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Homosexualitäten Paris

citizen gay – David Girard (1959 – 1990)

Zuletzt aktualisiert am 2. November 2022 von Ulrich Würdemann

Er prägte das schwule Nachtleben von Paris Ende der 1980er Jahre wie kaum ein anderer: der Geschäftsmann David Girard. Als einer der ersten baute er ein ’schwules Imperium‘ auf. Als ‚König des schwulen Nachtlebens‘ erwarb er sich den Spitznamen ‚citizen gay‘ oder ‚citoyen gai‘.

David (Jacques) Girard wird 1959 in der Kleinstadt Saint-Ouen nordwestlich von Paris (Départment Seine-Saint-Denis) geboren. Sein Vater ist ein aus Tunesien stammender Jude, seine Mutter arbeitet als Prostituierte. 1974, David ist 15 Jahre alt, stirbt seine Mutter. Er verläßt die Schule, schlägt sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durch, bevor er nach Paris umzieht und als Jungkoch arbeitet.

David Girard

Mit 21 beginnt er als Stricher auf der rue Saint-Anne und im Bois de Boulogne zu arbeiten – ein Anfang einer Karriere als Geschäftsmann, den er auch später (ebenso wie die Arbeit seiner Mutter) nie leugnet.

Je ne sais pas si c’est vraiment le plus vieux métier du monde, en tout cas, c’est celui que faisait ma mère.
(Ich weiß nicht, ob es wirklich das ‚älteste Gewerbe der Welt‘ ist, auf jeden Fall war es das, was eine Mutter machte. Übers. UW)

Beginn des Textes auf der Rückseite des Außenumschlags seiner Autobiographie

Girard baut in den 1980er Jahren ein Imperium an Unternehmen auf. Er wird der vermutlich erste Schwule in Frankreich, der so breit und erfolgreich auf Sex als Geschäftsmodell setzt. David Girard – eine Ikone des schwulen Sex-Lebens des Paris der 1980er Jahre.

1985 startet er auf Minitel, dem 1992 eingeführten französischen Btx, die erste elektronische schwulen Kontaktbörse überhaupt mit ‚3615 code Gay‚. Im April 1986, im Alter von 27 Jahren, veröffentlicht er seine Autobiographie ‚Cher David – les nuits de ‚citizen gay‘‚.

Am 8. Januar 1986 ist David Girard einer der interviewten Geschäftsmänner in der Sendung ‚Moi Je‚ auf Antenne 2 über das ‚Gay Bizness‚ (Video, ab Minute 7:10). Er wird angekündigt als ‚David Girard, völlig nackt in seinem Jacuzzi sitzend, spricht über sein auf der ‚Vermarktung des Arsches‘ aufbauendes Imperium‘. Kurz zuvor hat er sein Imperium um ein Restaurant ergänzt, das ‚David‚.

Im Juni 1987 erscheint die erste Dance Music Single von David Girard, ‚Love Affair‘. Eine weitere House Music Singel, ‚White Night‘, folgt 1989.

David Girard stirbt am 23. August 1990 in Paris. Er wird in seiner Geburtsstadt Saint-Ouen beigesetzt. In einer der Trauerreden heißt es (Robert Aldrich zufolge)

„Zu jung, zu reich, zu berühmt um zu sterben, streifte David wie ein Komet durch die schwule Nacht.“

David Relax – vom Stricher zum Massage-Salon

1980 beginnt David Girard zunächst auf der Rue Saint-Anne sowie im Bois de Boulogne als Stricher zu arbeiten, bald auch über Kleinanzeigen im Gai Pied. Er hat Erfolg, kann Geld beiseite legen. Nach einer Ausbildung als Kosmetiker eröffnet er 1981 das Massage-Studio ‚David-Relax‚, in dem er auch selbst als Prostituierter arbeitet.

King und King Night

Schon bald entsteht aus dem Massagestudio heraus eine Sauna – die Le King Sauna. Sie erhält bald Zuwachs:

Im März 1983 öffnet David Girard nahe der Metro-Station Guy Môquet seine zweite Sauna, die ‚Le King Night‚. Der ‚kleine Bruder‘ der King Sauna ist bereits die 16. schwule Sauna in Paris zu dieser Zeit. Allerdings zeigt sich schnell, dass Girard ein Gespür für Marktlücken hat: die King Night ist die erste nachts geöffnete schwule Sauna. Bald wird sie ein großer Erfolg.

Allerdings löst er auch eine größere Krise im Schwulenmagazin Gai Pied aus: kann ein Magazin für Schwule Anzeigen eines Geschäftsmanns akzeptieren, der in seiner Sauna King Night Ausländern und Personen über 40 Jahren den Zutritt verwehrt? Oder wird so in Zeiten der ‚gay liberation‘ eine erneute Diskriminierung befördert? Ein Teil der Redaktion verläßt über diesen Streit das Magazin.

