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Homosexualitäten

Chancen, selbstbewusst andere Wege zu suchen – Ulli Würdemann im Gespräch mit Josch Hoenes

Ab 2013 möchte ich im Newsletter der Hannchen Mehrzweck Stiftung hms über von der hms geförderte Projekte berichten. Hierzu hat Josch Hoenes von der hms das folgende Interview mit mir geführt, das im aktuellen Newsletter (4/2012, pdf) der hms veröffentlicht ist:

Chancen, selbstbewusst andere Wege zu suchen – Ulli Würdemann im Gespräch mit Josch Hoenes

Hoenes: Wie bist Du auf die Stiftung aufmerksam geworden? Und was findest Du an ihr so gut, dass Du angeboten hast, uns durch ehrenamtliches Engagement zu unterstützen?
Würdemann: Die hms kenne ich seit langem „aus der Ferne“. In ihrem Leitbild formuliert die hms als Ziel ihres Stiftungshandelns „Freiräume für subversive Praktiken zu schaffen bzw. zu erhalten“ – das ist z.B. einer der Punkte, die ich an der Arbeit der hms schätze.
Ich habe oft das Gefühl, wir sind auf dem Weg, viel zu „mainstreamig“ zu werden, viel zu angepasst. Emanzipation ist in meinen Augen mehr als ‘nur’ Anpassung an bestehende Verhältnisse. Ich habe in meinem Schwulsein oft auch eine Chance gesehen, nicht von vornherein alles so zu machen, wie es der ‘heterosexuelle Standardweg’ vorzuzeichnen scheint, sondern Anderes auszuprobieren. Ich wünsche mir, dass neben dem Fordern nach gleichen Rechten auch heute wieder mehr experimentiert wird mit den Chancen „anders“ zu sein, zu leben, andere als die etablierten Wege zu gehen.
Dies braucht natürlich auch entsprechende Strukturen, Wissen, Konzepte, Projekte. Dass die hms hier fördert, finde ich wichtig. Und mit ihrer Förderung ermöglicht sie ja gerade unabhängigeres Agieren, unabhängig z.B. von staatlichen Geldern und Auflagen – und ist damit auch dem Gedanken der Selbsthilfe sehr nahe.

Hoenes: Ich finde sehr wichtig und einleuchtend, was Du zu Mainstreaming sagst und zur Notwendigkeit, auch die Chancen zu sehen, die andere Wege und Arten und Weisen zu leben bieten. Kannst Du das – vielleicht an ein oder zwei konkreten Beispielen – noch etwas ausführen? Gibt es aus Deiner Sicht aktuell bestimmte Themen, Probleme oder Bereiche, in denen es besonders wichtig wäre, nach anderen Wegen zu suchen?
Würdemann: Nun, zum Beispiel die Frage, wie wir zusammen leben. Seit vielen Jahren dominiert hier die ‘Homo-Ehe’ fast alle Debatten. Die Möglichkeit fordern, dass auch Schwule und Lesben eine Ehe schließen können mit allen Rechten und Pflichten, wie sie auch Heteros haben, kann ich nachvollziehen. Allerdings scheint mir, dass sich die Debatte sehr auf die Frage der Ehe verengt hat bis hin zur Forderung nach Ehegatten-Splitting. Die Debatten um die Homo-Ehe wirken auf mich so, als sei die Homo-Ehe die einzig denkbare Form des Zusammenlebens zweier oder mehrerer nicht-heterosexueller Menschen. Diese freiwillige Reduzierung unserer Möglichkeiten wundert mich schon. Dabei gäbe es so viele andere Möglichkeiten oder Freiräume zum Erkunden und Experimentieren.
Ähnlich empfinde ich die allgemeinpolitische (nicht parteigebundene) überregionale Interessenvertretung von LGBTIQ als sehr eingeengt. Seit dem Ende des BVH gibt es nur einen Verband. Kann ein einziger Verband die gesamte Bandbreite der Interessen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Queer abdecken? Und wie sieht die Realität aus? Eine größere Vielfalt z.B. an Ideen und Konzepten, besonders in der politischen Interessenvertretung und auch abseits eingetretener Pfade, scheint mir hier wünschenswert.
Ich habe zudem den Eindruck, wir schmoren immer wieder gern „im eigenen Saft“. Der eine oder andere „Blick über den Gartenzaun“, ein weiterer Horizont täte uns ganz gut. In Frankreich, Großbritannien, den USA und sicher auch vielen anderen Staaten tut sich einiges an spannenden Ideen – mehr Austausch, z.B. auch mehr europäische Blicke, Debatten, könnten bestimmt auch die LGBTIQ-Gruppen hier befruchten.

