer wieder, als würden sie meine lebhafter werdenden Gesten erheitern. War das mit dem ‚Champignon‘ doch verkehrt? Nein, plötzlich grinst sie. Ich muss wohl sehr rat­los dreingeschaut haben.
„Ist schon gut, ich glaub ich hab verstanden, der Zwieback kratzt so, dass er ihn nicht mag.“
Erleichtert atme ich auf.
„Geben Sie mal her“, sie nimmt mir das Tablett ab, „ich werd mal sehen was ich machen kann.“

Nach einer halben Stunde, Jean-Philippe kommt gerade von der Morgenwäsche aus dem Bad, klopft sie an die Zimmertür. Bringt ein neues Tablett herein. Dar­auf ein Teller mit einigen Scheiben ungetoastetem Weißbrot, etwas Marmelade, eine kleine Packung Obst-Kompott, ein Becher Joghurt, eine Tasse Kraftbrühe.
„Speziell für Sie!“ Sie lacht Jean-Philippe über ihr ganzes Gesicht an. „Und alles aufessen!“ Sie versucht streng zu wirken und muss doch selbst lachen.
„Ich hab Ihrem Bekannten gleich einen mitgebracht.“ Sie zeigt auf einen zweiten Becher. „Muss dann mal weiter, viel zu tun heute Morgen!“
„Klasse, vielen Dank“ rufe ich ihr hinterher, während sie schon wieder durch die Tür entschwindet.

~

In den nächsten Tage pendele ich fast nur zwischen der Wohnung von Syriac und Jean-Philippe und der Place Pi­galle. Syriac arbeitet tagsüber, so dass wir schon am ersten Abend gemeinsam mit Jean-Philippe eine Art Aufgabenteilung vereinbaren. Morgens, nach dem Früh­stück, fahre ich in die Klinik, um zusammen mit Jean-Philippe den Tag zu verbrin­gen. Abends, nach seiner Arbeit, kommt dann Sy­riac, bleibt in der Klinik bis Jean-Philippe einschläft. Am nächsten Morgen über­nehme ich wieder.

So vergehen die Tage. Jean-Philippe bekommt erstaunlich wenig Besuch. Seine Mut­ter, sein kleiner Bruder. Einige wenige Freunde, die ich teils bereits kenne. Sein Vater nicht, ‚um Himmels Willen‘ bekomme ich zur Antwort, als ich danach fra­ge.

Die meiste Zeit verbringt Jean-Philippe im Bett; er hat nur wenige Untersuchungen oder Arzt-Visiten. Vertreibt sich die Zeit, hofft auf Besserung, darauf dass die Medi­kamente zu wirken beginnen.
Wir unterhalten uns viel in diesen Tagen, über sein Leben, seine Arbeit, wie er Syriac kennen gelernt hat. Über mein Leben, Frank, meinen Job. Über mein Engagement bei ACT UP Köln, das er nicht verste­hen kann, ab­lehnt. Zu aggressiv, findet er. Militantes Auftreten, das versucht er mir in teils hefti­gen Diskussionen klar zu machen, das bringe doch gar nichts, loh­ne sich nicht, das sei der falsche Weg die Dinge zu ändern. Klar, auch in Frankreich werde bei wei­tem nicht genug für Infizierte und Kranke unternom­men. Mit Gesprächen, Petitionen, Diskussionen, damit könne man doch viel mehr erreichen. Aber ACT UP? Das sei doch viel zu radikal. Wir würden doch gerade die verprellen, deren Hilfe wir bei der Lösung der Probleme benö­tigten.

Die Abende verbringe ich meist zuhause. Zuhause, dazu ist die Wohnung von Syriac und Jean-Philippe geworden, wenn auch nur zeitweise, behelfsmäßig, und ohne das Gefühl des Zuhauseseins.
Rosalie, Jean-Philippe und Syriacs Katze, streift um meine Beine, schnurrt zu­frieden, während ich sie vorsichtig kurz kraule. Hatte Rosalie mich in den ersten Tagen noch misstrauisch beäugt, Abstand ge­halten, so hat sie inzwischen längst vorsichtig, je­den Tag ein wenig mehr, Vertrauen zu mir gefasst. Liegt nun abends oft zu meinen Fü­ßen, wenn ich im Sessel sitze, irgendein französischer Fernsehkanal läuft, oder ich am Minitel mit wildfremden Männern chatte. Jean-Philippe, der einige Tage später aus der Klinik entlassen wird, grinst, als er hört wie ich die Katze ‚Toxe‘ rufe.

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Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Schock zu Neujahr: Tausende absichtlich mit HIV infiziert – oder doch nicht? Über Schlagzeilen und Wahrheitsgehalt

„Irrer Ami steckte Tausende mit HIV an“, mit dieser grellen Schlagzeile schreckt die Zeitung mit den grossen Buchstaben und dem fragwürdigen Verhältnis zur Wahrheit ihre Leser/innen ins Neue Jahr. Und erläutert „Seine kranke Mission: So viele Personen wie möglich zu infizieren und so umzubringen.“

Ein 51jähriger (mit vollem Namen genannter und mit Foto abgebildeter) Mann aus dem US-Bundesstaat Michigan solle, so das Blatt, seit drei Jahren versucht haben, „durch absichtlich ungeschützten Sex“ Tausende mit HIV zu infizieren. Über das Internet habe er sich „an seine ahnungslosen Opfer herangemacht“, „junge Frauen und … auch Männer“.

Einem weiblichen „mutmaßlichen Opfer“ gegenüber, das sich in einem US-Fernsehsender geäußert hat, habe er zugegeben, „dass er mit 3000 Frauen und Männern ungeschützten Sex hatte“.

Das ist ja fürchterlich! Andere absichtlich mit HIV infiziert – Wir erschrecken maßlos, sind angewidert, fassungslos – oder?
Halten wir inne, denken ein wenig nach. Nur ein klein wenig.

Überlegen wir einmal:

  • Drei Jahre – das macht 1.095 Tage. Der Mann müsste also, sollte er tatsächlich wie behauptet innerhalb der letzten 3 Jahre „Tausende infiziert“ haben, täglich mehrmals Sex gehabt haben, und das jeden Tag, sonn- wie werktags, ohne Unterbrechung, ohne Krankheit, ohne Tage sexueller Untätigkeit.
  • Doch nicht nur das, jeder Sex-Kontakt müsste auch gleich zur Übertragung von HIV geführt haben.
  • Dass dies nicht der Fall ist, bemerkt sogar das Blatt selbst: „er ist in zwei Fällen angeklagt, in denen es ihm allerdings nicht gelang, das lebensgefährliche Virus zu übertragen.“
    Eine HIV-Übertragung erfolgt nicht etwa bei jedem ungeschützten Sex – der Mann hätte, um wie behauptet „Tausende mit HIV angesteckt zu haben“ wohl mit Zehntausenden Sex haben müssen, innerhalb von drei Jahren. Was selbst bei großer Promiskuität eine beachtliche Leistung wäre.
  • Und – vergessen wir nicht, zu einer sexuellen Übertragung von HIV gehören immer (mindestens) zwei Personen. Zwei Personen, die beide keine Schutz-Vorkehrungen wie zum Beispiel die Verwendung von Kondomen ergreifen. Beide sind hierfür verantwortlich – nicht allein eine etwaig mit HIV infizierte Person.
  • Denn – ob der US-Amerikaner tatsächlich mit HIV infiziert ist, oder nur HIV als Vehikel für eine grossspurige Wichtigtuerei nimmt, verschweigt der Artikel ebenfalls.
  • Ganz außer Acht gelassen haben wir dabei bisher die Frage, ob der HIV-Positive antiretrovirale Medikamente nimmt – dies hätte wie bekannt im Fall erfolgreicher Therapie das Risiko einer HIV-Übertragung drastisch gesenkt (siehe „keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs„).

