20 Jahre ist Jean-Philippe heute tot.
Der Blick in die Sonne, die Liebe, der Bruder im Herzen, die Wärme.
Die Narben all der Schmerzen, der Trauer, des Unbegreiflichen.
Namu Myōhō Renge Kyō
Phi Phi
Kategorie: Persönliches
Zwei Dinge von Kant
“Zwei Dinge erfüllen das Gemüt
mit immer neuer und zunehmender Bewunderung,
je öfter und anhaltender sich das Nachdenken
damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mit
und das moralische Gesetz in mir.
Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt
oder im Überschwänglichen außer meinem Gesichtskreis suchen und bloß vermuten.
Ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar
mit dem Bewusstsein meiner Existenz.”
Immanuel Kant
Kritik der praktischen Vernunft / Beschluss
Königsberg 1781/87
(der erste Satz gleichzeitig Spruch der Kant-Gedenktafel an der Schlossmauer in Königsberg)

Noch kein Herbst
Das Jahr 2007 hat also begonnen, ist inzwischen schon gut drei Tage alt.
Das ‚alte‘ Jahr verabschiedete sich bei mir u.a. mit „Grünkohl afrikanische Art“ [dazu vielleicht später einmal mehr], das ’neue‘ begann mit leckerem polnischem Bier.
Kalle weist mich bloggend darauf hin, dass 2007 (ab dem 18. Februar) nach chinesischem Kalender das Jahr des Schweins sei. Was soll mir das sagen? Ich sehe es als gutes Zeichen – schließlich bin ich auch in einem Jahr des Schweins geboren…
2007 ist aber auch das Jahr, in dem sich der Herbst zum 30. Mal jährt, der ‚Deutsche Herbst‘. Welch seltsamer Zufall, dass eines meiner Weihnachtsgeschenke (ungewünscht, aber sehr begrüßt) „Die Dritte Generation“ (Fassbinder) ist.
Vor 30 Jahren: Deutschland im Herbst‚
Deutschland im Herbst‘, eigentlich war es der Titel eines Films von 1978 – und wurde auch zum Synonym für einen ganzen Abschnitt jüngerer BRD-Geschichte.
Deutschland im Herbst – ich war gerade 18 geworden, begann mich aktiv für Politik zu interessieren. Die Jahre vor diesem Herbst waren eh schon nicht mehr von Visionen und Aufbruch der ersten Brandt-Jahre gekennzeichnet, vielmehr von ökonomischen Problemen, Ölkrisen und Schmidt’schem Krisenmanagement geprägt. Dann dieser Herbst 1977 und die folgenden Monate. Wie viele andere auch bekam ich das Gefühl, jetzt kippt dieses Land, jetzt geht es wieder los mit Repression, mit „auf welcher Seite stehst du“, mit schwarz-weiß-Malerei statt (gerade erst beginnender) bunter Vielfalt.
Terroristen der (u.a. von Andreas Baader und Ulrike Meinhof gegründeten) Rote Armee Fraktion (RAF) hatten am 5.9.1977 in Köln den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer entführt, um ihn gegen die inhaftierte ‚erste Generation’ der RAF auszutauschen. Die Bundesregierung unter Helmut Schmidt etablierte eine Politik des Nicht-Nachgebens (‚Mit Terroristen ist nicht zu verhandeln’). Mit der RAF verbündete Kämpfer der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) entführten daraufhin, um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, die Lufthansa-Maschine ‚Landshut’.
Am 18.10.1977 stürmte eine Spezialeinheit des BGS, die GSG9, die Maschine, befreite alle Geiseln. Drei der vier Terroristen wurden dabei getötet. Als Reaktion erschossen die RAF-Entführer Hanns-Martin Schleyer. Zur gleichen Zeit starben die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Vielfach wurde behauptet, bei den Todesfällen habe es sich um Exekutionen seitens des Staates gehandelt. Offizielle Untersuchungs- Kommissionen kamen zu einem gegenteiligen Schluss, Zweifel blieben bestehen.
Die Zeit dieser Vorgänge und die Jahre danach waren in der BRD gekennzeichnet von einer politischen Hysterie, die besonders von Presseorganen des Springer-Verlags kontinuierlich geschürt wurde. Der Staat reagierte mit bisher unbekannter Aufrüstung, mit Rasterfahndung, unerbittlicher Härte.