Hoenes: Die hms fördert Projekte aus einem breiten Spektrum von LGBTIQ-Bewegungen. Fühlst Du Dich diesen oder Teilen dieser Bewegungen verbunden und bist Du selbst dort aktiv oder aktiv gewesen?
Während und nach meinem Studium war ich in Schwulengruppen aktiv. Ich habe z.B. in Bremerhaven damals die erste Schwulengruppe mit gegründet, war dann in Hamburg bei der schwullesbischen Schüler- und Jugendgruppe. Später habe ich mich bei der Gründung des Kölner Lesben- und Schwulenzentrums SCHULZ engagiert und dort auch Veranstaltungsreihen organisiert (wie in Köln zum Thema Antifaschismus).
Ende der 1980er Jahre bin ich aufgrund der Aids-Krise (wie viele schwule Männer damals) von der Schwulenbewegung zum Aids-Aktivismus gewechselt. Zunächst bei ACT UP (einer Aids-Aktionsgruppe), später dann im Therapie-Aktivismus, um Therapien gegen HIV und Aids und Informationen darüber schneller verfügbar zu machen und die Interessen von Menschen mit HIV in Forschung und Studiengestaltung einzubringen. Daraus haben sich dann verschiedene Informations-Angebote zu HIV und zum Leben mit HIV ergeben, wie die ‘HIV Nachrichten’ oder in den letzten Jahren ondamaris.

Hoenes: Du wirst für uns in unserem Newsletter über die Stiftungsarbeit berichten und bist auch sonst journalistisch tätig. Gibt es bestimmte Dinge, die Du mit Deiner Arbeit erreichen möchtest und/oder, die Dir daran sehr wichtig sind?
Würdemann: Meine eigenen Projekte, wie ondamaris, sind auch aus der Idee heraus entstanden, Autonomie zu stärken – Menschen (bei ondamaris eben: Menschen mit HIV) möglichst umfassende und breite Informationen aus verschiedenen Blickwinkeln zu ermöglichen, damit sie für sich und ihr Leben selbst eigene informierte Entscheidungen treffen können.
Ähnlich könnte ich mir vorstellen, dass es auch für Projekte und Initiativen im LGBTIQ-Bereich sinnvoll sein könnte, mehr darüber zu erfahren, an welchen Ideen und Projekten andere arbeiten – eben auch durch größere Öffentlichkeit und Informationen über diejenigen Projekte, die die hms gefördert hat (und vielleicht auch zukünftig da, wo es passt, was z.B. im Sinne eines ‘nachgefragt’ aus ihnen geworden ist).

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HIV/Aids

Der alte Dämon Aids verliert seinen Schrecken – was nun?

Aids hat in den vergangenen 30 Jahren Schwule, das Leben von Schwulen und den schwulen Sex beeinträchtigt, unterdrückt, dämonisiert. Seit einigen Jahren allerdings verliert der alte Dämon Aids bei uns an Kraft. Immer weniger Menschen sterben in Deutschland an den Folgen von Aids. HIV-Positive, die erfolgreiche Therapien machen, sind so gut wie nicht infektiös. Die ‚Kombi‘ ist hinsichtlich des Schutzes vor HIV-Übertragung wirksamer als die Benutzung von Kondomen.

Dies spricht sich langsam herum. Mit Positiven unter erfolgreicher Therapie Sex zu haben wird attraktiver – auch der vermeintlichen Sicherheit wegen. Jake Sobo (Pseudonym) schreibt in seinem Blog von der ’schwer zu schluckenden Wahrheit, dass es … sicherer ist mit HIV-Positiven mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze zu ficken, als mit Typen, die denken sie seien HIV-negativ‘ („The hard-to-swallow truth is that, for guys with a lot of partners (like me), fucking poz guys with undetectable viral loads is actually safer than fucking raw with guys who think they’re negative“). Und selbst auf Gayromeo sind inzwischen Hinweise der Art zu finden „Suche Positiven unter der Nachweisgrenze“ oder „Ekaf-Sex bevorzugt“.

Lustvoller Sex, Sex ohne die Kondom- und anderen Scheren im Kopf, Sex ohne Sorgen wird für viele Schwule, ob HIV-positiv oder nicht, wieder möglich. HIV-Positive sind keine Parias mehr. Von der einstigen Panik wegen der ganz konkreten Todesbedrohung hin zu einem entspannten Management einer chronischen Erkrankung haben wir einiges unserer bunten Federn lassen und an Veränderungen akzeptieren müssen.

HIV-positive schwule Männer schlucken Pillen – und schluckten Kröten…

Nie wusste der Staat mehr über Schwule, über schwules Begehren, über schwulen Sex als in den vergangenen Jahren. Unzählige Befragungen, Meinungsbilder, Verhaltensanalysen. Kartonweise Fragebögen, Megabytes an Auswertungen – über schwulen Sex, schwules Leben.

Nie konnten Staat und Gesellschaft – auch auf Basis dieser Erforschungen des Schwulseins – leichter, und ohne die Sanktionierung per Strafandrohung, schwulen Sex, schwules Leben regulieren, Kontrollinstanzen etablieren.

Ist es purer Zufall, dass viele Orte schwuler Begegnungen, und gerade diejenigen, die nicht-kommerziell waren, und ferner von Normierung, dass Orte wie Klappen und Parks kaum noch existieren? Hingegen diejenigen (i.d.R. kommerziellen) Orte florieren, die auch für Reglementierung, auch für Prävention zugänglich sind?

Statt wie früher Strafandrohungen gibt es für’s schwule Leben heute Regeln und Normen. Du sollst beim Sex Kondome benutzen! Du sollst auf deine Gesundheit achten! Du sollst nicht Bareback Sex machen! Du sollst wissen was du tust! Du sollst dich nicht hemmungslos deinen Lüsten hingeben!