Eine letzte Frage noch: wie viele Menschen hat er nun infiziert?
„Bislang wurden zwei seiner Opfer identifiziert“, vermerkt der Artikel an unauffälliger Stelle mitten im Text. Sind es genau die zwei Fälle, in denen es – wie der Artikel ebenfalls vermerkt – „nicht gelang“, HIV zu übertragen?
Es bleiben – statt der behaupteten „Tausende“ zwei bis null Fälle einer HIV-Übertragung. Und eine grelle Schlagzeile, von deren überprüfbarem Wahrheitsgehalt wenig bleibt.

Ist eine aufmerksamkeitsheischende schreiende Schlagzeile alles wert?

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Nachtrag:
Immer wieder werden Geschichten von Horror-Zahlen kolportiert, oder dass Mwenschen absichtlich mit HIV infiziert wurden. Bei genauem Nachsehen erweisen sie sich fast immer als substanzarm oder substanzlos.
Schon ZDFneo suchte vergeblich nach Männern, die andere Männer absichtlich mit HIV infizieren wollen – und fand nichts. Es blieb damals Bugchasing: viel neo-Lärm um nichts.
Die gerne behauptete ’neue Sorglosigjkeit‘ ist längst als Mythos entlarvt. Ebenso ein Mythos: die Geschichten vom verantwortungslosen Positiven.
Und auch die ‚Ausrede‘ der vermeintlich guten (präventiven) Absicht greift nicht, denn längst ist gezeigt: Schock-Prävention wirkt nicht.

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Bild.de 01.01.2012: ‚Er wollte mit AIDS töten – Irrer Ami steckte Tausende mit HIV an‘
dailymail 31.12.2011: „‚I’m turning myself in, my life is over‘: HIV-positive man ‚infected hundreds‘ after setting out to pass on virus to as many as possible“

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Erinnerungen Paris

Einige Tage mit dir – 3. Fühlt euch wie zuhause

„Habt ihr nicht Lust zu Weihnachten nach Paris zu kommen?“
Jean-Philippe wirkt am Telefon aufgeweckt und voller Energie.
Oh, wie sehr ich Lust hätte! Endlich Jean-Philippe wieder sehen. Aber – schlechtes Ge­wissen plagt mich. Bildet mit Sehnsucht eine eigenartige Melange.
Jean-Philippe lag in der Klinik, erst vor kurzem, Lungenentzündung. Und ich hab mich nicht getraut, ich feiger Hund. Ich hatte Tage gebraucht, bis ich auch nur halbwegs kapierte, welche Ängste mich da plagten, mir nicht nur dem Magen umdrehten – und als ich’s halbwegs gerafft hatte, nicht nur wusste, du kannst deinen Freund Jean-Philippe nicht im Stich lassen, sondern auch wusste, ja, du kannst das, du hältst das aus – da war er schon wieder entlassen.

„Geht leider nicht, wir sind schon bei Franks Eltern in Hamburg eingeladen. Die wä­ren bestimmt sauer, wenn wir da so kurzfristig absagen.“
Zu gerne würde ich ja nach Paris fahren ….
„Ja, und warum kommt ihr dann nicht hinterher, zum Beispiel zu Silvester? Dann könnten wir doch schön gemein­sam ins neue Jahr feiern!“
Ja – warum eigentlich nicht?

~

30. Dezember. Morgen ist Silvester, und Jean-Philuippe und Syriac haben immer noch nicht verlauten lassen, wie sie sich die Silvesternacht vorstellen.
„Habt ihr Lust, morgen abends zusammen essen zu gehen?“, frage ich Jean-Philippe schließlich nachmittags, „oder seid ihr schon verplant?“
Wir sitzen im Wohnzimmer, Frank mit einem Milchkaffee, ich einem Pfeffer­minztee, Jean-Philippe kramt gerade in seiner CD-Sammlung.
Langsam sind wir doch etwas irritiert, was wird das wohl für eine Silvester-Nacht ge­ben? Natürlich würden Frank und ich auch alleine losziehen, ver­mutlich sind die beiden ja eh zu irgend einer Party eingeladen. Aber nett wäre es ja doch, etwas zusammen zu unternehmen. Vielleicht ir­gendwo lecker essen gehen, da­nach in die Szene. Zum Beispiel eine Nacht im ‚Broad‘, das zu unserer Lieblings-Dis­kothek geworden ist, und in die die beiden auch gerne ge­hen. Nett tanzen, schöne Jungs sehen, und vielleicht das ein oder andere Ver­gnügen im Kellergeschoss.

Jean-Philippe lugt hinter seinem CD-Regal hervor. Sieht mich erstaunt an. „Nein, wir sind bei meiner Mutter morgen Abend, die feiert mit ihrer Freundin und einigen Ver­wandten. Ihr kommt doch mit, oder?“
Das ‚oder‘ klingt nicht wie eine Frage, eher so als sei dies doch selbstver­ständlich.
Ich sehe Frank fragend an. Ein abwartend-ratloser Blick von ihm, ein leichtes Schul­terzucken.
„Aber – wir kennen doch da niemanden“, wende ich ein.
Eine private Party ‚en famille‘, auf der wir niemanden kennen, uns doch nur als Ein­dringlinge fühlen würden? Eine seltsame Vorstellung. Sicher keine heiße Nacht, hört sich eher nach anstrengender Familienfeier an.
Wir überlegen ein wenig hin und her. Unausge­sprochene Gedanken und Bedenken. Lädt er uns nur aus Höflichkeit ein? Drin­gen wir da nicht in eine fa­miliäre Privatheit ein, in die wir nicht hinein gehören? Wollen wir überhaupt solch eine Situation, füh­len wir uns dort nicht unsicher, unwohl? Und – wollten wir nicht eigentlich ausgehen, zusammen Spaß haben?

„Ach komm, was soll denn das. Wir sind doch alle eine Familie. Wirst sehen, meine Mutter ist total nett!“
Das mag schon sein, heißt aber noch nicht, das es für uns ein schöner, ungezwunge­ner Abend wird.
Doch Jean-Philippe, inzwischen bei uns auf dem Sofa, lässt nicht locker. Nimmt mich in den Arm. Drückt mich an sich.
„Na komm. Mir zuliebe!“ Er schaut mir in die Augen. „Und überhaupt, wer weiß wann wir wieder zusammen feiern können!“
Ein entwaffnender Satz, irgendwo zwischen schalkhafter Clownerie und unterdrück­ter Sorge.
Eine trockene Bemerkung, die mich wehrlos macht. Ich schlucke. Muss irgendwie dieses plötzliche Gefühl von Bestürzung hinunter würgen. Ja, wie viel Zeit haben wir noch mit einander? Wie viel Zeit lässt uns dieses scheiß Virus? Wie viel Zeit zum Feiern, Zeit zum Leben, Zeit für Miteinander? Hat er doch solche Angst? Weiß er mehr als er mir er­zählt hat?

Jean-Philippe scheint meine Gedanken lesen zu können. Küsst mich auf die Wange, blickt mich an. Diese Augen, dieser Blick.
„Na also. Keine Widerrede, ihr kommt mit“, beschließt er. „Ich hab meiner Mut­ter eh schon Bescheid gesagt, für eine Absage wäre’s schon zu spät.“
Er grinst jungenhaft, offensichtlich aus seinem Spaß an der ge­lungenen Überraschung. Wie sexy ihn dieses Unschulds-Grinsen macht!
„Na okay, wenn wir eh nicht absagen können … Gut, dann kommen wir mit.“ Ich ka­pituliere nach einem Blick zu Frank, „Danke für die Einla­dung!“, küsse ihn auf die Wange. „Aber du musst mir sagen, wie wir uns am Fest beteiligen können, ja?“
Er nickt, nimmt nun uns beide beim Arm, freut sich sichtlich.
„Cheri, Frank und Ulli haben zugesagt, sie kommen mit zu meiner Mutter!“, ist das erste was Jean-Philippe abends ruft, als Syriac zur Tür herein kommt.

~

31. Dezember, Silvester. Später Nachmittag. Die meisten bereiten sich jetzt auf den Abend vor, eine Feier mit Freunden, den Besuch einer Party oder einer Disco. Und wir? Seit ungefähr einer Stunde fahren wir, dicht gedrängt in Jean-Philippes kleinem Renault, durch zunehmend grauer werdende Pariser Vorstädte. Nicht ohne die vorheri­ge übliche Kabbelei. „Ah, c’est un bordell, ta voiture“, stöhnte Syriac wieder einmal und nicht grundlos, als wir zum Wagen gingen.

