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Ulrike Meinhof in Oldenburg

Ulrike Meinhof, Mit-Begründerin der Rote Armee Fraktion (RAF), lebte seit ihrer Geburt 1934 bis 1936 sowie von 1946 bis 1954 in Oldenburg.

Wer waren die Menschen die sie in ihren jungen Jahren begleiteten, wo lebte Ulrike Meinhof in Oldenburg?

File:Ulrike Meinhof als junge Journalistin (retuschiert).jpg
Ulrike Meinhof als junge Journalistin, 1964 (Privates Foto, aus der Sammlung Bettina Röhls, der Tochter Ulrike Meinhofs)

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Ulrike Meinhof (1934 – 1976)

Ulrike Marie Meinhof wurde am 7. Oktober 1934 als zweites Kind eines Kunsthistoriker-Ehepaares in Oldenburg geboren.

Mit ihren Eltern und ihrer drei Jahre älteren Schwester Wienke lebte Ulrike Meinhof in Oldenburg bis 1936 auf dem Marschweg. Als ihr Vater 1936 in Jena die Stelle als Direktor des Stadtmuseums antrat, zog die Familie von Oldenburg nach Jena.

Unerwartet starb der Vater von Ulrike Meinhof Anfang 1940 an Krebs. Mutter und Töchter lebten zunächst weiterhin in Jena; die Mutter nahm ihr Studium wieder auf.

Nach Ende des 2. Weltkriegs zieht Dr. Ingeborg Meinhof 1946 von Jena zusammen mit ihren Töchtern zurück nach Oldenburg, arbeitet als Lehrerin. Sie wird begleitet von ihrer Freundin und früheren Kommilitonin, der Historikerin Prof. Renate Riemeck.

1946 bis 1952 (Umzug nach Weilburg) besucht Ulrike Meinhof in Oldenburg das Gymnasium Liebfrauenschule in der Auguststrasse (die Cäcilienschule, an der ihre Mutter arbeitet, ist zu der Zeit überfüllt, est später wechselt sie hierhin).

Marie-Luise Schmidt, Oldenburgs erster Staatsanwältin, erinnert sich im Januar 2022 an ihre Mitschülerin Ulrike Meinhof auf der Cäcilienschule:

„Als junges Mädchen war sie eine sehr beliebte Mitschülern. … Ulrike las Kant mit zwölf Jahren. Mich interessierten Sprachen. Ich bin noch nie eine große Leseratte gewesen, im Gegensatz zu Ulrike. Aber trotzdem haben wir uns gut verstanden. Ulrike war eine wirklich sehr angenehme Klassenkameradin.“

Marie-Luise Schmidt im Januar 2022

Sie ist in der evangelischen Jugendarbeit aktiv, spielt Geige.

Tue das Gute vor dich hin und frage nicht, was daraus wird. Tschüss.

Ulrike Meinhof, Tagebuch-Eintrag 17. Juli 1949, nach B. Röhl)

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1948 stirbt die Mutter von Ulrike Meinhof an Krebs. Renate Riemeck, die Freundin und Lebensgefährtin der Mutter, wird gesetzlicher Vormund. Sie (nur 14 Jahre älter) nimmt beide Kinder auf, sie wachsen fortan bei ihr auf.

Nach dem Abitur 1955 (Gymnasium Philippinum, Weilburg) studiert Ulrike in Marburg (u.a. bei einem Schüler von Karl Jaspers), ab 1957 in Münster. Dort wird die Mitglied in AStA und SDS.

1959 zieht Ulrike Meinhof von Münster nach Hamburg (zunächst Lurup, später Blankenese). 1960 wird sie Chefredakteurin der Zeitschrift ‚konkret‚ (bis 1964), für die sie seit 1959 schreibt. 1961 heiratet sie Klaus Rainer Röhl, den Eigentümer, Verleger und Herausgeber von ‚konkret‚ (Redaktionsräume ab 1968 Gerhofstraße am Gänsemarkt in Hamburg). Zahlreiche Urlaube verbringen sie auf Sylt.
Am 21. September 1962 kommen Zwillinge zur Welt, Bettina und Regine.

Am 2. Juni 1967 wird bei einer Demonstration gegen den Schah der Student Benno Ohnesorg erschossen.