Bewusst gesetzte Normen, die regulierend in unsere Leben als Schwule eingreifen. Sexualität ist hierfür ein mächtiges Thema, das den Zugang zum Individuum erlaubt, Kontrolle ermöglicht. Öffentliches Gesundheitswesen, Public Health – Sexualität wird Angelegenheit von Staat und Gesellschaft. Schwule Sexualität, die früher kaum jemanden interessierte, wird dies vor allem seit, durch Aids. Statt Repression: Thematisierung, Regulierung und Disziplinierung von Sexualitäten (‚Bio-Macht‘, siehe auch Foucault / Dispositive der Macht).

Diese Kontrollinstanzen, diese Reglementierungen – sie stammen nicht nur von außen. Auch von innen, innerhalb unserer Szenen, durch uns funktionieren sie sehr wirksam. „Sät die Prävention die Samen, aus denen die Community Moralinsäure herstellt?“, fragte letztens ein Freund – eine lohnenswerte Frage!

Jahrzehntelang war Aids der Master – Jetzt können wir den Käfig öffnen

Medizinisch betrachtet sind wir ein sehr weites Stück voran gekommen auf dem Weg, die Aids-Krise in den Griff zu bekommen, HIV den Zahn des Schreckens zu ziehen.

Regulierung und Selbst-Regulierung, die einst notwendig, vielleicht überlebensnotwendig war, sind es vielleicht heute so nicht mehr.

Ist es nun an der Zeit, die Aids-Krise auch (schwulen-)politisch zu besiegen? Die Dominanz, die das Thema HIV / Aids für viele von uns hat, einst haben musste, zurück zu drängen? Uns wieder mehr den originär ’schwulen‘ Themen zuzuwenden?

Wir haben als Teil einer kleinen sexuellen Minderheit das Potential einer großen Freiheit. Einer großen Freiheit, jenseits einer heteronormativen Mehrheit zu experimentieren. Einer Freiheit, unsere Formen des Zusammenlebens, unsere Selbst-Definition(en) selbst zu gestalten, statt konformistisch Schubladen und Kategorien der Hetero-Gesellschaft zu übernehmen, zu kopieren und nachzuleben. Welche Form(en) von Beziehung(en) wollen wir leben? Welche Formen von Sex, sexuellem Umgang mit einander wollen wir wie pflegen? Wie gehen wir – gerade auch in größerem Lebensalter – fürsorglich mit einander um?

HIV ist längst nicht mehr der alles dominierende Dämon schwulen Lebens. Die Erfolge von Prävention und Medizin geben neue Freiräume – Freiräume, die wir nutzen sollten. Nutzen wir die Erfahrungen, die wir in Zeiten der Aids-Krise machten (z.B. jene zum Umgang mit Krisen, mit Stigmatisierung) – für neue Freiräume. Mehr Mut, mehr Experimente! Entdecken wir die Lust zu experimentieren, uns zu gestalten, wieder neu!

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(Text verfasst als ‚Standpunkt‘ für queer.de zum Welt-Aids-Tag 2012, dort erschienen am 1.12.2012)

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siehe auch
Ulrich Würdemann 27.01.2014: Aids ist keine düstere Bedrohung mehrAids ist keine düstere Bedrohung mehr

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Hamburg Homosexualitäten

MHC Magnus Hirschfeld Centrum Hamburg Eröffnung 14. Mai 1983

Am 14. Mai 1983 wurde das MHC „Magnus Hirschfeld Centrum“ in Hamburg eröffnet. Im Herbst 1982, vor 30 Jahren, wurde es geplant und seine Förderung beim Hamburger Senat beantragt.

Das Magnus Hirschfeld Centrum (MHC) in Hamburg wurde am 14. Mai 1983 (in den Räumen einer früheren Bäckerei am Borgweg) eröffnet. Heute ist es eines der wenigen noch existierenden Schwulen- und Lesben-Zentren.

Am 30. Mai 2013 feierte das Magnus Hirschfeld Centrum in Hamburg sein 30jähriges Jubiläum unter dem Motto „30 Jahre Einsatz für queere Emanzipation“.

MHC Magnus Hirschfeld Centrum : Förderungs-Antrag an den Hamburger Senat

Der von der UHA (Unabhängige Homosexuelle Alternative) sowie Intervention gestellte Antrag (60 Seiten plus Anhang) auf Anlauf- und Folgefinanzierung erläutert die Notwendigkeit eines Schwulen- und Lesbenzentrums folgendermaßen:

„Bedingt durch die fortbestehende Diskriminierung sind Homosexuelle Frauen und Männer in besonderem Maße auf umfassende Kontakte untereinander und auf gegenseitige Hilfer angewiesen. …
Die traditionellen ‚Treffpunkte‘ für Homosexuelle, die sich urwüchsig als ‚Nachtkultur‘ aus der gesellschaftlichen Stigmatisierung gleichgeschlechtlich liebender Menschen ergeben haben (Kneipen, Parks, Klappen) können diesem Bedürfnis nur in sehr eingeschränktem Maß Rechnung tragen, da sich hier verständlicherweise einseitige Umgangsformen ergeben, die lediglich bestimmte Aspekte des homosexuellen Menschen ansprechen können. Besonders deutlich treten diese Umgangsformen an jenen ‚Treffpunkten‘ hervor, die mehr oder weniger häufig Kontrollen der Polizei unterliegen (Parks, Klappen). In Folge der begonnenen Emanzipation homosexueller Bürgerinnen und Bürger hat sich das Bedürfnis nach einer Veränderung dieser Situation zunehmend entwickelt.“

In dem von Horst Parow (UHA) und Dieter Jarzombek (Intervention) unterzeichneten Antrag vom Oktober 1982 wird eine Kombination aus Kommunikations- und Beratungs-Zentrum skizziert. Wesentliche Mitstreiter waren damals auch Hans-Georg Stümke (1941 – 2002) und Hans-Georg Floß (1951 – 1993).