Der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß bezeichnete die Schriftsteller Heinrich Böll und Günther Grass als ‚Ratten und Schmeißfliegen’.
Sobald sie auch nur einen besonnenen Umgang mit der Situation forderten, wurden viele Linke, aber auch Liberale als Sympathisanten oder Unterstützer von Terroristen verunglimpft, beschimpft, verfolgt.
Kaum zehn Jahre nach Willy Brandts ‚mehr Demokratie wagen’ schon wieder ein neues Klima der Repression, Hysterie – selbst im Kleinen, ein laut gerufener Spruch, der mit „Buback Ponto Schleyer …“ begann, konnte schon ungeahnte Konsequenzen bis zum Rauswurf von der Schule haben.
Dieses Klima der Hysterie, Repression und Verfolgung haben Regisseure wie Alexander Kluge, Volker Schlöndorff und Rainer Werner Fassbinder in ihrem Film ‚Deutschland im Herbst’ beschrieben und damit einer Zeit ihren Namen gegeben. Einer Zeit, die immer noch der Aufarbeitung, der Bewältigung harrt.
Eine Zeit, die nun in diesem Jahr schon dreißig Jahre her ist …
Und, um das nicht zu vergessen, immer noch sitzen einige der RAF-Terroristen in Gefängnissen, nach vielen vielen Jahren Knast …
Zum Neuen Jahr… sapere aude!
“Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.”
Immanuel Kant, “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”, 1784
Kant – was soll ich tun?
„Jubiläum Mauerfall“, unübersehbar, unüberhörbar ist dieses Thema immer wieder omnipräsent in den Medien. Berichte à la „wie ich die Wende erlebte“ oder „“wo warst du am 9. November?“ füllen Spalten und Sendeminuten.
Wo war ich in jenen Wochen? Was bewegte mich als in Berlin die Mauer fiel?
Berlin? Damals für mich weit weg, wenig interessant, es sei denn ich war beruflich dort. Viel näher war mir: Paris.
Dort, in Paris gab es einen jungen Mann, der es mir sehr angetan hatte. Mit dem bald eine große Nähe war, die in der Gemeinsamkeit des HIV Serostatus eine weitere Dimension fand.
Ein junger Mann, der im Herbst jenes Jahres 1989 erstmals ins Krankenhaus kam. Ein Ort, den er wegen Lungenentzündungen, bakterieller Infektionen, Toxoplasmose und was Aids und seine Folgen damals alles zu „bieten“ hatten in den folgenden Monaten nur zu oft sehen, erleben müssen sollte. An dem ich ihn so oft es möglich war besuchte, mich abwechselnd mit seinem Mann um ihn kümmerte.
Diese zwölf Monate vom Herbst 1989 bis zum Herbst 1990, sie sind in meiner Erinnerung eine Zeit vieler Aufenthalte in Paris. Wenige von ihnen mit einigen unbeschwerten, glücklichen Momenten. Viele hingegen voller Sorge, Ungewissheit, Angst.
Mauerfall, Wende – all das war weit weg für mich damals. Ein manchmal näheres, meist eher entferntes Grummeln, das ich wohl wahr nahm, das mich allerdings nicht wirklich erreichte.
Ich erinnere zum Beispiel Kollegen, die an den auf den Mauerfall folgenden Tagen und Wochen immer wieder aufgeregt erzählten, wie es in Berlin war, an und auf der Mauer, in den Straßen, in den Clubs. Wie ich, gerade wieder aus Paris zurück, nur hätte erzählen können von einem jungen Mann, der schwerer und schwerer erkrankte, dahin siechte, verfiel. Und den ich liebte. Dessen einst strahlendes jungenhaftes Lächeln zerbröselte zu einem Gesicht voller Trauer und Hoffnunglosigkeit. Ich hielt meist den Mund bei den Mauerfall – Erzählungen der Kolleg_innen. Zu wenig passten ihre aufgeregten, freundvollen, überschäumenden Geschichten mit meiner eigenen Realität zusammen.
Mein Bezug war in diesen Monaten 1989 / 1990 weniger Berlin, mein Horizont lag weiter westlich. Viele Stunden, Tage, Wochen verbrachte ich in Paris, bei Jean-Philippe.
Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer geöffnet. Der 3. Oktober 1990 ist der Tag des „Wirksamwerdens des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland“ – der ‚Tag der Deutschen Einheit‘.
An diesem 3. Oktober 1990 starb Jean-Philippe in Paris an den Folgen von Aids.
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Was ist von Bedeutung?
Was ist wirklich wichtig?
Eine bedeutende Situation so gespalten zu erleben, wie bei Mauerfall und Wiedervereinigung, es sollte sich noch einmal wiederholen für mich – am 11. September 2001, Nineleven.
tu me manques
Vor einigen Tagen war sein Todestag. Der 19.
Zwanzig Jahre ist Jean-Philippe nächstes Jahr nun schon tot.
Zwanzig Jahre.
Und doch – gelegentlich stehen immer noch gemeinsame Momente vor meinem inneren Auge, schöne wie auch schwierige. Paris Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre.
Zwanzig Jahre.
Claus Gillmann 13.9.1939 – 29.8.1994
Am 29. August 1994 starb der Kölner Theaterwissenschaftler Publizist und Schwulen-Aktivist Claus Gillmann, geboren am 13. September 1939.

Ja haben sie gesagt !
11:31, ja hat er gesagt. Und er auch. Herzlichen Glückwunsch Dominic und Stefan zur Lebenspartnerschaft und alles Gute!
Einige Gedanken über Freundschaft
Freundschaft ist ein Thema, das mich schon seit Jugendjahren bewegt. Interesse für Jungs, Männer – und Freundschaft, das hing irgendwie schon immer zusammen …
“Soweit ich zurückdenken kann, hieß für mich Lust auf Typen haben immer schon Lust auf Beziehungen mit Typen haben” (Michel Foucault 1981 in einem Interview).
Ich war nie ein großer Party-Mensch, fühlte mich nie besonders wohl auf großen Veranstaltungen. Viel lieber ist mir ein Zusammensein im kleinen Kreis, ein Essen, ein Gespräch, einige Stunden Plaudern auf dem Sofa mit einem guten Freund.
Dem Freund und sich selbst gegenseitig Frei-Raum geben für Entwicklung und Wachstum – das halte ich für eine der schönsten Dimensionen von Freundschaft.
Im Folgenden einige lose Gedanken und Zitate rund um ‘Freundschaft’, die mir in den letzten Tagen über den Weg liefen (bzw. zwischen die Lesefinger gerieten), mehr auch als Gedankenskizzen für mich:
Uns selbst geben, Rollen ablegen
“Die Obertöne verklingen, und übrig bleiben Gespräche, die in ihrer Armut den Mangel an Gemeinschaft nicht verbergen können. Aber warum, warum? Wir greifen nach dem anderen. Umsonst – weil wir nie wagten, uns selbst zu geben.” (Dag Hammarskjöld)
Derselbe: “Das Kostüm für deine Rolle, die Maske, die du mit soviel Sorgfalt angelegt hast, um zu deinem Vorteil aufzutreten, war die Mauer zwischen dir und der Sympathie, die du suchtest. Eine Sympathie, die du an dem Tag gewonnen hast, da du nackt dort standest.”
Die Rolle, die ich spiele, das Bild, dem ich gerecht zu werden versuche, der Eindruck, den ich vermitteln will von mir – sie verhindern wie eine Mauer, dass wir offen sind, uns selbst geben, uns einander begegnen. Die Rollen ablegen, einander ‘nackt’, offen ehrlich, als ich selbst gegenübertreten – wagen, uns selbst und dem anderen zu begegnen, das ist einer der Schlüssel.
Neue Freiheit
“In meinem Gespräch mit Jacques verlor ich plötzlich meine Furcht vor dem Leben, alles war mir möglich. … In seiner Gegenwart kroch ich aus meinem Kokon hervor …” (Peter Weiss).
“Was ist denn angenehmer als jemanden zu haben, mit dem du alles wie mit dir selbst zu reden wagst?” (Cicero)
Freundschaft ist meiner Entwicklung, meiner Mensch-Werdung förderlich. Freundschaft gibt mir Kraft und Freiraum, mich zu entwickeln, und die Sicherheit, die es mir erlaubt, in dieser Entwicklung auch mich zu riskieren, auch Irrtümer begehen zu können.