Die grauen Vorstadtkulissen werden zaghaft, so langsam dass es fast schamhaft wirkt, ein wenig bunter. Hochhäuser weichen nach und nach Eigenheimen und Reihenhaus-Siedlungen. Alles hat immer noch diese bizarre Mischung aus fran­zösischem Charme und lieblos in die Landschaft gebauten Klötzchen, erinnert an diese typische Spießer-Idylle deutscher Siedlungen am Rande der Großstadt.

In einer Seitenstraße, niedrige Häuser und adrette Vorgärten entsprechen ganz der Vorstellung vom Idyll, parkt Sy­riac den Wagen. Wir sind da. Ein wenig beklommen steigen Frank und ich aus, halten uns hinter Syriac und Jean-Philippe. Unsicher, was uns erwartet.

„Salut, ich bin Annie, Jean-Philippes Mutter. Ihr seid also Frank und Ulli?“
Wir kommen kaum dazu zu antworten, schon hält sie uns ihre Wange entgegen für die obligatorischen Bussis.
„Kommt herein, fühlt euch wie zuhause.“
Das Haus ist schon gut gefüllt, die beste Freundin, die Schwester mit Mann und Kin­dern, jeder will mit Hallo und Küsschen begrüßt werden, möchte den von fern ange­reisten deutschen Besuch bestaunen.
Bevor Verlegenheit aufkommt angesichts noch fehlender Gesprächsthemen, zieht Jean-Philippe uns schon mit in die Küche. Ah, welch ein Duft. Riesige Töpfe auf dem Herd, irgend etwas schmurgelt im Ofen, auf dem Tisch stapeln sich Gemüse. Sei­ne Mutter und ihr Freund stehen am Herd.
„Ah, Topfgucker?“ Sie lacht uns an.
Wir bedanken uns nochmals für die Einladung, stellen die mitgebrachten Getränke ab.
„Ihr mögt doch Austern, hab ich gehört?“
„Ach ja, schon, durchaus“ grinst Frank.
„Na klasse, dann bin ich beruhigt.“ Frank strahlt, Annie lächelt verschmitzt, beinahe ein wenig verschwörerisch – ganz so wie Jean-Philippe mich manchmal so unwider­stehlich anschaut, denke ich.
„Hmmm, das riecht unglaublich lecker!“ Frank schaut durch das Ofenfenster. „Was gibt es?“
„Wird nicht verraten – und: Finger weg!“, erwidert Annies Freund streng dreinschau­end. Frank stutzt, Annies Freund lacht jedoch sofort, „kleiner Spaß.“ Er führt Frank von Topf zu Topf, alle Deckel werden kurz gelüftet, ein kleiner illustrierter Spazier­gang durch das für den Abend geplante Menu veranstaltet.

„Du bist also Ulli. Jean-Philippe hat mir schon viel von dir erzählt!“ Annie sieht mich aufmunternd an. Ich frage mich, was er wohl so alles erzählt, was hoffentlich ver­schwiegen haben mag.
Einige Höflichkeitsfloskeln werden gewechselt, die Jean-Philippe bald unter­bricht. „Ulli ist auch seropos“. Kurz und bündig, direkt. Seropos, die Verniedlichung des schön klingenden und doch so vernichtenden Wörtchens seropositiv. Es wirkt als hätte Frank gerade auf die Austern gekotzt. Kaltes Schweigen steht für Sekunden im Raum.
Erschreckt sehe ich auf. Überrascht. Nicht nur ob Jean-Philippes völlig unfranzösi­scher und unge­wöhnlicher Direktheit. Werde ich rot? Verlegen sehe ich erst Jean-Philippe an, dann Annie. Wie reagiert sie?

Annie blickt mich an, mustert mich, eindringlich, ohne ein Wort. Ist es eher traurig oder mitleidig, wie sie mich ansieht? Ist sie brüskiert, irritiert von der plötzli­chen Mitteilung in mitten des Smalltalks?
Sie erwidert Jean-Philippes Direktheit mit keinem Wort. Stattdessen höre ich sie nach einer kurzen, mir ewig scheinenden Pause sagen „Bis zum Essen dau­ert’s noch ein wenig. Phi-Phi, zeigst du deinem Besuch derweil das Haus?“

Phi-Phi also, ich grinse. Auch erleichtert darüber, dass nun keine Lektion in „warum du denn“, „wie konntest du nur“ und „warum hast du denn“ folgt. Schwalle interes­sierter und doch wenig verdeckt vorwurfsvoller Fragen, wie ich sie schon zu oft ge­hört habe.
PhiPhi, bestimmt sein Kindername. PhiPhi, wie melodisch das klingt aus ihrem Mund. Wie mag er wohl ausgesehen haben, mein Jean-Philippe, als Knirps, als klei­ner Junge, als Teenager? Ich muss ihn gelegentlich mal nach Photos aus seiner Ju­gend fragen.

Nach dem Aperitiv. Kleine Grüppchen haben sich gebildet, stehen beieinander, unter­halten sich angeregt. Frank und ich stehen etwas abseits zusammen, schauen in den Garten. Ein Blick, ja, wir fühlen uns beide unwohl. Seltsam, so in eine fremde Fami­lien-Feier zu platzen. Trotz der Einladung fühlen wir uns fremd, haben das Gefühl zu stören in dieser vertrauten Runde. Jean-Philippe ist längst ins Gespräch vertieft mit sei­ner Mutter und deren bester Freundin. Wir spielen ein wenig mit seinem klei­nen Bruder, der aufgeregt durch den Raum tobt, für ihn sind wir als Fremde die Attraktion des Abends.

Kurz nach neun. Annie lugt aus der Küche hervor, klatscht in die Hände. „Zu Tisch alle, wir können essen.“
Jean-Philippe kommt schon auf uns zu, „setzt ihr euch hier?“. Er weist auf zwei Stüh­le, zwar etwas abseits von Syriac und ihm, aber immerhin sitzen Frank und ich neben einander.
Annie und ihr Freund tragen die Vorspeise herein, eine große Platte – Berge von Aus­tern. Sie grinst Frank und mich an, „ich hab gehört, unser Besuch aus Deutschland ist so gerne Austern?“
Frank schaut erst ein wenig schüchtern, ein Blick Richtung Jean-Philippe, der un­schuldig in eine andere Richtung blickt. „Ja, schon. Sehr gerne!“
„Na, dann langt alle kräftig zu! Guten Appetit!“

Einige Stunden später. Berge leerer Austernschalen türmen sich auf dem klei­nen Tisch nebenan zwischen leeren Weiß- und Rotwein-Flaschen, auch der köstliche Bur­gunderbraten, der zuvor stundenlang im Ofen geschmort hat, ist längst verzehrt. Schüchternheit und Fremdeln sind gewichen, längst duzen wir uns mit allen am Tisch, mit Annies bester Freundin, ihrem Freund, einer Nachbarin, und natür­lich mit Annie selbst.
Frank stößt mich sachte unter dem Tisch an. „Du, ist schon zwölf durch“ höre ich ihn leise flüs­tern. Ich blicke unauffällig auf meine Uhr. Stimmt, zehn nach zwölf. Und nun? In Deutschland würden wir uns jetzt alle in den Armen liegen, ein Glas Sekt in der Hand, ein frohes neues Jahr wünschen, während ringsum langsam die Geräusch­kulisse der Feuerwerke immer infernalischer würde. Aber hier? Munteres Plaudern bei Tisch, niemand schaut auf die Uhr, nichts tut sich.
Ich zucke mit den Schultern, „ach, lass uns einfach abwarten“. Gebe ihm einen schnellen Kuss, „frohes Neues Jahr, mein Schatz!“. Niemand in der Runde be­merkt unseren stillen Neujahrsgruß.

