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die FHAR (Front homosexuel d’action révolutionnaire)

Zuletzt aktualisiert am 6. Juli 2021 von Ulrich Würdemann

Der FHAR (Front homosexuel d’action révolutionnaire) war Anfang bis Mitte der 1970er Jahre die bedeutendste Gruppierung der französischen Schwulenbewegung. Aktivisten des FHAR waren später an zahlreichen Projekten von Gaie Pied bis Frequence Gaie maßgeblich beteiligt.

Der Front Homosexuel d’Action Révolutionnaire (FHAR; offiziell ‚Fédération Humaniste Anti-Raciste‘) war ein im Februar / März 1971 entstandener (eher lockerer) Zusammenschluss von Schwulen und Lesben. Er entstand in Paris in der Folge der französischen Studentenbewegung (Mai 1968), insbes. aus dem Zusammentreffen schwuler Aktivisten mit lesbischen Frauen aus der feministischen Bewegung, und im Widerspruch und Bruch mit weniger militanten Homosexuellen-Gruppierungen zuvor.

Die Gruppe engagiert sich zu Beginn  stark im Kampf um die Reform des Abtreibungsrechts, stört z.B. am 5. März 1971 eine Versammlung gegen das Abtreibungsrecht. Kurz darauf fand am 10. März 1971  eine RTL-Radiosendung namens ‚Ce douloureux problème, l’homosexualité‚ von Menie Grégoire (‚Homosexualität, dieses schmerzhafte Problem‘) statt. Erst kurz zuvor waren auf Europe1 m.W. erstmals auch Homosexuelle öffentlich in einer Radiosendung auf,getreten u.a. André Baudry von der Homophilen-Gruppe Arcadie. Männer und (vor allem) Frauen der FHAR störten mit Zwischenrufen ‚das ist nicht wahr, wir leiden nicht!‚, die RTL-Sendung wurde unterbrochen. Wenige Tage darauf konstituiert sich der FHAR formell.

Beide Momente gelten inzwischen fast als ‚Gründungsmythos der französischen Schwulenbewegung‘ (auch wenn es zuvor bereits ab 1954 ‚Arcadie‘ gab). Beide markierten eine ‚Revolte gegen die Inhaber des offiziellen Normalisierungs-Diskurses‘ (Roussel). Feministinnen, Lesben und Schwule arbeiten zu Beginn intensiv zusammen.

Les homosexuels en ont marre d’être un « douloureux problème ». Ils veulent faire éclater la famille patriarcale, base de cette société préoccupée de thérapeutique.
(Die Homosexuellen haben es satt ein ’schmerzhaftes Problem‘ zu sein. Sie wollen die patriarchalische Familie zum Einsturz bringen, die Grundlage dieser therapiebedürftigen Gesellschaft ist. Übers. UW)
(erstes Communiqué der FHAR)

Im Manifest der Gruppe, veröffentlicht im April 1971 in der linksradikalen Zeitschrift Tout! (Ausgabe Nr. 12; und angelehnt an das ‚Manifest der 343‘ im Umfeld der Bemühungen um Reform des Abtreibungsrechts in Frankreich), heißt es

Nous sommes plus de 343 salopes
Nous nous sommes faits enculer par des Arabes
Nous en sommes fiers et nous recommencerons.
(Wir sind mehr als 343 Schlampen
Wir haben uns von Arabern in den Arsch ficken lassen
Wir sind stolz darauf und wir werden weitermachen
(Übers. UW)

Flugblatt der FHAR 1971
Flugblatt der FHAR 1971, Manifest

10.000 Exemplare der Zeitschrift (von 50.000 Exemplaren Auflage dieser Ausgabe) wurde daraufhin beschlagnahmt, Herausgeber (directeur de publication) Jean-Paul Sartre auf Veranlassung des Innenministers Raymond Marcellin wegen ‚Verstoß gegen die guten Sitten‘ sowie ‚Pornographie‘ angeklagt. Im Juli 1971 führte eine Entscheidung des Verfassungsrats zur Meinungsfreiheit zur Einstellung der Ermittlungen.

Zum 1. Mai 1971 fordert die Gruppe

A bas la dictature des “normaux” !“
(Nieder mit der Diktatur der ‚Normalen‘!)

In der ersten Hälfte der 1970er Jahre galt der FHAR als ‚das radikale Gesicht der französischen Schwulenbewegung‘. Er bekämpfte früh Heterosexismus sowie Medikalisierung der Homosexualität (ein Thema auch im aus dem FHAR-Umfeld entstandenen Film ‚Race d’Ep‘), störte aber auch Treffen der kommunistischen PCF (mit dem Vorwurf antischwulen Verhaltens). Der FHAR trug wesentlich mit dazu bei ein neues Bild von Homosexuellen in Frankreich zu entwickeln.

„Ihr normalisiert uns nicht!“

Einen Eindruck von der FHAR gibt dieses Video der Feministin und Dokumentarfilmerin Carole Roussopoulos (1945 – 2009) aus dem Jahr 1971 (!) [leider nicht mehr online verfügbar].

Der FHAR entstand in Paris, wo sie sich überwiegend in der École des Beaux Arts traf. Sie war aber auch in der ‚Provinz‘ aktiv; Gruppen etablierten sich u.a. in Aix-en-Provence, Lille, Lyon, Nantes, Nizza, Rennes, Toulouse und Tours.