1968 trennt Ulrike Meinhof sich von Klaus Rainer Röhl, der im Jahr zuvor eine Beziehung mit der Publizistin Danae Coulmas begonnen hatte. Im August 1968 werden ihre beiden Töchter an der Königin Louise Stiftung in Berlin eingeschult.

Nach einen Eklat mit Röhl beendet sie 1969 ihre Mitarbeit bei konkret. Im Wintersemester 1969 nimmt sie einen Lehrauftrag am Institut für Publizistik der FU Berlin an, den sie nicht verlängert. Im Februar 1970 wird im Auftrag des SWF Baden Baden der Film Bambule nach ihrem Drehbuch realisiert. Anfang Mai besucht sie mit ihren Töchtern Freunde in Bremen, macht einen Besuch in Bremerhaven.

Am 14. Mai 1970 ist sie in Berlin an der Befreiung von Andreas Baader beteiligt. Sie geht in den Untergrund. Am 15. Juni 1972 wird Ulrike Meinhof verhaftet.

In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1976 beendet Ulrike Meinhof ihr Leben in der Zelle im Gefängnis Stammheim. Sie wird am 15. Mai 1976 auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof III in Berlin bestattet.

Personen um Ulrike Meinhof in Oldenburg und in ihrer Jugend

Werner Meinhof (1901 – 1940), Vater

Ulrike Meinhofs Vater, der Kunsthistoriker Dr. Werner Meinhof, wurde am 20. Oktober 1901 in Halle als Sohn eines evangelischen Theologen geboren. Nach Studium und Promotion zum Dr.phil. in Halle wurde er 1928 wissenschaftlicher Assistent am Niedersächsischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg. Zum 1. Mai 1933 wurde er überzeugtes Mitglied der NSDAP (vorher Deutschnationale Volkspartei).

In seiner Zeit als Assistent des (Gründungs-) Direktors des Landesmuseums für Kultur und Kunstgeschichte, Walter Müller-Wulckow (1886 – 1964), bemühte sich Werner Meinhof den im nahe gelegenen Dangast lebenden Maler Franz Radziwill zu protegieren und als Vertreter einer neuen (dem NS-Kunstverständnis nahen) Heimatmalerei bekannt zu machen.
Radziwill unterstützte Werner Meinhofs Denunziation und Bemühungen um eine Absetzung von Direktor Müller-Wulkow. 1933 stand Müller-Wulckow kurz vor der Entlassung, Werner Meinhof sollte sein Nachfolger werden. Müller-Wulckow gelang es jedoch im Amt zu bleiben. Radziwill verlor daraufhin Wulckows Wohwollen, Werner Meinhof verließ bald darauf das Museum in Oldenburg.

1936 wurde Meinhof Direktor des Stadtmuseums in Jena. Er ersetzte dort die erste weibliche Museumsdirektorin Deutschlands, Hanna Stirnemann (1899 – 1996), deren Kommilitone er war. Zudem wurde er Leiter der ‚Kreiskulturstelle‘ der NSDAP. An der Universität Weimar hielt er Vorträge über Kunst.

Er propagierte ‚bodenständige Kunst‘ und übergab während seiner Zeit in Jena über 270 Werke Moderner Kunst (darunter 260 Blätter des Brücke-Malers Kirchner) als ‚entartete Kunst‚ für die gleichnamige Ausstellung an die NSDAP.

Am 28. August 1939 wurde Werner Meinhof abkommandiert zum Ernährungs- und Wirtschaftsamt. Das Stadtmuseum hatte keinen eigenen Etat mehr.

Werner Meinhof starb am 7. Februar 1940 in Jena mit 38 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs.

Tilla Hübner geb. Meinhof, Schwester des Vaters

Bei der Schwester ihres Vaters, „Tante Tilla“, und deren Tochter Heidi Leonhardt geb. Hübner war Ulrike als Jugendliche häufiger zu Besuch.

Noch bis in die Zeit ihrer Haft (so 1972 JVA Köln Ossendorf) hatte sie Kontakt zu „Tante Tilda“.

Ingeborg Meinhof (geb. Guthardt, 1909 – 1949), Mutter

Ingeborg Marie Elise Guthardt kam am 9. Juni 1909 in Schwerin zur Welt.