Die Zeit vergeht. „Ach nicht, Mama!“, versucht Jean-Philippe seine Mutter gerade dar­an zu hindern, eine weitere amüsante Geschichte aus seiner Kindheit zu erzäh­len. „Na, lass mich doch,“ frotzelt sie zurück, „Ulli und Frank kennen die doch sicher noch nicht.“
Ihr Freund eilt Jean-Philippe zu Hilfe. „Na,“ er schaut auf die Uhr, „ich glaube wir stoßen mal an, was meint ihr?“ Er holt einige Flaschen Champagner aus der Küche.
Wenig später, Bussis hier, Bussis da mit Menschen, die uns noch wenige Stun­den zu­vor völlig fremd waren, „frohes neues Jahr!“.
„Na endlich doch noch“, grinst Frank, „um kurz vor eins“. Wir küssen uns, nun noch einmal ‚offiziell‘, „alles Gute für das neue Jahr, mein geliebter Schatz“. Jean-Philippe kommt auf mich zu, ich umarme ihn herzlich, küsse auch ihn. „Alles Gute für 1990, mein Lieber!“ „Dir auch, und – pass gut auf dich auf“. „Na, du auch auf dich“, erwi­dere ich grinsend. Er zwinkert vertraut, als wolle er sagen ‚wir passen schon beide auf einander auf, nicht wahr?‘

Annie, ganz gute Gastgeberin, klatscht in die Hände, „kommt, wir rücken die Tische beiseite. Jean-Philippe, machst du ein wenig lustigere Musik?“ Tische und Stühle wandern in eine Hälfte des Zimmers, so dass in der anderen rasch eine kleine Tanz­fläche entsteht. Jean-Philippe, seinen kleinen Bruder auf dem Schoß, sitzt in der Ecke, macht Musik, kramt in seinen CDs. Die Nacht wird lang …

„Na, das ist doch ein ganz amüsantes Silvester geworden, nicht wahr?“
Frank und ich sind der ausgelassenen Stimmung auf die Terrasse entflohen, ein wenig Ruhe, Luft schöpfen nach all der Tanzerei.
„Ja, hättest du aber anfangs auch nicht erwartet, oder?“
„Stimmt, mir war ganz schön unwohl zu Anfang. Ist aber doch ziemlich nett gewor­den, oder?“
Frank nickt nur, nimmt mich in den Arm.
„Ist das denn für dich auch okay hier? Ich meine auch so mit Jean-Philippe?“, frage ich ihn, während wir in den Sternenhimmel blicken.
Wieder nickt er nur. Gibt mir einen Kuss. „Ach, wir sind schon so ein Paar, mein Schatz! Ich liebe dich über alles!“

Kurz vor drei, die Stimmung ist ein wenig ruhiger geworden, in einer seltsamen Mi­schung von aufgekratzt, angeheitert und müde vom langen Abend sitzen alle in klei­nen Grüppchen im Wohnzimmer verteilt.
„Na, ihr Hübschen, geht’s euch gut?“ Jean-Philippe setzt sich zwischen uns, legt sei­ne Arme um Frank und mich.
„Ja, klasse Abend, ist echt schön bei euch!“
Er strahlt. „Sollen wir so langsam mal aufbrechen?“
Ich sehe Frank an, der nickt. „Ja gerne. Aber wie …“
Jean-Philippe ahnt schon meine Frage, „Syriac hat kaum was ge­trunken, er kann noch fahren.“
Nun ja, dieses ‚kaum was getrunken‘ ist recht relativ, aber was soll’s, wir sind ja in Frankreich, es ist gerade 1990, wir hatten einen schö­nen Abend, sind glücklich.
Müde fallen wir kurz nach vier Uhr morgens am 1. Januar 1990 ins Bett.

~

Wenige Tage später. Zurück in Köln. Zurück im Büro.
Was für eine kuriose Situation. Beinahe je­der der Kolleginnen und Kollegen erzählt von der geilen Sil­vester-Nacht in Berlin, an und auf der Mauer, die ganze Stadt eine riesige Party. Geschichten von Geschichte, Jahrhundertereig­nis, ‚das hättest du erleben müssen‘ und ‚da muss man einfach mit dabei gewesen sein‘.
Und ich? Verbringe zusammen mit meinem Freund den Jahres­wechsel bei einem Lover in Paris. Habe außer Verliebtheit, netter Vorstadt-Fa­milie und leckerem Essen kaum Erwähnenswertes zu berichten. Privates Glück statt Weltgeschichte. Nur kurz nehmen sie mehr oder minder offen desinteressiert meinen Paris-Bericht zur Kennt­nis, kehren bald zu ihren bewegenden Berliner Geschichten zurück, dem zentrale Gesprächsstoff der nächsten Tage.
Grotesk erscheint mir die Situation. Grotesk ihre alles andere ignorierende, vor Be­geisterung überbordende „Berlin Berlin“-Euphorie. Grotesk bis peinlich die immer wieder kolportierten Geschichten vom „Ossi im Glück“ oder „Wessi auf der Mauer“. Grotesk wohl aber auch mein Rückzug ins private Glück, in die Pariser Vorstadt-Idylle, während ringsum Geschichte geschrieben, gefeiert wird. Und dennoch, grotesk wie es scheinen mag, bin ich mir in diesen Tagen sicher, das beste Silvester erlebt zu haben. Dieses tie­fe Gefühl, ‚einen so schönen Jahreswechsel wie ich könnt ihr da gar nicht erlebt haben‘.

~

Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
2. Sternenhimmel
3. Fühlt euch wie zuhause
4. Tristesse in Pigalle
5. Allooo, isch Jean-Philippe Muutti
6. Le Vaudeville
7. Wo bin ich?

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Erinnerungen Paris

Einige Tage mit dir – 2. Sternenhimmel

„Seid ihr Ende September zuhause?“ Jean-Philippe ist am Telefon. „Da hab ich einige Tage Urlaub, und wenn du magst, könnte ich nach Köln kommen.“ Schon mehrfach habe ich ihm vor­geschlagen, uns gemeinsam mit Sy­riac in Köln zu besuchen. Seit unse­rem Kennenler­nen in Paris im Frühsommer haben wir oft mit einander telefo­niert, Briefe geschrie­ben. Immer wieder über­legt, wann wir uns wiedersehen könn­ten. Über seine unver­mittelte Ankündi­gung freue ich mich riesig.

Drei Wochen, zwei Briefe und einige Telefonate später steht Jean-Philippe ei­nes Nachmittags Ende September mit seinem Wagen vor dem Haus. Allein, denn Sy­riac muss noch arbeiten, kommt in zwei Tagen nach.

Abends zeigen Frank und ich ihm Köln, die Altstadt, den Dom, den Rhein. Viele Mo­tive, schöne Blicke, alles wird wieder mit seiner Videokamera festgehalten. Den morgigen Tag habe ich frei ge­nommen, angesichts des guten Wetters beschließen Jean-Phil­ippe und ich, für einen Tag nach Amsterdam zu fahren. Frank ist ein­verstanden, er muss eh arbeiten.

Amsterdam bietet seiner unvermeidlichen Videokamera fast noch mehr an Motiven als Köln, Jean-Philippe ist über­glücklich. Immer wieder bleibt er stehen, „das muss ich eben kurz aufnehmen“. So schlendern langsam durch die Stadt, bummeln an Grach­ten entlang, trinken Kaffee, fahren Tretboot. Das Homomonument begeistert ihn besonders, nein, sowas gebe es in Frankreich nicht, unvorstellbar. Bei uns in Deutschland auch nicht, kann ich nur trocken ergänzen, da sind die Nieder­lande eben weiter.

Irgendwann schauen wir erstaunt auf die Uhr, verdammt, es ist schon spät geworden. Das Hotel da drüben an der Gracht, da könnten wir doch mal fragen ob die was frei ha­ben. Nein, sorry, alles sei ausgebucht, erfahren wir. Zwei andere Hotels in der glei­chen Straße haben zwar Zimmer, allerdings bei weitem nicht in unserer Preisklasse. Auf diese Weise geht das Hotelzimmer-Suchen einige Zeit weiter, entwe­der kein Zimmer frei, oder zu teuer.