“Jede neue bedeutende Bekanntschaft zerlegt uns und setzt uns neu zusammen. Ist sie von der größten Bedeutung, so machen wir eine Regeneration durch.” (Hugo von Hofmannsthal)
Wahrheit und liebevolle Kritik
“Das ist keine Freundschaft, wenn der eine die Wahrheit nicht hören will, der andere zur Lüge bereit ist” (Cicero).
“Mut zum offenen Widerspruch, aber mit Fühlern dafür, wieviel Aufrichtigkeit der andere gerade noch verkraften kann, und also Geduld” (Max Frisch). Dazu auch “dass der eine den anderen gelegentlich im Unrecht sehen kann, aber deswegen nicht richterlich wird” (Max Frisch).
Ende der Freundschaft?
Foucault spricht von Zuneigung, Zärtlichkeit, Treue, Freundschaft, Kameradschaft und Partnerschaft als “Werten, denen eine schon leicht angeschlagene Gesellschaft keinen Platz mehr zugestehen kann, ohne zu fürchten, dass daraus Bindungen entstehen und Kraftlinien sich unerwartet miteinander verknüpfen.”
Noch deutlicher “Die Industrialisierung der Welt, der totalitäre Staat und der egoistische Materialismus haben heute der Freundschaft ein Ende gemacht; die erstere, indem sie das Tempo der menschlichen Verbindungsmöglichkeiten soweit beschleunigt hat, dass jeder Mann ersetzbar ist, der zweite, indem er solche Ansprüche an das Individuum stellt, dass Kameradschaft zwischen Arbeitern und Kollegen nur für die Zeit ihrer Zusammenarbeit bestehen kann, und der letzte, indem er alles das gewichtig hervorhebt, was in Menschen von Grund auf selbstsüchtig und hässlich ist, so dass wir unsere Freunde unfreundlich behandeln und ihre Vertrautheit übelnehmen, weil etwas in uns vom Wurm zerfressen wird. Wir haben auf Kosten der Treue Mitleid entwickelt.” (Palinurus, i.e. Cyril Connolly)
Freundschaft, Begehren, Beziehung
Ein Thema das mich immer wieder viel beschäftigt … gibt es eine schwule Lebensweise, oder kann ich sie für mich entwickeln?
“Offenbar müssen wir nicht so sehr daran arbeiten, unser Begehren zu befreien, als daran, selbst endlich genussfähiger zu werden. Man muss von den beiden stereotypen Klischees der rein sexuellen Begegnung einerseits und der Identitätsverschmelzung in der Liebe andererseits wegkommen.” (Michel Foucault)
“Vielleicht sollte man eher fragen: ‘Was für Beziehungen können über die Homosexualität aufgebaut, entworfen, erweitert und von Fall zu Fall verschieden gestaltet werden?’” (Michel Foucault)
Beglückend
Zu guter Letzt ein nachdenklich stimmendes Zitat: “Irgendwann einmal habe ich gesagt, ich verstünde mich besser auf Freundschaft als auf Liebe. Liebe beruht auf kurzfristigen Spasmen. Enttäuschen uns diese Spasmen, schwindet die Liebe dahin. Es geschieht nur sehr selten, dass sie die Probe überdauert und zur Freundschaft wird. … Freundschaft ist ein friedlicher Spasmus. Ohne Besitzgier. Das Glück eines Freundes beglückt uns. Es verdoppelt uns. Es entzieht uns nichts.” (Jean Cocteau)
Lesetipps:
Cicero: Lealius – Über die Freundschaft. Übersetzt von Robert Feger. Philipp Reclam Jun. Stuttgart 1995
Foucault, Michel: Von der Freundschaft als Lebensweise – Michel Foucault im Gespräch. Übersetzt von Marianne Karbe und Walter Seitter. Merve Verlag Berlin o.J.
Hammarskjöld, Dag: Zeichen am Weg. Übersetzt von Anton Graf Knyphausen. Droemer Knaur München/Zürich 1965
Michel Foucault: «De l’amitié comme mode de vie» (entretien au «Gai Pied», 1981)
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