Am 28. Dezember 1928, kurz nach ihrem Abitur, heiratete sie 19jährig Werner Meinhof.

Nach dem Tod Werner Meinhofs (s.o.) studiert sie, unterstützt durch ein Stipendium der Stadt Jena, ab Frühjahr 1940 an der Universität Jena. 1943 wurde sie zur Dr.phil. promoviert.

1945 floh sie mit ihren Töchtern und Freundin Renate Riemeck (s.u.) aus Jena. Kurz arbeitete sie 1945 als Lehrerin in Bad Berneck, zog dann Ende 1945 weiter nach Oldenburg (Ackerstraße 3). Nach dem 2. Staatsexamen arbeitete sie als Lehrerin an einer Höheren Mädchenschule (Cäcilienschule).

Am 2. März 1949 starb Ingeborg Meinhof in Oldenburg an einer Grippe. Sie wurde am 5. März 1949 beerdigt.

Wienke Zitzlaff (geb. Meinhof, 1931 – 2017), ältere Schwester

Wienke Meinhof wurde am 10. Juli 1931 geboren. In Oldenburg besuchte sie die Cäcilienschule, an der ihre Mutter als Lehrerin arbeitet

Nach dem Tod der Mutter verschlechtern sich ihre schulischen Leistungen, sie muss die Schule verlassen. Später holt sie das Abitur nach. Nach dem Studium arbeitet sie als Sonderschul-Lehrerin in der Behindertenpädagogik, später Direktorin an einer Sonderschule für behinderte Menschen im Landkreis Gießen. 14 Jahre lang war sie Vorsitzende des Verbandes Sonderpädagogik LV Hessen.

Nachdem Ulrike Meinhof im Mai 1970 in den Untergrund gegangen war, kümmerte sich Wienke um die Haushaltsauflösung. Später bezeichnete sie Ulrikes Weg als „barbarisch“, blieb ihrer Schwester jedoch immer solidarisch verbunden und bewahrte sich ein vertrautes Verhältnis. Auch in der Zeit im Untergrund hat Wienke „meine Mutter mehrfach getroffen“, so Ulrikes Tochter Bettina. Bettina verbrachte Weihnachten 1973 bei Wienke, wie sie sagt „ein Fiasko, ein leeres hohles Nichts“.

Wienke Zitzlaff zog 1989 aus dem Landkreis Gießen nach Hannover Linden. Sie engagierte sich in der Lesbenbewegung. Gemeinsam mit einer weiteren Frau gründet sie (Vorbereitung 1993 bis 1997) die Stiftung SaPPho, die erste Wohnstiftung von Lesben für Lesben. Sie brachte das Vermögen einer Erbschaft in die Stiftung ein.

Wienke Meinhof starb am 4. März 2017 in Hannover im Alter von 85 Jahren. Ihre Todesanzeige in der Frankfurter Rundschau trug den Titel „Ein bewegtes Leben ist zu Ende“.

Renate Riemeck (1920 – 2003), Ziehmutter und Vormund

Renate Katharina Riemeck wurde am 14. Oktober 1920 in Breslau geboren. Sie wuchs in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie auf. Nach Scheidung der Ehe ihrer Eltern zog sie mit ihrer Mutter nach Plathe (Hinterpommern), besuchte später das Gymnasium in Stettin.

Bei einem Besuch in Jena lernte Renate Riemeck 1940 Ingeborg Meinhof (s.o.) kennen. Bald schon zog sie zur 10 Jahre älteren Ingeborg Meinhof in die Beethovenstraße in Jena. Studierte Germanistik und Kunstgeschichte

Nach Umzug nach Oldenburg (gemeinsam mit Ingeborg Meinhof) und Referendariat wurde sie Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Oldenburg (ab 1969 PH Niedersachsen, ab 1974 Universität Oldenburg). 1955 folgte ihre Berufung an die Hochschule Wuppertal als jüngste Professorin Deutschlands (Geschichte, Schwerpunkt Mittelalter).

1960 war Riemeck Mit-Gründerin der ‚Deutschen Friedensunion‚ (Klein-Partei, 1960 – 1990), aus der sie 1964 wieder austrat. Sie war u.a. gut befreundet mit der Schriftstellerin Luise Rinser (1911 – 2002).