Magnus-Hirschfeld-Zentrum (MHC) Antrag UHA & Intervention, Hamburg 1982, Seite 1
Magnus Hirschfeld Centrum (MHC) Antrag UHA & Intervention, Hamburg 1982, Seite 1

Magnus-Hirschfeld-Zentrum (MHC) Antrag UHA & Intervention, Hamburg 1982, Inhaltsverzeichnis
Magnus Hirschfeld Centrum (MHC) Antrag UHA & Intervention, Hamburg 1982, Inhaltsverzeichnis

Wesentlicher Teil des Antrags war ein von Hans-Georg Floß (*1952, † 7.1.1993 an den Folgen von Aids) erstellter Bericht über den damaligen ‚Stand des Beratungsangebots für homosexuelle Männer in Hamburg‚, der wesentlich auf (s)einer 1981 an der Universität Hamburg (Fachbereich Psychologie) erstellten Diplomarbeit beruhte.

MHC : Namenspatron Magnus Hirschfeld

Bereits von Beginn an war vorgesehen, das Zentrum nach Magnus Hirschfeld zu benennen:

„Um seine Verdienste und seinen großen persönlichen Einsatz für die Verwirklichung der Menschenrechte der Homosexuellen vor 1933 zu ehren wird vorgeschlagen, der Einrichtung den Namen ‚Dr. Magnus Hirschfeld – Zentrum‘ zu geben.“

Das Magnus Hirschfeld Centrum besteht seit 1983 und bis heute, mit der UHA (Unabhängige Homosexuelle Alternative e. V.) als alleinigem Trägerverein. Es bezeichnet sich heute als ‚Hamburgs lesbisch-schwules Zentrum für Beratung, Kommunikation, Kultur und Jugend‘.
Der Verein Intervention e.V., im September 1982 von Lesben und Schwulen gemeinsam mit dem Ziel einer Beratungsstelle gegründet, war an der Gründung des MHC mit beteiligt, arbeitete jedoch bereits ab 1983 (dem Jahr der Eröffnung des MHC) eigenständig in St. Georg. Intervention e.V. „unterstützt seit 1993 fast ausschließlich und exklusiv lesbenspezifische Angebote“ (Selbstdarstellung) und ist Träger des JungLesbenZentrums und des Lesbentreffs in Hamburg.

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An den Gesprächen im Vorfeld der Planung und Beantragung des Magnus Hirschfeld Centrums nahmen auch Vertreter anderer Hamburger Lesben- und Schwulengruppen zeitweise teil. Alle scheiterten, zogen sich zurück. Die Mitarbeit von Schwusel (Selbsthilfegruppe schwuler und lesbischer Jugendlicher im Alter bis ca. 25 Jahre) im MHC scheiterte letztlich, in meiner Erinnerung, vor allem daran, dass die UHA von ihrer dominierenden und allein entscheidenden Position nicht abweichen wollte.

Der Namens-Patron Magnus Hirschfeld war schon damals nicht unumstritten. Die Debatten um Magnus Hirschfeld führten u.a. mit dazu, dass sich das im März 1985 eröffnete (und seit Mitte 2003 nicht mehr existierende)  Kölner Lesben- und Schwulen-Zentrum nach langen Debatten nicht nach Magnus Hirschfeld benannte, sondern nach einem öffentlichen Namens-Wettbewerb schlicht den Namen ‚SCHULZ‚ (für Schwulen- und Lesben-Zentrum) erhielt.

Das Magnus Hirschfeld Centrum wurde von einer einzigen dominierenden Gruppe geplant und gestaltet. Es hätte Möglichkeiten zur Einbeziehung eines breiteren Spektrums von Hamburger Lesben- und Schwulengruppen gegeben (zum Beispiel in Form des damals existierenden ‚Forum Hamburger Lesben und Schwule‘ (FHLS). Das Kölner Lesben- und Schwulen-Zentrum SCHULZ schaffte es einige Jahre später, trotz einer starken Stellung der ‚gay liberation front‘ (glf) eine Trägerstruktur zu finden (Emanzipation e.V.), die eine Einbeziehung breiter Kreise der Kölner Lesben- und Schwulenszenen ermöglichte.

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Erinnerungen

Schwule Aktion Bremerhaven SAB – 1981 / 82

Schwule Aktion Bremerhaven  – wie kam es dazu? Das schwule Leben in Bremerhaven Anfang der 1980er Jahre war … nun ja, überschaubar, sehr beengt (um nicht zu sagen verklemmt), kurz gesagt für einen jungen Mann, der sein Schwulsein gerade entdeckt und zu akzeptieren gelernt hat, schwul leben will: deprimierend.