Am 10. Januar 1991 kommt es zu einem von der Finnischen Sauna ausgehenden Brand in der King Night – die Sauna schließt und wird nie wieder geöffnet.

5/5 und Gay International (GI)

1983 startet David Girard das erste Gratis-Schwulen-Magazin Frankreichs unter dem Namen ‚5/5‚. Es wird in ganz Frankreich vertrieben (und soll vor allem auch seine Unternehmen mit vermarkten). Und 5/5 ist das erste schwule Gratis-Journal Frankreichs, einzig aus Anzeigen finanziert. Zwischen September 1983 und Juli/August 1985 erscheinen insgeamt 24 Ausgaben.

Im Oktober 1984 erscheint die erste Ausgabe von GI oder Gay International. Herausgeber und Chefredakteur ist David Girard, das Magazin wird in ganz Frankreich am Kiosk verkauft. GI erscheint bis 1988 (Ausgabe 45/46, Juli/August 1988).

Ab Ausgabe 11 (September 2985) geht 5/5 in GI auf. Zeitweise (September 1987) erscheint als Beilage die ‚Megatown News‚ (ein Magazin zu seiner Groß-Disco, s.u.).

Zwischen 1983 und 1985 wird zudem als Beilage sowohl zu 5/5 als auch GI ‚Viva Paris! : le guide gratuit offert par 5/5 et G.I.‚ publiziert, ein Führer durch das schwule Leben von Paris.

Öffentliche Aufmerksamkeit erfahren GI und Torso im Jahr 1988. Innenminister Charles Pasqua versucht im Januar Werbung für beide Publikationen verbieten zu lassen. Der Versuch scheitert

Haute Tension (1983 – 1987)

Am 14. Dezember 1983, David Girard ist 24 Jahre alt, eröffnet in der 87, rue Saint-Honoré eine neue Diskotheque, das Haute Tension. Es wird der direkte Konkurrent des nur wenige Meter entfernten und sehr beliebten The Broad.

Am 31. Mai 1987 schliesst das Haute Tension. Doch schon wenige Tage später …

Megatown (1987 – 1990)

Am 20. Juni 1987, dem Tag des Gay Pride in Paris, eröffnet David Girard ‚Megatown‚. In den Räumen des früheren Kino Louxor (boulevard Magenta) hat David Girard am 2.000 m² die zur damaligen Zeit größte schwule Disco Europas entstehen lassen. 3.800 Personen kommen bei freiem Eintritt zur Eröffnung.

Das Louxor war einst ein bekanntes Kino, dessen Chef noch 1980 im Quotidien de Paris versicherte, sein Kino sei ‚nun nicht mehr solch ein Homosexuellen-Treffpunkt wie vor zehn Jahren‚. Bereits 1986/87 wurde hier die Discothek La Dérobade betrieben. Dessen Betreiber Daniel Le Glaner bleibt auch Geschäftsführer der neuen Disco, während David Girard und sein Team sich um Animation und Clubleben kümmern.

Das Megatown liegt an der Metrostation Barbés – weit entfernt von den bei Schwulen beliebten Vierteln Les Halles und Marais. Girard reagiert – und richtet zur Eröffnung einen gratis Shuttle-Service mit Bussen im Viertelstunden-Takt ein, von 23:00 Uhr abends bis in den Morgen um 6:00 Uhr.

Doch das Megatown ist sehr groß – zu groß um auf Dauer die Kosten zu decken, zumal Mittwoch bis Sonntag (sonntags mit dem beliebten ‚Tea dance‘) täglich geöffnet ist. Bereits Ende 1987 zieht David Girard sich aus ‚Megatown‚ zurück.

Kurz nach seinem Tod am 23. August 1990 schliesst das Megatown.

Lune de Fiel – let’s talk about sex

1987 startet David Girard eine Radiosendung auf dem Radiosender FG (Futur Génération, vormals Fréquence gaie). Unter dem Namen ‚Lune de Fiel‚ können jeden Dienstag Abend Hörer (heterosexuell wie homosexuell) anrufen, um mit David Girard und Ko-Moderatorin Zaza Dior über sexuelle Probleme zu sprechen.

Die Sendung, die bis September 1989 im Programm ist und oft Züge von ‚trash‘ hat, wird schnell besonders bei jungen Menschen äußerst beliebte und viel diskutiert.

Lune de Fiel – die letzte Stunde der letzten Sendung, David Girard und Zaza Dior im Gespräch:

David Girard – erfolgreich aber umstritten

David Girard ist nicht unumstritten in der Pariser Schwulenszene. Er ist auf eine Art emanzipiert, die aneckt. Oft wird ihm Größenwahn vorgeworfen. Aktivisten kritisieren ihn, er würde der Kommerzialisierung der Schwulenszene, Jugendwahn und ’sexuellem Hedonismus‘ Vorschub leisten. Er wird (oft verächtlich gemeint) als ‚König des kommerzialisierten Cruisings‘ bezeichnet.

