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Coronographien 19 – ein Gedankenexperiment

Zuletzt aktualisiert am 14. November 2023 von Ulrich Würdemann

Machen wir in Gedanken eine kleine Zeitreise. Zurück in die Jahre der Anfänge der Aids-Krise, Ende der 1980er Jahre.

Ein ‚Gesundheits-Berater‘ einer Landesregierung hatte eine Idee. Für die er bald die Unterstützung erst der Landesregierung, schnell aber auch des Bundes fand. Er fragte sich, wie kann man andere Menschen davor warnen, dass sie sich gerade einem HIV-Infizierten nähern. Die einfache Idee: wer weiß dass er gerade nahe einem HIV-Infizierten steht, wird sich sicherlich selbst schützen.

Und so werden ab dem Tag X (wir sind in den 1980er Jahren) alle HIV-Infizierten des Landes verpflichtet, eine Glocke um den Hals zu tragen. Damit jeder der sich ihnen nähert schon vom Läuten der Glocke die Warnung hören kann: ah, da steht einer der hat HIV, der ist infiziert. Von dem halt ich mich besser fern.

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Was für eine Idee, was haben sie denn konsumiert, denken sie. Nicht einmal dem G. wäre eine solche Idee ernsthaft gekommen, und auf den Straßen hätten wir protestiert und wären dagegen vorgegangen. Niemals wäre so etwas realisiert worden. Höchstens hätte ein Textilkonzern die Idee aufgegriffen und daraus eine die Aufmerksamkeits-Ökonomie nutzende Werbekampagne gemacht …

Oliviero Toscani im Sommer 2007 (Foto: Leandro Emede)
Schöpfer der Werbekampagne 1993 mit dem HIV-positiv Arsch Tattoo – Oliviero Toscani im Sommer 2007 (Foto: Leandro Emede)

Und?

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Das haben Sie sich aber fein ausgedacht … denken Sie jetzt womöglich immer noch.

Nun ja.

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„die App aus Hannover [soll] einzelne Nutzer warnen, falls sie sich länger in der Nähe von Infizierten aufgehalten haben“

Spiegel, 20.3.2020

berichtet der Spiegel über die GPS-basierte Tracking-App GeoHealth, die in Hannover entwickelt wird, in Kooperation mit dem Unternehmen UbiLabs aus Hamburg. Unter der Leitung von Oberarzt Dr. Gernot Beutel, Oberarzt an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) wird eine App erstellt, die aus Bewegungsprofilen prüft, ob man sich ‚an einem Risiko-Ort aufgehalten‘ hat.

„Ein rotes Ampelsymbol würde bedeuten: Achte auf Symptome und lass dich testen. Ein grünes Ampelsymbol dagegen würde nicht heißen, dass man definitiv sicher ist, aber wenigstens, dass es derzeit keinen konkreten Hinweis auf eine Ansteckung gibt.“

Spiegel, 20.3.2020

Die App könne „wie eine elektronische Impfung wirken“, zitiert der Spiegel Dr. Beutel.

Am 26. März wurde bekannt, dass Dr. Beutel sich von seinem Kompagnon Maxim Gleser getrennt habe. Beutel wolle die Weiterentwicklung aus Gründen des Datenschutzes nicht weiter verfolgen.
Sein Kollege Maxim Gleser, ein 25jähriger Medizin-Student und StartUp-Gründer, hat weniger Bedenken … die Entwicklung geht weiter…

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Eine ‚elektronische Impfung‚, die schützt – vor Infektion? Eine Coronavirus Tracking App die vor Infizierten warnt ? Vor sozialer Nähe? Eine Prise Coronavirus Stigma?

Viele Frage … und ein übler Beigeschmack … eine Erinnerung … da war doch was …

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Mir ist bewusst, dass die Infektion mit einem sexuell übertragbaren Virus etwas anderes ist als ein Coronavirus. Mir geht es darum zu fragen, welche Wirkungen solch eine Warn-App haben könnte …

Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

2 Antworten auf „Coronographien 19 – ein Gedankenexperiment“

Nunja, Gauweiler war in seinen Ideen und Maßnahmen ziemlich dicht dran an dem, was heute Realität ist.
Infizierte erkennen, namentlich erfassen, isolieren und – bei uneinsichtigem Verhalten – internieren.

Interessant am heutigen Geschehen ist, dass das RKI in seiner Strategie fast bis auf das Haar identisch so vorgeht, wie es damals beim HTLV-III vorgegangen ist:

Es war ein neues Virus da, es gab erst vereinzelte Berichte, dann sich steigernde Warnungen, gefolgt von drastischen Prognosen…

Das war der Punkt, an dem sich die Politik genötigt sah, zu handeln. Getriggerte Wissenschaftler, Politiker – und im Sicherheitsgefühl bedrohte Bevölkerung begannen, sich im Ausdenken von Maßnahmen gegenseitig zu überbieten.

Die Schließung von Schwimmbädern, Saunen, Schwulen- und Sexklubs wurde erwogen. Es wurden sich Maßnahmen ausgedacht, Infizierte zu erkennen, sie namentlich zu erfassen, sie zu isolieren und zu internieren.
Von „Uneinsichtigen“ wurde gesprochen, ein Begriff, der auch heute wieder fällt.

Wie bei allen exponentiellen Hochrechnungen der Virologen wurde – auch 1984 – vom RKI vergessen, dass Menschen keine Reagenzgläser sind und dass sich das unterschiedliche Verhalten der Menschen auch auf das Basisreproduktionsmodell R(0) auswirkt.