Seit 1979 lebte ich in Bremerhaven. Es gab dort drei Kneipen, besucht überwiegend von älteren Herren. Zwei Klappen am Deich. Sonst (an ‚Infrastruktur‘ für männerliebende Männer) nichts, außer – wegfahren, nach Bremen, Oldenburg und in das (bald mein ’schwules Paradies‘ werdende) Hamburg. Und dann: ein Pornokino, zwar überwiegend hetero, aber auch mit schwulen Filmen.

‚Wenn dir was nicht gefällt – versuche es zu ändern‘, hab ich schon früh gelernt. Der Zettel im Pornokino, auf den ich Mitte Oktober 1981 aufmerksam wurde, stieß also sofort auf mein Interesse. „Wir [zwei Namen folgten] sind unzufrieden mit unserer Situation als Schwule in Bremerhaven. Du auch? Wir wollen eine Schwulengruppe hier in Bremerhaven gründen. Interesse? Ruf uns an!„, stand dort (soweit mich meine Erinnerung nicht täuscht) ungefähr zu lesen. Und ich meldete mich, schon am gleichen Tag.

Vorher hatte ich schon selbst (nach einer Notiz im Info der HIB Bremen) versucht, eine Gruppe ins Leben zu rufen, einige Treffen initiiert, Bekannte versucht zum Mitmachen zu bewegen – mit mäßigem Erfolg

Am 27. Oktober 1981 trafen sich die beiden Jungs vom ‚Zettel‘ , ein weiterer Interessent und ich – die ‚Schwule Aktion Bremerhaven‚ war geboren. Als erste Aktion wurde ein Büchertisch geplant. Wir machten die Gruppe bekannt, mit Aushängen in Buchläden, Kneipen, an der Hochschule, mit Anzeigen in alternativen Stadtmagazinen und Zeitungen. Es folgten eine Lesung mit ‚Schwul – na und?‘ – Autor Thomas Grossmann (dem ich 1986 ein Interview gab für sein Folge-Buch ‚Beziehunsgweise andersrum‘) und ein Stand auf dem ‚Friedensfest 1981‘ (mit vorherigem Rosa Winkel backen …).

Die ‚Schwule Aktion Bremerhaven‘ SAB hatten bereits in den ersten Jahren ihres Bestehens einiges an Aktivitäten: Lesungen, Bücherstände, Radio-Interview, Zeitungs-Interviews. Für die Schwule Aktion Bremerhaven verfasste ich auch mein erstes Flugblatt
Die Gruppe wuchs, zaghaft aber kontinuierlich wurden wir mehr Mitstreiter – auch wenn bei weitem nicht alle gleichgeschlechtlich  veranlagten Herren Bremerhavens von unseren Aktivitäten begeistert waren (im Gegenteil, bissige Bemerkungen, selbst Anfeindungen waren nicht eben selten).

Einen der Wirte der drei Bremerhavener Schwulenkneipen schätzte ich sehr. Karl vom ‚Minerva‚ konnte als Wirt abweisend sein, manchmal recht schroff, gelegentlich verletzend scharf. Als Mensch war er ‚ein feiner Kerl‘, mit dem es sehr nahe Momente gab, dessen Rat und Meinung mir viel bedeuteten. Karl fragte mich damals oft, ob denn ‚das sein müsse‘. „Ich weiß, wie es früher war. Und heute ist es doch gar nicht so schlimm, wie ihr immer tut. Lasst es doch gut sein, man kann doch heute als Schwuler ganz gut leben.
So sehr ich Karl verstand [ja? tat ich das damals? oder bemühte ich mich jedenfalls?], mit seinem schwierigen (und leidvollen) Lebensweg, ich konnte damals nicht ‚gut leben‘ mit der Situation der Schwulen, mit meiner Situation als Schwuler in Bremerhaven. Ich wollte anderes. Wir wollten anderes, gemeinsam. So ging die ‚Schwule Aktion Bremerhaven‘ ihren Weg.

Im ‚Rosa Flieder‘ (Ausgabe 26, Mai 1982) stellten Fred und ich unsere Gruppe folgendermaßen vor:

„Schwule in der Provinz, und dann noch im kühlen Norden, wo gibts denn sowas? Tja, seit August 1981 in Bremerhaven. Da haben sich hier fünf Schwule zusammengetan – inzwischen sind wir 11 geworden – und versuchen, diese ‚Seestadt‘ etwas wärmer zu machen. Häufigste Frage ist bisher die nach dem Sinn dieser Gruppe. Also, was wollen wir?

Zunächst zweierlei: Einerseits anderen Schwulen etwas mehr aus ihrem Ghetto heraushelfen und das bei Heteros (und Schwulen) bestehende Informationsdefizit etwas verringern, andererseits hier auftauchende Repressionen gegen Schwule (Klappenbespitzelung, örtliche ROSA LISTE?) nachgehen. Bisher haben wir einmal nen Bücherstand (aufm Friedensfest) gemacht, einen acht-Minuten-Spot bei Radio Bremen gehabt und eine Lesung mit Thomas Grossmann veranstaltet. Die Resonanz war insgesamt für den Anfang schon ganz erfreulich, um hier aber etwas mehr bewirken zu können, brauchen wir noch mehr Unterstützung und Mitstreiter. Also, wer jetzt Lust hat, bei uns mitzumachen, der schreibe uns doch mal oder rufe kurz an:“ (es folgten sowohl Freds als auch meine Adressen und Telefonnummern)

Die ‚Schwule Aktion Bremerhaven‘ war damals wohl Selbsthilfe in ihrer ureigensten Bedeutung – ohne dass der Begriff ‚Selbsthilfe‘ mir damals bereits etwas sagte. Wir waren unzufrieden mit dem, was war. Wir wollten anderes. Wir taten uns zusammen. Um gemeinsam zu versuchen, Dinge anders zu machen, andere Wege zu gehen, unsere kleine Welt ein Stück weit zu verändern.