Schließlich suchen wir leicht entnervt Jean-Philippes Wagen, fahren aus der Stadt heraus. Vielleicht finden wir ein wenig außerhalb des Zentrums etwas Be­zahlbares? Nein, hier in diesen Vorstädten ist es zu hässlich, zwar sehen wir Hotels, die aber mehr an Übernach­tungsfabriken erinnern, fern unserer romanti­schen Vorstellungen. Weiter am Stadtrand zu suchen bringt offensichtlich auch nichts. Wir ent­schließen uns, die wenigen Kilome­ter an die Küste zu fahren, vielleicht findet sich ja noch ein nettes Strandhotel.

Eine knappe Stunde später stehen wir an der Rezeption eines kleinen Hotels, direkt an der Strandstraße. Ja, ein Zimmer sei noch frei, wir seufzen vor Glück. Und bezahl­bar ist es auch, unsere Suche hat ein Ende.

„Puh, bin ich verschwitzt. Ich muss als erstes unter die Dusche!“ Jean-Philippe, noch ein wenig entnervt von der langen Sucherei, schmeißt seine Tasche auf eines der Bet­ten. „Na – soll ich mitkommen?“ Zu verlockend der Gedanke, jetzt mit ihm unter der Du­sche zu stehen. Er grinst, winkt dann aber ab, „nee, lass mich eben kurz abduschen, dann kön­nen wir noch schnell versuchen, im Ort was zu essen zu bekommen.“ Er hat ja recht, es ist schon ziemlich spät geworden, und wir haben im­mer noch nicht zu Abend gegessen. „Okay, dann pack ich in der Zwischenzeit schon mal aus.“

Der pralle Luxus ist unser Zimmer nicht gerade, eher ein wenig zu klein, aber immer­hin mit Dusche und einem Fenster mit Blick auf die Nordsee. Die rechte Betthälfte ist meine, beschließe ich, schon aus reiner Gewohnheit, und werfe meinen Rucksack drauf. Seinen, der immer noch nahe dem Eingang steht, wer­fe ich auf die andere Bett­hälfte. Die obere Klappe öffnet sich, Mist, ich hat­te vergessen, dass er ja schon sein Waschzeug aus dem Rucksack geholt hat. Ein T-Shirt, eine Unterhose und eine Jeans fallen heraus, kullern auf’s Bett.
Ich will sie gerade wieder hinein stopfen, da schreit mich aus seinem verwa­schen oliv­grünen Rucksack eine knallblaue Packung an. Ein stiller scharfer Schrei, den ich bis in die letzte Gehirnwindung zu spüren glaube. Dieses Blau, dieses eklige be­schissene Blau. Genau dieses Blau, das es nur ein­mal auf solch einer beschisse­nen Packung gibt.

Ich brauche keinen zweiten Blick in seinen Rucksack zu werfen. Es kann nur AZT sein, das blaue Gift, die Pillen gegen Aids. Für einen Augenblick dreht sich al­les um mich herum, das Zimmer, das Bett, der Ausblick auf die See, sein Ruck­sack, seine Jeans, sein T-Shirt, in meinem Kopf quirlt alles durcheinander, ein­zig diese verfickte blaue Schachtel scheint still zu stehen. Es rauscht und dröhnt in meinem Schädel. Oder ist das nur die Dusche, unter der er nebenan den Schweiß des Spätsommertages abspült?

‚Du also auch‘, ist der erste bewusste Gedanke, den ich in mir wahrnehme, ‚du also auch positiv‘. Das ‚auch‘ unhörbar betont, sofort, spontan. Irgendwie mischen sich Er­schrecken, Entsetzen angesichts der blauen Schachtel, des ‚warum du?‘ und ‚warum immer wieder Aids?‘ mit einem Gefühl stiller Verbun­denheit, eines ‚wir also beide‘.

Tief Luft holen. Was nun? Er muss ja gleich schon wieder aus der Dusche kom­men! Spontan lege ich Unterhose, T-Shirt und Jeans wie­der in den Rucksack, dazu die giftig blaue Packung. Lasse den Rucksack auf dem Bett liegen. Räume mei­ne Tasche aus, nur das Nötigste für morgen früh. Die Dusche geht aus, kurze Zeit später kommt Jean-Philippe schon splitternackt aus dem Bad. Sein Lächeln, wie er mich ansieht, ich könnte schmelzen. Verliebtheit und Traurigkeit gehen eine bittersüße Mischung ein.

„Ach, hat das gut getan, endlich fühl‘ ich mich wieder frisch!“ Er reckt sich, kommt auf mich zu. „Ui, und wir haben ja sogar Strandblick!“
Sein Lachen, sein Gesicht, er so nackt vor mir – all meine Befangenheit ist so­fort verschwunden. Ich umarme ihn, spüre seinen noch nassen Arm um mich, sein Gesicht, seine Lippen, seine Zunge, seine feuchte Haut. Bin geil auf ihn, ziehe ihn zum Bett hin. Wir knutschen wild, kullern zwi­schen den Rucksäcken auf dem Bett herum. Sein Gesicht über mir, seine großen Augen lachen mich strahlend an. „Hey, ist das schön, hier zu sein, mit dir!“, er küsst mich auf die Nasenspitze. Ich sehe wie sei­ne Haare sich auf seinem Arm hochstellen, er be­kommt gerade eine Gänsehaut. „Geil? Oder ist dir kalt? Bist ja noch ganz nass!“ Ich rub­bele seinen Rücken. „Ja, ein wenig.“ Er schüttelt heftig den Kopf, wirbelt mir kleine Wassertropfen ins Gesicht, lacht. „Ich trockne mich erst mal eben ab, ich meine richtig.“ Er grinst. Steht auf, greift nach dem Handtuch, neben der Badezimmertür liegen geblieben ist.

Es ist ja spät geworden. Wir schlendern wir durch das abendliche Dorf. Die Straßen sind erstaun­lich leer, nur an wenigen Kneipen und Restaurants ist Licht. Bei einem Chine­sen essen wir, halbwegs gut, immerhin mit Meerblick.
Irgendwann während der klebrigen in Honig gebackenen Banane erzähle ich ihm recht unvermittelt, einem plötzlichen Impuls folgend, von meinen Positivsein. Von dem unge­wollten, ungefragten Test, dass nicht viele davon wissen, von mei­nem zwar strapazierten aber bisher noch leidlich funktionieren­den Immunsys­tem. Er schaut mich mit großen Augen an, sagt zunächst gar nichts. Irritiert stochere ich an meiner Banane herum, ‚war ich jetzt doch zu di­rekt?‘, ich bin verunsichert.

„Gehen wir noch ein wenig am Wasser spazieren?“ fragt er schließlich unver­mittelt.
Ich nicke, fühle mich aber ziemlich unsicher. Immer noch so gar keine Reaktion von ihm.
Als könnte er Gedanke lesen, nimmt er meine Hand, streichelt sie. „Können wir bitte zahlen?“ Der vorbei eilende Ober nickt.

Es ist inzwischen völlig dunkel geworden, leichter Dunst ist aufgezogen. Im gelbli­che Licht der Straßenlaternen spazieren wir Arm in Arm zum Wasser hinunter.

„Ich fand das unheimlich klasse, dass du von deinem Serostatus erzählt hast. Ich hätt mich das nicht getraut.“ Ganz entgegen seiner sonstigen eher zurückhaltenden Art kommt Jean-Philippe direkt zum Thema.
Ich schäme mich. ‚Ich ja auch nicht, wenn nicht …‘ schreit es in mir, und doch halte ich den Mund.
„Ich bin auch se­ropositiv, ich weiß es seit drei Jahren. Seit einem Monat nehm‘ ich AZT.“ Ich will etwas erwidern, nach dem AZT fragen, spüre aber sei­nen Finger auf meinem Mund. „Sag nichts.“
Spüre seinen Mund, seine Lippen.
Küssend stehen wir am Wasser. Das Meer rauscht. Würde es jetzt Stern­schnuppen regnen – es würde mich auch nicht wundern. Ich bin glücklich, ver­liebt, und dann auch noch in einen Positiven. Und der auch in mich! Ich könnte es laut in die Welt hinaus schreien.
Still stehen wir lange da, genie­ßen die Ruhe, uns, unser Glück, unsere Verbundenheit.