Nur, da man es, wenn man die Infektion entdeckt, überwiegend mit der Gruppe der „early adapter“ zu tun hat – begeht man einen gewaltigen Fehler, wenn man genau dieses Modell auf die gesamte Gesellschaft überträgt.
Heute wie damals, war und ist die erste Gruppe, in der sich das Virus schnell verbreitet, keine randomisierte Kohorte der gesamten Gesellschaft.

Die sozial aktive Gruppe, die arbeiten geht, danach ins Fitnessstudio und vll noch in eine Bar, ein Restaurant, am Wochenende feiern, Kegeln oder Marathonlaufen, ist halt die Gruppe, die es als erstes erwischt und die es am schnellsten – hauptsächlich als erstes unter sich – weitergibt.
Dann kommen die Nerds, die Kellerkinder, die Gruppe mit sehr sparsamer Reichweite und sozialer Interaktion, die eine Infektion kaum oder sehr langsam weitergibt. Schon hier fällt die, auf dem Verhalten der ersten Gruppe beruhende Prognose – in sich zusammen.
Dann folgt noch eine dritte Gruppe (30%) die sich niemals ansteckt, egal, was sie tut oder unterlässt.

Alle Prognosen und Interventionen beruhen auf der Datenbasis der ersten Gruppe. Eine exponentielle Kurve einer leicht übertragbaren Infektion fällt aber auch ohne Maßnahmen in sich zusammen. Das wird nur, auf Grund der Dynamik des Geschehens nicht mehr erkannt.
Die Politiker und Wissenschaftler intervenieren immer drastischer, teils aus Profilierungssucht, teils aus echter Sorge, teils aus Berechnung.
Die Bevölkerung entwickelt einen Gleichklang in der Sprache, einen Gleichschritt im Handeln und einen wunderbaren Einklang im Denken.
Wer hier abseitig denkt – zu denken wagt – ist Volksschädling. Selbst Linksautonome sind sich nicht zu schade, unverpixelt Sitzgruppen auf den Elbwiesen als Volksschädlinge ins Internet zu stellen. Polizisten verjagen 5 Jugendliche von einer Parkbank – so etwas machte früher der Hausmeister, Hausmeister melden 3 rauchende Nachbarn auf dem Balkon der Coronapolizei.

Die Stunde der Hausmeister hat geschlagen.

Menschen ohne medizinischen Hintergrund reden plötzlich von „Grundimmunität“, vom „Abflachen der Infektionskurve“ und fordern noch härtere Maßnahmen und beobachten einander mit Teleskopen und verpetzen einander beim Hören von Feindsendern…, sorry, schwarzgrillen…

Hätten wir damals Internet gehabt, die AIDS-Krise wäre ganz anders, nämlich weniger glimpflich geendet.

Wer die Bulletins des RKI von 1984 und 2020 einmal spaßeshalber vergleicht, wird feststellen, dass das RKI identisch agiert – nur heute verstärkt vom Internet und einer total durchgetriggerten Bevölkerung, die von links bis rechts das gleiche Lied der Abflachung der Infektionskurve singt und die Beatmungsbetten der Intensivstationen zählt….

Meine Prognose: Ob nun 1,2,3 oder 6 Monate Lockdown, das wird das Virus kaum beeindrucken. Letztendlich werden wir fast die gleichen Opferzahlen haben wie die Länder, die das Virus durchlaufen lassen (müssen), nur verteilt sich die Zahl der Opfer auf einen längeren Zeitraum.
Sicherlich werden dadurch ein paar Menschen gerettet – aber es werden auch Menschen durch die Maßnahmen sterben:
Krebspatienten, deren Behandlung verschoben wird, Kranke, die sich aus Corona-Angst nicht zum Arzt trauen, Menschen die aus Angst Selbstmord begehen, genauso wie ruinierte Existenzen, die Menschen in den Suizid treiben.
In Thailand ist die Suizidrate merklich gewachsen, jedoch wird man niemals eine Infektionskurve so abflachen können, dass man ein 60 Mio-Volk in 4000 Intensivbetten wird retten können…
Corona ist nicht das Thema, hier ist die Frage, wie das volk die Maßnahmen überleben kann…

Die Triage ist das Portemonnaie

In Deutschland, vll im größten Teil der westlichen Welt, ist die Panik im Einklang, die Söders und Kurzens sind plötzlich kanzlerabel, sie schwimmen ganz oben auf der Welle, die sich nach Durchgreifen sehnt – und sogar die Linken basteln mit an einer Meldeglöckchenapp – und die Opposition im Bundestag singt mit der Regierung im Chor. Und alle freuen sich über die Einigkeit.

Was für Zeiten!

Einen Satz vergaß ich noch, in meiner Rage:

Gerettet werden sollen ja vorrangig die Menschen, deren Wohlergehen uns ja ansonsten gewaltig dort vorbei geht, wo die Sonne nicht scheint. Die Alten und Kranken.
Die Alten, deren Ernährung im Heim uns einen Tagessatz von 2,44 € wert ist, die Kranken, die im Krankenhaus zu zigtausenden an mangelnden Hygienemaßnahmen sterben (einfach zu beheben).

Deren Rettung ist uns jetzt ein kompletter Lockdown des wirtschaftlichen und sozialen Lebens wert?

Jetzt plötzlich, werden Billionen mobilisiert, wo vorher wenige Milliarden ausgereicht hätten?

Was ist passiert?
Werden danach dann die Gehälter der Verkäufer erhöht und die Bnker zum Feierabend beklatscht? Hat der Kapitalismus fertig – oder beginnt er erst? Ich verstehe die Welt nicht mehr..

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