Die „Schwule Aktion Bremerhaven“ existierte noch viele Jahre (unterzeichnete z.B. 1988 einen Aufruf gegen die britische ‚Clause 28‘, nachzulesen bei Jörg Hutter). Ich erinnere mich, einige Jahre nach meinem Wegzug aus Bremerhaven (1982) war ich 1984 noch einmal auf einem Treffen der Gruppe im (inzwischen ebenfalls nicht mehr existierenden) Kulturzentrum ‚Roter Sand‚ gewesen zu sein. Irgendwann hab ich leider zu allen damaligen Mitstreitern den Kontakt verloren …

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Erinnerungen Homosexualitäten

Schwusel – 1982/ 83

Seit 1981 gab es in Hamburg eine Gruppe für junge Lesben und Schwule: SCHWUSEL. Ich erinnere mich an schöne Zeiten bei Schwusel in den Jahren 1982 und 1983 – die Gruppe war eine Zeit lang einer der Mittelpunkte meines schwulen Lebens damals – von politischem Engagement bis zu Gruppentreffen, privaten Feiern und schönen Freundschaften.

Im schwulen Stadtführer Hamburg ahoi! (1. Auflage, 1981) stellt Schwusel sich u.a. folgendermaßen vor:

„Wir, Schüler, Studenten und Azubis im Alter bis ca. Mitte 20, haben uns seit Mitte 1980 zusammengefunden. Als junge Homoexuelle haben wir uns bewußt von den bestehenden Gruppen abgesetzt und als eigene Gruppe gegründet, weil wir meinen, daß unsere Situation sich von der ‚erwachsener‘ Schwuler und Lesben noch unterscheidet.“

Schwusel Aufkleber ca. 1981
Schwusel Aufkleber ca. 1981 (Dank an A.R.!)

Schwusel hatte auch eine eigene (kleine) Zeitung „SCHWUSEL – unabhängige Zeitung der schwul-lesbischen Jugend Hamburgs“ . In der erste Ausgabe 1983 wurde die Gruppe so vorgestellt:

„SCHWUSEL – aus SCHWU von SCHWUl und SEL von LESbisch – ist eine Selbsthilfegruppe schwuler und lesbischer Jugendlicher im Alter bis ca. 25 Jahre, die es seit Mai 1981 gibt. … SCHWUSEL hat im Januar 1983 ca. 50 Mitglieder. Einige von uns arbeiten im Forum Hamburger Lesben und Schwule mit.“

Koordiniert wurde Schwusel von einem ‚Kollektiv‘ (in dem ich zeitweise Mitglied war). Die Gruppe traf sich im JuZ St. Georg (Stiftstr.), später dann in den Räumen in der ersten Etage über dem ‚Tuc Tuc‘ in der Oelkersallee 5, wie auch das Titelbild der „SCHWUSEL-Zeitung Nr. 2/83“ zeigt:

Schwusel trifft sich über'm Tuc Tuc (Schwusel Nachrichten 2/1983, Grafik Martin D.)
Schwusel trifft sich über’m Tuc Tuc (Schwusel Nachrichten 2/1983, Grafik Martin D.)

Schwusel bestand vor allem auch aus zahlreichen Unter-Gruppen. So vermeldet die Schwusel-Zeitung 2/83 neben dem Kollektiv eine Coming-Out-Gruppe, eine Kennenlern-Gruppe, eine Provinz-Gruppe, die Freizeitgruppe, hinzu kam später z.B. eine Schul-Gruppe, eine Lesbengruppe, verschiedene Geprächskreise. Schwusel unterhielt zudem ein zwei Stunden pro Woche erreichbares „Schwusel Telefon“ – und war somit eine der ersten regelmäßig für junge Lesben und Schwule erreichbaren Anlaufstellen.

Eines der am leidenschaftlichsten innerhalb von Schwusel diskutierten Themen war übrigens … die Altersgrenze (ja, diese Debatte gab es ‚damals‘ auch schon …). Eigentlich war Schwusel ja für Menschen bis 25 Jahre gedacht. Je mehr sich einige Mitglieder jedoch dieser Grenze näherten, desto mehr kamen einige ins Nachdenken … und Debattieren, um die Altersgrenze.

SCHWUSEL und das Magnus-Hirschfeld-Zentrum MHC

Schwusel plante, sich auch aktiv am (damals noch in Planung befindlichen) MHC Magnus-Hirschfeld-Centrum zu beteiligen. Vertreter/innen der Gruppe nahmen an entsprechenden Gesprächen teil (hier lernte ich erstmals Hans-Georg Stümke kennen, damals einer der sehr aktiven Menschen in der UHA)  – die Mitarbeit von Schwusel im MHC scheiterte letztlich, in meiner Erinnerung vor allem daran, dass die UHA von ihrer dominierenden und allein-entscheidenden Position nicht abweichen wollte.