Wir setzen uns in den vom Tag noch warmen Sand, dicht aneinander ge­schmiegt.
„Schön, dass wir hier sind.“ Jean-Philippe legt seinen Kopf auf meine Schulter. „Schön, dass es dich gibt. Ich fühl‘ mich so frei, so glücklich wie schon lange nicht mehr.“ Er seufzt, drückt sich fester an mich.
„Und ich erst. Ich bin so froh, dich gefunden zu haben.“
Minutenlang sitzen wir wortlos nebeneinander. Sterne, der warme Sand, die Ruhe, das leichte Plätschern des Meeres. Die Welt gehört uns in diesem Mo­ment.

Irgendwann nachts. Ich spüre seinen warmen Körper neben mir im Bett, wie er sich dicht an mich kuschelt. Seinen Brustkorb wie er sich hebt und senkt, den leichten Luftzug seines Atems auf meinem Arm. Er scheint tief und fest zu schlafen. Ich selbst bin viel zu aufgeregt um schlafen zu können, zu glücklich. Aus der kleinen spontanen Sauna-Affäre in Paris ist so viel mehr, so viel größeres geworden. Und die­ses scheiß Virus, das immer nur trennt, aus­grenzt, Gräben aufreißt, dieses dämliche Virus ist zu etwas sehr Verbindendem zwischen uns geworden. Welcher Hohn, wel­ches Glück.

Nach einem späten und für niederländische Verhältnisse ausgiebigen Frühstück ma­chen wir uns am nächsten Vormittag auf den Rückweg nach Köln. Ähnlich ruhig wie die Landschaften, die wir durchqueren, ist unsere Stimmung – ein stilles, in sich ge­kehrte ruhiges Glück. Einige Stopps an schönen Ausblicken, immer wieder seine Vi­deokamera dabei.
Lächelnd, wenig sprechend sitzen wir im Wagen nebeneinander. Wohl beide mit dem Ge­fühl, etwas lange Gesuchtes und doch irgendwie altbekannt Vertrautes endlich ge­funden zu haben.

Am nächsten Morgen, Kölner Hauptbahnhof. Völlig übermüdet steigt Syriac aus dem Nachtzug. Wie wird die Situation nun? Ein wenig unsicher angesichts un­serer neuen Ver­trautheit ganz eigener Art beobachte ich Jean-Philippe und Syriacs Wiedersehen. War unsere Intensität dieses Abends an der See doch nur eine ‚affaire d’une nuit‘? Oder ist da wirklich mehr? Ge­hen die Pferde meiner Sehnsüchte mit mir durch, mache ich mir Illu­sionen, oder ist alles wahr? Jean-Philippe und Ulli, kann daraus überhaupt et­was ent­stehen, angesichts unserer beider Beziehungen, ange­sichts der annä­hernd 500 Kilo­meter, die Paris und Köln trennen?

All meine sorgenvollen Gedanken erweisen sich wieder einmal als völlig voreilig. Nach einigen Stunden Nickern kommen Jean-Philippe und Syriac aus unserem Gäste­zimmer, Arm in Arm, guter Laune. Einen Kaffee, einige Plaudereien später schlen­dern wir schon zusammen durch die Kölner Altstadt, wie zwei seit vielen Jahren be­freundete Pärchen. Glücklich und entspannt verbringen wir zu viert sehr amüsante, stress­freie Tage mit­einander. Syriac scheint längst Bescheid zu wissen über Jean-Philippe und mich, zu­mindest geht Jean-Philippe inzwischen auch in seiner Ge­genwart sehr locker und zu­traulich mit mir um.

In den folgenden Wochen telefonieren wir häufig. Erinnern uns an den schönen Tag letz­tens an der Nordsee, die Sommertage damals in Paris. Erzählen uns nach und nach gegenseitig von unserem Alltag HIV in Paris und Köln, vom Leben mit HIV, von Ärger und Problemen mit Ärzten und Arbeit, Freunden, von denen nur wenige, in der Re­gel selbst ‚be­troffen‘, wissen, dass wir positiv sind. Viele seiner Erfahrungen kom­men mir nur zu bekannt vor. In vielem begeg­nen wir uns, tauschen uns aus, ergänzen uns – in manchen sind wir auch unter­schiedlich, ohne uns jedoch fremd zu sein. Immer ist da eine Vertrautheit, unerklärlich, keiner Erklärung bedürfend.

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Erinnerungen Paris

Einige Tage mit dir – 1. Conti & co.

Paris. Frühsommer 1989. Continental Opera. Halbdunkle Gänge in der Stadt der Liebe. Wir sind auf dem Rückweg von einem Urlaub an Frankreichs schwulen Strän­den. Frank und ich sind uns einig, erst auf den letzten Drücker zurück nach Köln zu fah­ren, auf der Rückreise lieber noch einige Tage in Paris zu verbrin­gen. Neben den Sehenswürdigkeiten besonders auch die Schwulenszene zu entdecken, zum wiederhol­ten Mal. Die Bars und Cafés, aufregende Discos, die Saunen. Besonders die ‚Conti­nental Opera‘, damals die wohl größte schwule Sauna die wir kennen. Nahe der ‚alten‘ Oper, noch weit vor deren späterem Um­zug an die Bastille.

Continental Opera - Türschild der längst nicht mehr existierenden legendären Pariser schwulen Sauna
Continental Opéra – Türschild der längst nicht mehr existierenden legendären Pariser schwulen Sauna (ehem. 32, rue Louis Legrand)

Eine Sauna, so groß dass Frank und ich uns beim Cruisen lange Zeit nicht be­gegnen. Ein Standard an Ausstattung, der die meisten deutschen Schwulen-Saunen damals alt aussehen lässt. Zudem ist die Sauna gut besucht, selbst tagsüber an einem Werktag viele junge, gut aussehende Gäste. Gäste, die wissen, aus welchem Grund sie in diese Sauna gegan­gen sind.

Einige Besuche in der Dampfsauna liegen hinter mir. Ich streife durch ein Laby­rinth ver­winkelter Gänge. Kabinen wie Karnickelställe über einander ge­stapelt lie­gen im Halbdunkel. Jungs und Männer streu­nen herum, schein­bar ziellos und doch offensichtlich ein klares Ziel vor Augen.

Viele Kabinen sind besetzt, die meisten mit offen stehender Tür. Ich beobachte die In­sassen, oftmals anmutig posierend an der Wand gelehnt, oder lasziv auf der mit einer Art Gummituch bezogenen Matratze ausgestreckt. Durch Bewe­gungen ihrer Augen signalisieren sie, ob an einem der vorbei schlen­dernden Männer Interesse besteht. Ganz wie in deutschen Großstädten scheint der Durchschnitts-Pariser einer Interes­senbekundung zunächst mit blasiertem Des­interesse zu begegnen. ‚Da kann ja jeder kommen‘, scheint der Blick zu sagen, oder abwei­sender ‚komm‘ mir ja nicht zu nahe!‘. Look, don’t touch.

Mir fällt ein junger Mann auf. Schlank, dunkle Haare, wir dürften ungefähr gleich alt sein. Ein wenig verschüchtert ob der bisherigen abweisend coolen Re­aktionen lächle ich ihn an. ‚Der sieht ja gut aus‘, geht mir durch den Kopf, ‚mit dem hätt’ste gerne was. Aber bestimmt ist der genauso zickig und arro­gant wie die anderen Bubis hier. Na, zumindest antesten, wer nicht wagt der nicht gewinnt.‘
Ich gehe mehrmals an seiner Kabine vorbei. Immerhin, gerade hat er gegrinst, mich angelächelt. Ich lehne mich schließlich an eine der Wände, so dass ich seine Kabine im Blick habe. Wir beobachten uns, schauen hin, schauen weg, nicht zu viel Interesse zeigen, oder doch? Schließlich,unsere Blicke begegnen sich. Er grinst wieder. Nein, eigentlich kein Grinsen, eher ein breites Lächeln, freundlich, aufmunternd. Ein Ni­cken seines Kopfes, als wolle er sagen ‚Na, komm doch rein‘. Er rückt beiseite, wie um zu signalisieren ‚Siehste, hier ist Platz für zwei‘. Ich klette­re zu ihm, schließe die Kabinentür.