Nach dem Tod von Ingeborg Meinhof 1949 beantragte Renate Riemeck das Sorgerecht für deren beiden Kinder Wienke und Ulrike.

Im November 1971 ermahnte Renate Riemeck (die, so Bettina Röhl, „anthroposophische Kommunistin“) ihre Zieh-Tochter Ulrike Meinhof, den bewaffneten Kampf der RAF einzustellen:

„Du solltest versuchen, die Chancen von bundesrepublikanischen Stadtguerillas einmal an der sozialen Realität dieses Landes zu messen.“

Renate Riemeck, „Gib auf, Ulrike!“, konkret Nr. 24 vom 18. November 1971

Bettina Röhl, Ulrikes jüngere Tochter, beschreibt später das Verhältnis Ulrike Meinhofs zu Renate Riemeck ab 1970 als sehr distanziert, sie sei „zu ihrer Feindin geworden“.

Nach dem Tod ihrer Lebenspartnerin Ingeborg Meinhof begann Renate Riemeck eine neue Partnerschaft mit Holde Bischof (s.u.). Mit dieser lebte sie ab 1970 in Alsbach an der Bergstraße (wo sie Ulrikes Kinder auch mehrfach, so 1971, besuchten).

Prof. Dr. phil. Renate Riemeck starb am 12. Mai 2003 in Alsbach.

Holde Bischof (1926 – 2012), „Tante Holde“

Holde Bischof wurde am 29. Juni 1920 geboren.

Holde Bischof war neue Partnerin von Renate Riemeck (a.o.) nach dem Tod von Ingeborg Meinhof. Mit ihr lebte sie bis zum Tod Riemecks 2003 zusammen (ab 1969 in Eppenhain). Von beiden Kindern Ulrikes, die häufig zu Besuch sind, wurde sie „Tante Holde“ genannt.

Holde Bischof starb am 15. Februar 2012 in Alsbach.

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„Wir glauben, dass der Mensch in jeder Situation, unter jedem System, in jedem Staat die Aufgabe hat, Mensch zu sein und seinen Mitmenschen zur Verwirklichung des Menschseins zu helfen.“

Ulrike Meinhof während ihrer Zeit als Studentin (EigenSinnige Frauen – Zehn Portraits, Wunderlich 1999)

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Ulrike Meinhof war ein Mensch „mit einem schweren Leben, der sich das Leben dadurch schwergemacht hat, daß er das Elend anderer Menschen sich so nahegehen ließ.“

der Theologe Helmut Gollwitzer (1908 – 1993) in seiner Grabrede auf Ulrike Meinhof, Mai 1976

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„Mit allem, was sie getan hat, so unverständlich es war, hat sie uns gemeint.

Gustav Heinemann (1899 – 1976), dritter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, als er vom Tod Ulrike Meinhofs erfuhr [laut Gollwitzer / Nachrufe]

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„Ich kannte sie nicht persönlich. Aber sie hat mich interessiert. Ich habe ein Buch über die Baader-Meinhof-Gruppe gelesen, ‚Hitler’s Children‘, da geht es darum, warum sie so geworden ist und was das mit der Nazi-Generation zu tun hat. Danach hatte ich die Idee, ihr das Lied zu widmen. Ich hielt sie für eine faszinierende Frau, sie hat mich gereizt. Nicht als Terroristin, sondern als Mensch. Sie hatte eine besondere Form der Wut, auf das Leben, auf die Gesellschaft. Ich wollte diese Gefühle ausdrücken, weil ich sie selber hatte. Aber ich wollte sie in einer Form herüberbringen, die keinen Schaden anrichtet. Und ein Lied ist da ein guter Weg.“

Marianne Faithful auf die Frage, warum sie den Titelsong ihres Albums ‚Broken English‘ Ulrike Meinhof gewidmet habe; SZ 30. April / 1. / 2. Mai 2021
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Politisches

Kriegsverbrecher als Bürgermeister – Heinz Reinefarth und Westerland

Der Jurist und Generalleutnant der Waffen-SS Heinz Reinefarth war als SS-Kommandant an der blutigen Niederschlagung des Warschauer Aufstands beteiligt. Ein führender Nationalsozialist und Massenmörder, der nur wenige Jahre nach Ende der NS-Zeit Bürgermeister von Westerland auf Sylt und Landtagsabgeordneter wurde …

Reinefarth war im Juni 1948 mit seiner Frau und zwei Kindern nach Westerland gezogen. 1950 wurde er auf Vorschlag des ‚Heimatbundes Deutscher Ostvertriebener‘ Flüchtlingsbeauftragter von Westerland.