Die Beschäftigung mit und Auseinandersetzungen um das Magnus-Hirschfeld-Zentrum und die UHA kosteten Schwusel viel Energie – sehr zum Leidwesen einiger Mitglieder, die der Ansicht waren, diese Energien seien besser für die Gruppe eingesetzt.

Die Schwusel-Zeitung Nr. 4 vermeldet schließlich (in einem Beitrag von ‚Intervention‘ angesichts des Auszugs des Beratungs-Vereins ‚Intervention‘ aus dem MHC):

„Wieder geht eine Illusion kaputt. Zwar gibt es weiter ein schwull-lesbisches Zentrum in Hamburg, und der UHA wird es sicher auch gelingen, in Kürze das Beratungs-Angebot des MHC zu gewährleisten. Aber der Traum, in diesem Zentrum auch die verschiedenen Strömungen der Szene zu einigen, ist wohl endgültig dahin. Eher haben sich die Gräben noch weiter vertieft, hat sich die UHA noch weiter isoliert.
Und viele engagierte Menschen haben im Laufe der 1 ½ Jahre Auseinandersetzungen viel Kraft verschleudert und Mut verloren. Von der verschwendeten Kraft an unserer gemeinsamen Sache selbst mal ganz zu schweigen.“

Willi Klinker, damals UHA, zog im gleichen Heft Bilanz:

„Der Sinn und Zweck des MHC ist es, sozusagen ein Forum für alle denkbaren schwulen, lesbischen und sexualpolitischen Aktivitäten zu sein. …
Klar gibt es Unterschiede in der Arbeitsweise zwischen der UHA und anderen Gruppen; dazu gehören auch Mentalitäts- und Stilunterschiede. Die UHA hat in ihrer Arbeit das Hauptaugenmerk auf dem „G.H.“, wie Bea T[…] vor kurzem ironisch formulierte – auf dem gewöhnlichen Homosexuellen.“

Vielleicht waren wir, waren einge Hamburger Lesben und Schwule, damals einfach „nicht gewöhnlich genug“ …

Das MHC, die UHA und die anderen Hamburger Lesben- und Schwulengruppen – es war eine leidige Geschichte, aber auch eine, die Erfahrungen lehrte.
Froh war ich einige Jahre später, dass es in Köln gelang, das dortige neu entstehende Schwulen- und Lesbenzentrum SchULZ um einen Trägerverein (‚Emanzipation e.V.) herum entstehen zu lassen, in dem nahezu alle damals in Köln aktiven Schwulen- und Lesbengruppen und -strömugen vertreten waren.

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Die Denver Prinzipien 1983

Denver Prinzipien 1983

Vom 9. bis 12. Juni 1983 traf sich in Denver eine Gruppe AIDS-Kranker (diesen Namen hatte die Krankheit die sie hatten damals allerdings noch nicht) während des Jahrestreffens der US-amerikanischen ‚National Gay and Lesbian Health Conference‘. Erstmals waren damit Aids-Kranke nicht nur Gegenstand von Diskussionen, sondern direkt selbst beteiligt.

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Paris Declaration 1994 – Zeitzeuge Guido Vael: das ungenügend eingehaltene Versprechen

Am 1.12.1994 verabschiedeten die die Staats- und Regierungs-Chefs von 42 Staaten eine Erklärung zu HIV / Aids. Für die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer das Dokument. Diese ‚Paris Declaration‘ (als Dokumentation deutschsprachiger Text hier:  „Erklärung von Paris – nichtamtliche Übersetzung des BMG“) gilt als das zentrale Grundlagen-Dokument auch zur Beteiligung von HIV-Positiven an sie betreffenden Entscheidungen (GIPA – greater involvement of people with HIV / Aids).

Guido Vael war bei der Unterzeichnung der ‚Paris Declaration‘ dabei – als Mitglied der deutschen Delegation. Im Interview berichtet er, wie es dazu kam.

Guido Vael, Zeitzeuge der Unterzeichnung der Paris Declaration (Foto: privat)
Guido Vael, Zeitzeuge der Unterzeichnung der Paris Declaration (Foto: privat)

Guido Vael engagiert sich seit vielen Jahren ehrenamtlich in Schwulen- und Aids-Bewegungen, war u.a. Mit-Organisator des ersten CSD in München 1980 und engagierte sich Ende der 1980er Jahre gegen den ‚Bayrischen Maßnahmen-Katalog‘. Von 1990 bis 1999 war Guido Vael Mitglied des Vorstands der Deutschen Aids-Hilfe. Der gebürtige Belgier ist seit 15 Jahren Leiter des Projekts Prävention im Schwulen Kommunikations- und Kulturzentrum SUB e.V. in München. Vael wurde für sein langjähriges Engagement u.a. mit der Medaille ‚München leuchtet!“ ausgezeichnet.

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Guido, wie kam es dazu, dass du bei der Unterzeichnung der ‚Paris Declaration‘ dabei warst?