So lerne ich Jean-Philippe kennen. Anschließend sitzen wir gemeinsam an der Bar, unterhalten uns. Über unseren Urlaub, das Leben in Paris und Köln, Bezie­hung. Tauschen schließlich unsere Adressen aus.

Irgend­wann stößt auch Frank zu uns, zu dritt sitzen wir eine Weile plaudernd bei ein­ander. „Warum kommt ihr eigentlich nicht zu uns, statt viel Geld für ein ödes Hotel zu zahlen?“, fragt Jean-Philippe überraschend. Wir schauen uns an. Lehnen zunächst ab, mehr aus Höflichkeit. Schließlich, wir kennen uns ja kaum. Obwohl, praktisch wär’s ja schon. Und eh nur für ein oder zwei Nächte, spä­testens für übermorgen ist eh die Rückfahrt nach Köln geplant. Fragend sehe ich Frank an, sein Blick signalisiert, wir denken ähnlich. Jean-Philippe beharrt unterdessen grin­send auf sei­nem Vorschlag, findet immer neue Argumente, dabei eine Hand auf mei­nem Knie. Wir willigen schließlich nur zu gerne ein. „Sag nur bitte meinem Freund nicht, dass wir uns in der Sauna kennen gelernt haben, ja? Der mag nicht, wenn ich so häufig hierher gehe.“ Ich sehe ihn et­was erstaunt an. „Wir haben uns einfach in einem Café kennen gelernt, okay?“ Klar, ich nicke. Er will auf­brechen, wir noch in der Sauna bleiben. Wir verabre­den abends miteinander zu telefonieren.

Rue de Vaugirard [1]. Fast mühelos haben wir die Straße nahe Odéon und dem Jardin du Luxembourg gefunden, ste­hen etwas unsicher vor der Wohnungstür. Jean-Philippe strahlt mich an, lacht. Ein braungebrannter junger Mann mit schwarzen Haaren und flammenden Augen lugt ihm von hinten über die Schul­ter. „Salut, ich bin Syriac, Jean-Phil­ippes Freund“, begrüßt er uns nach einem mus­ternden Blick herzlich, „kommt rein“. Ein wenig bange hatte ich diesem Au­genblick ent­gegen gesehen, schließlich – was wird sein Lover denken? Der kann doch auch eins und eins zusammenzählen. Aber ganz im Gegenteil, keine zicki­gen Eifer­süchteleien, Syriac erweist sich als der per­fekte Gastgeber – und als ein bild­schöner zudem. Aus dem französischen Baskenland stammend, markante Gesichtszü­ge, in denen über braunen Augen breite, beinahe schon buschige Augenbrauen thro­nen. ‚Was für ein attraktiver Mann‘, geht es mir durch den Kopf. Doch schon schaut mich Jean-Philippe wieder mit seinem ins Herz gehenden warmen Blick an …

Einen Kir in der Hand plaudern wir etwas, sehen uns um. Nicht ohne Erstaunen. Eine gemütliche Wohnung, nur – ein wenig klein. Wahrscheinlich keine 30 m². Wo sollen wir hier wohl schla­fen? Aber alles findet sich, die nächsten zwei Nächte verbringen Frank und ich auf einer großen Luftmatratze im Wohnzim­mer, ein wenig unbequem zum Lie­gen, aber umso herzli­cher bei Jean-Philippe und Syriac willkom­men.

Am nächsten Tag spaziere ich mit Jean-Philippe durch den nahen Jardin du Luxem­bourg. Ein ruhiger Nachmittag. Ein Eis in der Hand schlendern wir durch den ge­pflegten Park, setzen uns eine Zeit auf eine der Bänke. Unterhalten uns über ihn, mich, unsere Beziehungen, unsere Ar­beit. Entdecken einiges an Gemein­samkeiten, wechselseitigen Interessen. Selbst beruflich stellen wir Berührungs­punkte fest. Den ganzen Tag mit dabei: seine Video-Kamera, mit der er nicht nur beruflich unterwegs ist, sondern auch seinen Alltag filmisch doku­mentiert.

Bis zu unserer Abfahrt verbringen wir zwei Tage voller schöner Momente miteinan­der. Ich mag Jean-Philippe ziemlich gern, mer­ke ich bald. Auch Frank hat meine Ver­liebtheit früh bemerkt. Mit flauem Gefühl sitze ich neben ihm in einem Café, wir sprechen darüber, was geschieht, was geht und was nicht. Erleichterung. Welch ein Glück, einen solch wunderbaren Mann zu haben, der mir diese Freiheiten gibt!

Der Abschied von Paris, von Jean-Philippe ist ein wenig wehmütig, zu schön waren die gemeinsamen Tage. Schon bald, versprechen wir uns,sehen wir uns wieder.

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[1] Dass Michel Foucault, 1984 an Aids verstorbener französischer Philosoph , unweit seine Pariser Wohnung hatte, erfuhr ich erst später …
Hier ein Video, das einen Eindruck auch von Foucaults Wohnung in der Rue de Vaugirard gibt.

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Einige Tage mit dir
1. Conti & co.
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Hamburg

Fröhliche Weihnacht 2011

Frohe Weihnachten und einen guten Start in’s Jahr 2012 wünschen

Frank und Ulli

… bei uns hat die Fee des bunten Kitsches dieses Jahr bei der Baum-Gestaltung hilfreich zur Seite gestanden ;-))

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Persönliches

Stute und Hengst laden ein …

„Du bekommst ja seltsame Einladungen …“, mit etwas spitzem Blick reicht Frank mir lachend einen Brief. „Sexparty im Advent?“

Ich schaue den Brief an, mir schreiben tatsächlich „Stute und Hengst“, und zwar mit dem fett gedruckten Hinwies „Du bist lange genug brav gewesen„.

Na ja, das Jahr, besonders der Sommer und Herbst waren anstrengend genug, viel Arbeit und kein Urlaub … ja, brav waren wir 🙂

Allerdings, nun fand ich es immer etwas ominös, sich als schwuler Mann auf ein Tier zu reduzieren, ich möchte weder als Stute noch als Hengst definiert werden. Aber ich kenne durchaus das (nicht nur Berliner) Nachtleben mit seiner grossen Auswahl auch an diversen Parties, und eben auch dem „F…stutenmarkt“.

Doch – woher haben die meine Adresse?
Und warum schicken die Party-Einladungen jetzt schon mit der Post?

Irritiert schaue ich auf den Brief.

Da gibt es „neue Modelle“, sie sprechen von einen „Weihnachtsbaumverkauf“ und laden ein zum „Wintergrillen“.

Seltsame Sexparty …

… bis mir das abgebildete Motorrad auffällt.

Nun ja, auch das ist ja durchaus ein schwuler Fetisch. Motorrad, Enduro, Helm und Leder … so mancher echter oder Möchtegern- GayBiker lässt sich gerne in der Szene bewundern. Aber dass sich die schwulen Biker jetzt mit dem Sex-Party-Veranstalter zusammen getan haben?

Und im Januar des kommenden Jahres soll es sogar noch „neue Modelle“ geben – nicht nur zum Schauen, sondern explizit auch „zum Anfassen“.

Der Holzweg meiner Gedanken entrümpelt sich so langsam. Mir schwant etwas.
Schon als ich mit Erich meine Varadero kaufte (mein heiß geliebtes Motorrad bevor ich die CBF hatte …), grinsten wir und machten den ein oder anderen Gaudi über den Namen des Händlers … eben „Motorrad Stute“ …

Und Motorrad Stute hat sich nun zusammen getan …
… mit BMW Hengst.