Auf Vorwürfe, er mache aus der schwulen Sehnsucht nach Sex seinen kommerziellen Erfolg, entgegnet Girard, er sei ‚nur ein Geschäftsmann, der sich bemühe seine Kundschaft zufrieden zu stellen‚.

Der Soziologe und Schwulenaktivist Guy Hocquenghem kritisierte David Girard (den er als ‚le petit limonadier‚ (der kleine Sprudel-Verkäufer; UW) verunglimpft) im März 1985 im Gai Pied unter dem Titel ‚Une ancienne pute‚ (eine alte Hure; UW)

„Monsieur Girard, ne montez pas au-dessus de la ceinture. Puisque vous faites votre argent dans le sperme, je vous en prie, un peu d’esprit de conséquence. Non, non, ne vous relevez pas,  vous êtes, j’en suis sûr si naturel, à genoux dans la vapeur.“
(Herr Girard, gehen Sie nicht höher als der Gürtel. Denn Sie verdienen Ihr Geld mit Sperma, also ich bitte Sie, seien Sie ein bisschen konsequent. Nein, nein, stehen Sie nicht auf, Sie knien  sicherlich, da bin ich mir sicher, gerade im Dampfbad.; Übers. UW)

David Girard und Aids

Besonders umstritten, teils offen angefeindet ist David Girard Mitte und Ende der 1980er Jahre – wegen seiner Haltung in der Aids-Krise.

Im November 1984 titelt das Editorial seines Magazins GI ‚Merde au sida‚. Vier Wochen später, Ende 1984 schreibt er in GI (Ausgabe Nr. 2 Dezember 1984)

„Le sida est un fantasme inventé par la droite reaganienne pour stopper le mouvement homosexuel.“
(Aids ist eine von der Reagan-Rechten erfundene Phantasie, um die Schwulenbewegung aufzuhalten; Übers. UW)

1988 kommt es zu einem spektakulären Schritt – nahezu sämtliche schwulen und lesbischen Gruppierungen nehmen nicht am Gay Pride von Paris am teil. Der Grund: in diesem Jahr wird der Gay Pride von David Girard organisiert und finanziert. Und Aids wird mit keinem Wort erwähnt. Außer einem: Girard reklamiert vom Wagen seiner Discothek Haute Tension herunter „Merde au sida!“ – eine Formulierung die er schon ins einem berühmt gewordenen Artikel in GI vom Dezember 1984 (s.o.) benutzt hatte. Von vielen wird dies später als Höhepunkt der Leugung (der Bedeutung) von Aids in der französischen Schwulenszene gesehen.

Aktivisten der Aidshilfe-Gruppe Aides und Vertreter von Médecins Gays (Rozenbaum, Leibovitch), die im Januar 1985 mit ihm diskutieren wollen, verweigert er zweimal (am 24. sowie am 30.1.1985) ein Treffen. Er begründet gegenüber Journalisten des Gai Pied

Je n’ai pas vraiment envie de mettre des panneaux d’information sur le sida ou des distributeurs de capotes. Les gens viennent dans les saunas pour se détendre, pas pour s’angoisser.
(Ich habe wirklich keine Lust, Aids-Informations-Plakate oder Kondom-Automaten aufzuhängen. Die Leute kommen in die Sauna um sich zu entspannen, nicht um Angst zu bekommen. Übers. UW)
 

In seiner Autobiographie erläutert er im April 1986 seine Haltung

„Chacun va devoir prendre sa décision. Ne plus rien faire du tout (que ceux qui ont décidé ca lèvent le doigt), s’en tenir à un seul partenaire (bonjour tristesse), ou faire comme si de rien n’était, en se disant que la roulette russe devait être un ‚jeu‘ bien excitant.“
(Jeder muss seine eigene Entscheidung treffen, gar nichts mehr zu machen (wer sich dafür entscheiden hat, möge bitte den Finger heben), sich an einen einzigen Partner zu halten (wie trostlos), oder zu tun als ob nichts wäre und sich zu sagen Russisch Roulette kann auch ein unterhaltsames Spiel sein. Übers. UW)
 
Andererseits – Tausende Kondome werden in den Unternehmen seiner Gruppe gratis verteilt. Mitglieder von ACT UP Paris können (ich erinnere mein Erstaunen, als ACT UP Miglieder mir dies selbst 1989/90 erzählten) ohne Eintritt zu zahlen in seine Betriebe, auch um ihre Flugblätter auszulegen, an ihnen zu arbeiten oder zu telefonieren.
 
David Girard stirbt am 23. August 1990 – offiziell an einem ’schnell wachsenden Hirn-Tumor‘. Auch seine eigene HIV-Infektion und Erkrankung hat er lange nicht wahr haben wollen …
 
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Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

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