Reinefarth kannte Sylt seit langem, seine Schwiegereltern besaßen seit 1927 ein Ferienhaus im Osten von Westerland.

Ab Dezember 1951 (bis 1964) war Reinefahrth 13 Jahre lang Bürgermeister von Westerland.

„Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass er die im Kraft seines Amtes übertragenen Aufgaben unzureichend erledigt hätte. Andernfalls wäre er 1957 sicherlich nicht für weitere zwölf Jahre in seinem Amt bestätigt worden.“

Susanne Matthiesen, in: Ozelot und Friesennerz, Berlin 2020

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Heinz Reinefarth – ‚Henker von Warschau‘ und später Bürgermeister auf Sylt

Heinz Reinefarth wurde 1903 in Gnesen geboren. 1932 wurde er Mitglied von NSDAP und SS, arbeitet zunächst als Rechtsanwalt und Notar in Cottbus.

1942 wurde er SS-Brigadeführer, beginnt im Hauptamt der Ordnungspolizei.

Während des Warschauer Aufstands 1944 war Reinefarth (damals ‚SS-Gruppenführer‘, entsprechend einem Generalmajor) Befehlshaber zahlreicher SS-Batallione.

Allein die von ihm befehligten Einheiten waren verantwortlich für die Ermordung mehrerer zehntausend Menschen in der Hauptstadt Polens. Später wurde er Festungskommandant von Küstrin (von Hitler persönlich befördert).

1. August 1944 – Warschauer Aufstand

„Jeder Bewohner ist zu töten, es ist verboten, Gefangene zu machen. Warschau soll dem Erdboden gleichgemacht werden, um auf diese Weise ein abschreckendes Beispiel für ganz Europa zu statuieren.“

Befehl Hitler /Himmler vom 1. August 1944 an die SS- und Wehrmachts- Kommandeure

Und Reinefarth, beauftragt mit der Niederschlagung des Aufstands, setzt Himmlers Befehl um.

„Den Auftrag erhielt ich von Himmler. Der Auftrag lautete, den Warschauer Aufstand binnen 48 Stunden niederzuschlagen.“

Heinz Reinefarth, Dokumentarfilm, SFB

Zigtausende Zivilisten wurden vom 5. bis 7. August 1944 auf Befehl von Reinefarth erschossen. Reinefarth wurde mit dem Eichenlaub des Deutschen Ritterkreuzes ausgezeichnet.

Nach der Befreiung von der NS-Herrschaft kam er 3 Jahre in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Er wurde jedoch nie juristisch für seine Verbrechen belangt. Vielmehr wird er 1949 vom Spruchgericht Hamburg-Bergedorf sowie dem Entnazifizierungshauptausschuß Südtondern entlastet.

In Polen galt er längst als ‚Henker von Warschau‚. Nach Kriegsende verlangte die polnische Regierung mehrfach die Auslieferung Reinefarths, des ‚Schlächter von Warschau‘. Die Briten, in deren Besatzungszone sich Reinefarth aufhielt, lehnten eine Auslieferung jedoch ab, ‚aus Gründen der Sicherheit‘.

Jährlich wird am 1. August der Gedenktag für den Warschauer Aufstand begangen.

Karriere in Nachkriegsdeutschland

Im November 1951 wurde Reinefahrt mit den Stimmen der CDU und des ‚Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten‘ Bürgermeister von Westerland auf Sylt (zuvor Mitglied der Stadtvertretung und des Magistrats). 1957 wurde er für weitere 12 Jahre im Amt bestätigt.

1958 wurde er über die Liste der Rechtsaußen- Partei ‚Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten‘ (GB/BHE; Koalitions-Partner der CDU) als Abgeordneter in den Landtag von Schleswig-Holstein gewählt.