Und so kommt es, dass Hengst und Stute zum Weihnachtsbaumverkauf mit neuen Modellen und professionellem Fotoshooting einladen … und alles ganz unverfänglich, es geht eben nur um Motorräder … und um Phantasie …

Ulli
Rast am Müggelsee / Rübezahl

(Foto: Ulli 2006 am Müggelsee)

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Deutschland

Kiel – Wasserpolo im November

Kiel - Wasserpolo im November
Kiel – Wasserpolo im November
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Kulturelles

Marcks und Barlach in Wismar

Gerhard Marcks und Ernst Barlach in Wismar : Die „Gemeinschaft der Heiligen“ 1932 von Ernst Barlach, 1949 vervollständigt von Gerhard Marcks, zieren die  Westfassade von St. Katahrinen in Lübeck. Entwürfe für die Plastiken sind seit 2009 auch in Wismar zu sehen, in St. Nikolai:

Ernst Barlach 'Der Wanderer', 'Der Erwartende', Terrakotta-Mopdelle 1927; St. Nikolai Wismar
Ernst Barlach ‚Der Wanderer‘, ‚Der Erwartende‘, Terrakotta-Modelle 1927; St. Nikolai Wismar
Gerhard Marcks 'Schmerzensmann', 'Brandstifter', 'Mutter mit Kind', 'Kassandra', 'Jungfrau', 'Prophet'; Terrakotta-Modelle 1946, St. Nikolai Wismar
Gerhard Marcks ‚Schmerzensmann‘, ‚Brandstifter‘, ‚Mutter mit Kind‘, ‚Kassandra‘, ‚Jungfrau‘, ‚Prophet‘; Terrakotta-Modelle 1946, St. Nikolai Wismar

Die Plastiken stammen aus der Privatsammlung von Günter Lucht (Görnitz) und sind seit 2009 in St. Nikolai in Wismar zu sehen.

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HIV/Aids

Ulli im Interview, Dezember 2011: HIV in deutschen Arztpraxen (Henning Bulka)

Zum Welt-Aids-Tag 2011 hat Henning Bulka für detektor.fm über die Diskriminierung von HIV-Positiven in Arztpraxen berichtet. Dazu hat er Silke Eggers (Deutsche Aids-Hilfe) und mich interviewt.

detektor.fm: HIV in deutschen Arztpraxen

Ulli Würdemann ist 52 Jahre alt, lebt in Berlin, und er ist HIV-positiv. Mitte der 90er-Jahre war er dadurch schwer erkrankt. Doch mittlerweile geht es ihm wieder besser, und seit einigen Jahren schreibt er über sein Leben und das Leben anderer mit dem HI-Virus auf seinem Blog ondamaris.de – Ein Thema dabei immer wieder: Der Umgang von Ärzten mit HIV-positiven Patienten. Denn der ist nicht immer so problemlos, wie man meinen mag. Zwar sind HIV-Patienten in den meisten Fällen bei sogenannten Schwerpunktärzten in Behandlung – die kennen sich mit dem Thema aus. Doch gerade bei Zahnärzten gibt es immer wieder Probleme: Patienten werden abgewiesen, oder mit übertriebener Vorsicht behandelt. Laut Würdemann häufig aus Angst.

„Ich glaube, die Angst basiert erstmal auf einer Uninformiertheit über Infektionswege. Es gibt sowohl Angst natürlich des Personals, sei es der Zahnarzthelferinnen oder auch des Zahnarztes/der Zahnärztin selbst, sich zu informieren [Anm. d. Red.: wahrscheinlich eher ‚infizieren‘], natürlich aber auch ihre Patientinnen und Patienten, die vor- oder hinterher behandelt werden, in irgendeiner Form zu gefährden. Es gibt natürlich aber auch dann die Angst, vielleicht: Wenn es bekannt wird, dass in meiner Praxis Positive behandelt werden, was passiert denn dann, kommen denn dann die Patienten überhaupt noch?“

Solche Sorgen kann Würdemann zwar verstehen – schließlich habe jeder Ängste, und HIV sei für den Normalbürger eben doch etwas, womit er vielleicht noch nie zu tun hatte. Gleichzeitig appelliert der Berliner jedoch auch an Ärzte und Personal, sich besser zu informieren.

„Wir leben jetzt im Jahr 30 mit AIDS, und insbesondere von Ärzten, die medizinisch ausgebildet sind, die sich auch fortbilden müssen, erwarte ich eigentlich, dass sie zumindest grundlegende Informationen über Infektionswege kennen, und auch wissen, dass für sie, für ihr Personal und für ihre anderen Patienten dort kein Risiko besteht, wenn sie die Standardvorschriften einhalten.“

Standardvorschriften der Hygiene: Dazu zählt etwa das Tragen von Handschuhen. Diese und andere Vorkehrungen genügen, um für einen effektiven Schutz des Personals und der anderen Patienten zu sorgen. Das gilt übrigens auch im Krankenhaus, denn HIV ist kein einfach zu übertragender Virus. Besondere Hygienestandards für HIV gibt es deshalb nicht, und Vorsichtsmaßnahmen wie etwa eine Quarantäneunterbringung sind völlig überzogen. Silke Eggers ist Sozialarbeiterin bei der Deutschen AIDS-Hilfe, und auch sie fordert gerade von Zahnärzten, Ärzten allgemein und Personal einen rationaleren Umgang mit dem Thema HIV.

„Wenn ich Ängste hab, dann muss ich mich informieren, und dann muss ich dadrüber mich fortbilden, mich weiterbilden, nachfragen, und dann muss ich irgendwann rational sagen: Ich habe keinen Grund für diese Angst.“

Die andere Seite von Diskriminierung HIV-Positiver in der Arztpraxis: Patienten, die solche diskriminierenden Erfahrungen einmal gemacht haben, sind häufig frustriert und verärgert, wie Ulli Würdemann berichtet.

„Eine Folge, die auch sehr kontraproduktiv ist, dass sich manche Positive natürlich sagen: Beim nächsten Zahnarzt sag’ ich’s einfach nicht. Das heißt, die konstruierte Risikosituation ist die gleiche, aber der Zahnarzt weiß nichts. Das ist doch kein Fortschritt. Also, das Verschweigen kann sicherlich kein Weg sein, und auch Zahnärzte müssen ein Interesse daran haben, dass Positive offen damit bei ihnen in der Praxis umgehen.“

Doch wie ist die Rechtslage: Dürfen Ärzte die Behandlung von Patienten aufgrund ihres positiven HIV-Status ablehnen? In den meisten Fällen: Nein. Privat abrechnende Praxen haben zwar freie Patientenwahl, normale Kassenärzte dürfen Patienten aber nicht wegen ihres HIV-Status abweisen – trotzdem passiert es immer wieder, wenn auch häufig unter Angabe anderer Gründe.

Um Ängsten auch in Zukunft weiter entgegenzuwirken, fordert Silke Eggers von der AIDS-Hilfe mehr Engagement von den Verbänden, in denen Ärzte organisiert sind.

„Zu sagen: Wir machen Veranstaltungen dafür, wir holen uns die Fachleute, die im Bereich AIDS-Hilfe und im Bereich HIV-behandelnder Ärzte sind, da ran und machen Fortbildungen für unsere Ärzte. Bei Ärzten wissen Sie ja: Wofür es Punkte gibt, Fortbildungspunkte, da wird auch eher zu gekommen, und vielleicht kann man dann auch mal eine Veranstaltung verpflichtend machen für Ärzte.“

Anreize schaffen, sich mit dem Thema HIV auseinanderzusetzen, und dabei den Dialog zwischen Ärzten und Patienten fördern – das ist der Wunsch und die Botschaft von HIV-Positiven und AIDS-Hilfen – um Vorurteilen und Unwissenheit vorzubeugen, und so Diskriminierung von HIV-Positiven schon im Keim zu ersticken. Silke Eggers.

„Dass drüber gesprochen wird, und dass Ängste, die erst einmal verständlich sind, einfach auch angesprochen werden und Leute sich trauen, ihre Fragen zu stellen und im direkten Miteinander und im Klären dieser Fragen können Ängste dann ganz häufig ja auch verschwinden. Aber, ein Totschweigen des Themas oder Nicht-drüber-reden wollen, das schürt immer nur weiter irrationale Ängste.“

Henning Bulka: detektor.fm: HIV in deutschen Arztpraxen
detektor.fm: Welt-Aids-Tag: wie aufgeklärt ist der Umgang mit HIV in deutschen Arztpraxen?

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