Im Juni 1973 folgen zahlreiche Mitsteiter der FHAR einer Einladung der HAW nach West-Berlin, nehmen an der Woche der homosexuellen Sichtbarkeit teil. Sie nehmen am 9. Juni 1973 an der ersten Schwulen-Demonstration in Berlin auf dem Ku’damm teil, die unter dem Motto ‚Wir sind wie ihr‘ stattfindet. Die französische Delegation, überwiegend im Fummel, Hocquenghem rufend ‚Des Volkswagen rose pour tous!‚ (Rosa Volkswagen für alle‘), gilt bald als anarchistisch – und wird zum Mit-Auslöser des ‚Tuntenstreits‚ zwischen integrationistischem und radikalem Teil schwuler Bewegung.

1972 wurde das erste aus dem FHAR heraus entstandene Buch, der ‚Rapport contre la normalité‚ (Bericht gegen die Normalität), verfasst von Françoise d’Eaubonne 8in den 1960er Jahren Mitglied bei Arcadie), Pierre Hahn und Guy Hocquenghem, verboten. Es enthielt im wesentlichen die Texte aus der beschlagnahmten Ausgabe von ‚Tout!‚.

Mitte der 1970er Jahre waren zunehmend mehr (schwule) Männer in der FHAR aktiv geworden, was die ursprüngliche Balance einer aus der Frauenbewegung wie auch Schwulenkreisen hervorgegangenen Gruppierung zunehmend erschütterte. Im Februar 1974 fand die letzte Generalversammlung des FHAR statt.

Kurz darauf untersagte die Polizei weitere Treffen der Gruppe an der École des Beaux-Arts in Paris. Die Gruppe zerteilte sich. Im wesentlichen waren zahlreiche Mitglieder/innen nachfolgend aktiv in der (mit zahlreichen lokalen Gruppen in ganz Frankreich aktiven) Groupe de libération homosexuel bzw. bei den Gouines rouges (einer im April 1971 gegründeten radikal-feministisch – lesbischen Gruppierung). Zahlreiche Mitstreiter des FHAR engagierten sich an der Reform-Universität Vincennes (wie Hocquenghem, Schérer, Guyotat oder Lapassade). Ab 1976 trat die FHAR nicht mehr in Erscheinung.

Prolétaires de tous les pays, caressez-vous !
(Proletarier aller Länder, liebkost euch!; einer der Slogans der FHAR, Übers. UW)

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Die FHAR – Aktivisten mit weitreichender Wirkung

Zu den Aktivist/innen der FHAR und deren Umfeld gehörten u.a. Guy Hocquenghem, Christine Delphy, Françoise d’Eaubonne (frz. Feministin, 1920 – 2005), Daniel Guérin, Anne-Marie Grélois, Pierre Hahn, Laurent Dispot, Hélène Hazera, Jean Le Bitoux, René Schérer, Patrick Schindler und Yves Hernot.

Einer der bedeutendsten Aktivisten der FHAR war der 1946 in Paris geborene Soziologe Guy Hocquenghem (u.a. Le désir homosexuel / Das homosexuelle Verlangen), der 1979 Mit-Autor des vierteiligen Dokumentarfilms Race d’Ep (‚ein Jahrhundert Bilder der Homosexualität‘) war.

Jean Le Bitoux, 2010 verstorbener Schwulen-Aktivist und einer der Gründer des legendären Schwulenmagazins Gai Pied, gründete in den 1970er Jahren eine Regionalgruppe des FHAR in Nizza.

Aus dem Umfeld der FHAR (Groupe 11) entstand u.a. die Zeitschrift ‚L’Antinorm‘‚ (pdf der ersten Ausgabe Dezember 1972 / Januar 1973 hier) oder der ‚Rapport contre la normalité‚ (Bericht gegen die Normalität; 1971, Besprechung der Neuauflage online).

Mehrere Aktivisten der FHAR (darunter Hocquenghem und Copi) gehörten 1981 zu den Gründern des schwulen Radios ‚Frequence Gaie‚.

die FHAR – Nachwirkungen

Unter dem Titel “Drei Milliarden Perverse“ veröffentlichten Bernhard Diekmann und Francois Pescatore 1980 eine Sammlung von Texten, die in Frankreich erstmals 1973 veröffentlicht wurden und überwiegend aus dem engeren Umfeld des Front Homosexuel d’Action Révolutionaire entstammen.

Zur Bedeutung der Gruppe siehe auch Yves Roussel (1995): ‚Le mouvement homosexuel français face aux stratégies identitaires (pdf).

Alessandro Avellis erzählt 2005 in seinem Film ‚Ma saison Super 8‚ von der FHAR; der Film ist den Aktivisten Guy Hocquenghem und Françoise d’Eaubonne gewidmet.

Eine wesentliche Rolle spielt die FAHR und ihre Geschichte im 2006 erschienenen Dokumentarfilm ‚La Révolution du désir‚ von Alessandro Avellis, der u.a. auch das ‚Lied der FHAR‘ zitiert (gesungen von Françoise d’Eaubonne, Ausschnitt aus dem Film ‚La révolution du désir‚, Trailer):

Bedeutung und Geschichte der Gruppe sind auch heute in Frankreich präsent – so hier die Ankündigung einer Veranstaltung über die FHAR 2015 in Bordeaux:

Die Geschichte der FHAR, Ankündigung für eine Veranstaltung in Bordeaux, September 2015
Die Geschichte der FHAR, Ankündigung für eine Veranstaltung in Bordeaux, September 2015

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Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

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