1957: der DEFA- Film ‚Urlaub auf Sylt‘ durchbricht die Verdrängung um Heinz Reinefarth

1957 produzierte die DEFA den Dokumentarfilm Urlaub auf Sylt‚. Er setzt sich mit der NS- Vergangenheit von Heinz Reinefarth auseinander (Uraufführung 1.9.1957, erste Fernsehausstrahlung 10.9.57).

Die legendären Dokumentarfilmer Andrew und Annelie Thorndike (1909 Frankfurt am Main – 1979 Berlin und 1925 Klützow – 2012 Wolgast; beide Drehbuch und Regie) realisierten ihn auf der Grundlage von Material des Reichsfilmarchivs, dessen Bestände sich nach Kriegsende in der DDR befanden.

Aufnahmen des damals 53jährigen Reinefarth in Westerland in den 1950er Jahren wurden gegengeschnitten mit Archivmaterial aus seiner Zeit bei Waffen-SS und Polizei in der NS- Zeit sowie der SS- Verbrechen während des Aufstands von Warschau – für dessen Niederschlagung er als Generalmajor der Waffen-SS verantwortlich war.

18 Minuten schwarz-weiß, Musik Paul Dessau (Fassung in englischer Sprache hier, Video mit Altersbeschränkung, nur auf Youtube direkt ansehbar)

Reinefarth kommentierte den Film als ‚kommunistische Propaganda‘. In den folgenden Untersuchungen gab er immer nur genau so viel zu, wie ihm hart bewiesen werden kann.

Heinz Reinefarth wurde in der Folge zum Rückzug aus der Politik gezwungen (1963 Rücktritt als Bürgermeister).

Die Staatsanwaltschaft Flensburg ermittelte ab 1958 gegen ihn. Erste Vorwürfe hatte auch der Rechsthistoriker Hans Thieme bereits 1958 formuliert. Eine Strafanzeige eines Soldaten gegen Reinefarth 1946 war ohne Ermittlungen eingestellt worden.

1961 wurden die Kriegstagebücher der 9. Armee aufgefunden, die die Vorwürfe bestätigten. Forschungen des Historikers Hanns von Krannhals führten zu einer Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens.

Eine direkte Verantwortung für die Massenmorde konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden. 1966 wurden die Ermittlungen eingestellt.

Reinefarth bat den Innenminister Schleswig-Holsteins um Beurlaubung, der dieser am 2. August 1958 entsprach.

Er arbeiteet weiterhin und bis zu seinem Tod als Rechtsanwalt. Er starb 1979 und wurde in Keitum beigesetzt. In Keitum, denn der Pastor von Westerland verweigerte die Beisetzung, offiziell aufgrund seines Kirchenaustritts 1942.

Der Nachruf auf ihn in der ‚Sylter Rundschau‘ sprach ohne Nennung von Kriegsverbrechen von einer ‚weltweiten Diskussion über sein Haltung bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes‘ und betonte seinen Freispruch.

Reinefahrth wurde für seine Verbrechen nie juristisch belangt.

Reinefarths Grabstein wird häufig im Oktober beschmiert.

Reinefarth war nicht der einzige führende Nationalsozialist, der nach 1945 in Schleswig-Holstein Karriere machen konnte. So war Prof. Dr. Werner Heyde, medizinischer Leiter der Euthanasiemorde / Mordaktion T4, unter neuem Namen (Dr. Fritz Sawade) bis zum öffentlichen Bekanntwerden seiner wahren Identität und Verhaftung 1959 als Sportarzt und Gutachter am Landessozialgericht (tlw. in Entschädigungsverfahren von NS-Opfern …) tätig sein.

2013 arbeitet der Historiker Philipp Marti (der 2011 selbst auf Sylt recherchierte) in seiner Dissertation an der Universität Bern den Fall Reinefarth umfassend auf.

2014 wird die Dissertation auch als Buch veröffentlicht („Der Fall Reinefarth: Eine biografische Studie zum öffentlichen und juristischen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Beiträge zur Zeit- und Regionalgeschichte“). Zuvor veröffentlichte er bereits 2011 „Die zwei Karrieren des Heinz Reinefarth – Vom ,Henker von Warschau‘ zum Bürgermeister von Westerland“.

2013 – Post aus Polen

Januar 2013. Pastorin Anja Lochner [die nach 26 Jahren Ende April 2023 nach Konflikten innerhalb der Gemeinde auf Beschluss des Gemeindekirchenrats Sylt verlassen muss) von der Evangelischen Gemeinde Westerland erhält eine Email aus Polen. Sie enthält eine Frage

„Ist Ihnen bewusst, dass Ihr ehemaliger Bürgermeister Heinz Reinefarth der Henker von Warschau ist?“

Pastorin Lochner recherchiert. Erschrickt. Stößt gemeinsam mit der Gemeinde bei der Stadt Westerland eine Aufarbeitung ihrer Geschichte an.

2014: ‚Beschämt verneigen wir uns‘ – Westerland stellt sich seiner Vergangenheit um Heinz Reinefarth

Gedenktafel Westerland Heinz Reinefarth Massenmord Warschauer Aufstand

Diese Tafel wurde am 31. Juli 2014, am Vortag des 70. Jahrestags des Warschauer Aufstands, am Rathaus von Westerland installiert.

Der Text lautet

„Warschau, 1. August 1944

Polnische Widerstandskämpfer stehen auf gegen die deutschen Besatzer. Das nationalsozialistische Regime lässt den Aufstand niederschlagen.

Mehr als 150.000 Menschen werden ermordet,

unzählige Männer, Frauen und Kinder geschändet und verletzt.

Heinz Reinefarth, von 1951 bis 1963 Bürgermeister von Westerland,

war als Kommandeur einer Kampfgruppe mitverantwortlich für diese Verbrechen.

Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern und hoffen auf Versöhnung.“

„SEIN ERFOLGREICHES WIRKEN FÜR DIE STADT WESTERLAND WIRD UNVERGESSEN BLEIBEN!“

Nachruf der Stadt Westerland auf Heinz Reinefahrth nach seinem Tod 1979

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2022 / 2023: Ausstellung ‚thematisiert Reinefarth ‚vom Kriegsverbrecher zum Langtagsabgeordneten‘

Die Ausstellung ‚Heinz Reinefarth: Vom NS-Kriegsverbrecher zum Landtagsabgeordneten‘ thematisiert 2022 eindrucksvoll und detailliert sowohl die Gräueltaten von Warschau, als auch Reinefarths Karriere in Schleswig-Holstein nach 1945.

Die Ausstellung besteht aus zwei Teilen:

  • Wanderausstellung „Wola 1944: Auslöschung. Bilder aus dem Ermittlungsverfahren gegen Heinz Reinefarth“ / Pilecki-Institut, Polen (in Schleswig erstmals in deutscher Sprache zu sehen)
  • ‚Heinz Reinefarth – von NS-Kriegsverbrecher zum Langtagsabgeordneten – Karriere und Aufarbeitung in Schleswig-Holstein‘ – ‚regionales Fenster‘ über die zweite Karriere Reinefarths nach 1945 in der Politik in Schleswig-Holstein / Landesarchiv Schleswig-Holstein

Die zweiteilige Ausstellung ist vom vom 18. August 2022 bis zum 31. März 2023 im Landesarchiv Schleswig Holstein zu sehen (im Schleswiger Prinzenpalais).

Anschließend wird sie ab 24. April bis 15. Oktober 2023 im Pilecki-Institut Berlin zu sehen sein.

Ob die Ausstellung auch auf Sylt gezeitg wird, ist bisher unklar.

Das Pilecki-Institut und das Landesarchiv Schleswig Holstein unterzeichneten am 3. November 2021 eine Kooperationsvereinbarung zur Erforschung der Kriegsverbrehen in Polen (u.a. Digitalisierung der Ermittlungakten Reinefarth).

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looking to the sky Photo Februar 2020 Foto Ulrich Würdemann CC BY 4.0
looking to the sky (Februar 2020; Foto Ulrich Würdemann, CC BY 4.0)
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Frank auf der Düne März 2020 Foto Ulrich Würdemann CC BY 4.0
Frank auf der Düne (März 2020; Foto Ulrich Würdemann, CC BY 4.0)
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Nachtschatten (Dezember 2019; Foto Ulrich Würdemann, CC BY 4.0)
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Tetrapoden (März 2019; Foto Ulrich Würdemann, CC BY 4.0)
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