Der damalige Bundesgesundheitsminister Seehofer hat einige Leute, die im AIDS-Bereich tätig sind dazu eingeladen. Es waren Mitarbeiter/-innen aus staatlichen Beratungsstellen und NGOs. Wenn ich mich richtig erinnere ging auch eine Einladung an die DAH und ich bin dann als damaliges Mitglied des Vorstands mitgefahren. Meine Vorstandskollegen haben mir wohl den Vortritt gelassen weil ich auch in Bayern aktiv war und Herrn Seehofer bereits kannte von den Ministergesprächen und den Münchner AIDS-Tagen.

Wie kam es zur Entstehung der Erklärung, in welchem Umfeld entstand sie?

Die Erklärung wurde auf die sog. unteren Arbeitsebenen vorbereitet und auch fertig gestellt. Die Regierungsvertreter haben sich in Paris getroffen, „nur“ zum Unterzeichnen. Am Vormittag gab es eine Reihe von Ansprachen u.a vom UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, vom damaligen Leiter von UNAIDS und Regierungsvertretern der sog. Dritten Welt. Ich glaube mich auch an eine bewegende Rede einer HIV-positiven Frau aus Afrika erinnern zu können, die die Notwendigkeit einer globalen, konzertierten Aktion betonte. Die Delegationen saßen dabei wie in einer großen Hörsaal. Mittags gab es ein nobles Essen. Das gehört wohl bei solchen Veranstaltungen dazu. Nachmittags hat Seehofer die Delegation verlassen, um die feierliche Unterschrift zu leisten.

Ich habe einige gute und angenehme Gespräche mit Seehofer führen können, z.B. zum Gesundheitssystem in Deutschland, und ihn als problembewusster Fachmann geschätzt.

Und wie siehst du die Bedeutung der ‚Paris Declaration‘ heute? Welche Bedeutung hat sie, welche könnte sie haben?

Ich denke, dass die Erklärung ein wichtiger und notwendiger Schritt war. Gerade weil auch Diskriminierung und Ausgrenzung darin angesprochen wurde und das Recht auf medizinische Versorgung betont wurde.

Die Geschichte zeigt aber, dass gerade die westlichen Länder ihr Versprechen in meinen Augen ungenügend eingehalten habe. Es stünde auch die Bundesregierung gut an, sich auf die Erklärung zu besinnen. Es soll nicht bei einem Lippenbekenntnis bleiben. Es gibt in vielen Ländern immer noch die Diskriminierung und Ächtung/Ausgrenzung. In vielen Ländern wird HIV/AIDS zu wenig ernst genommen. Eine flächendeckende medizinische und soziale Versorgung ist auch 16 Jahren nach der Pariser Erklärung immer noch nicht erreicht worden.

Lieber Guido, vielen Dank für das Interview!

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Erklärung von Paris – nichtamtliche Übersetzung des BMG

Das Original: UNAIDS – The Paris Declaration: Paris AIDS Summit – 1 December 1994 (pdf)

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

GIPA : Erklärung von Paris 1994 – nichtamtliche Übersetzung des BMG

Erklärung von Paris (Paris declaration) – Menschen mit HIV und Aids sollten auf allen Ebenen bei sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden (“participation in decision-making processes that affect their lives”) – dies betont das “ GIPA Prinzip ” – Greater Involvment of People with HIV and Aids.

Das GIPA-Prinzip wurde am 1. Dezember 1994 beschlossen, auf dem ‘Paris Aids Summit’. Es befindet sich in der auf diesem Gipfel beschlossenen und von den 42 dort hochkarätig vertretenen Staaten unterzeichneten ‘Paris Declaration‘.

Die Erklärung von Paris ist eine der wesentlichen Grundlagen der Community-Beteiligung von Menschen mit HIV und Aids.

Unterzeichnet hat diese Paris Declaration für die Bundesrepublik Deutschland auch Horst Seehofer, CSU und damaliger Bundesminister für Gesundheit.

GIPA : Erklärung von Paris – nichtamtliche Übersetzung des BMG:

Erklärung von Paris
Pariser AIDS-Gipfel – 1. Dezember 1994

(nichtamtliche Übersetzung des Bundesgesundheits-Ministeriums)

Wir, die Regierungschefs der Vertreter der 42 Staaten, die sich am 01. Dezember 1994 in Paris versammelten:

I. In der Erwägung,

  • dass die AIDS-Pandemie aufgrund ihres Ausmaßes eine Gefahr für die Menschheit darstellt,
  • dass ihre Ausbreitung sämtliche Gesellschaften betrifft,
  • dass sie die soziale und wirtschaftlich Entwicklung erschwert, insesondere die der am meisten betroffenen Länder, sowie das Gefälle innerhalb und zwischen den Ländern vergrößert,
  • dass Armut und Benachteiligung begünstigende Faktoren für die Ausbreitung der Pandemie darstellen,
  • dass HIV/AIDS Familien und Gemeinschaften nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügt,
  • dass die Pandemie alle Menschen ohne Unterschiede betrifft, dass jedoch Frauen, Kinder und Jugendliche in zunehmendem Maße infiziert werden,
  • dass sie nicht nur die Ursache für körperliches und seelisches Leid ist, sondern auch oft als Rechtfertigungsgrund für die schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte angeführt wird,

Und in der Erwägung,

  • dass Hemmnisse jeglicher Art – seien sie kultureller, rechtlicher,wirtschaftlicher oder politischer Natur – die Bemühungen um Aufklärung, Prävention, Versorgung sowie Unterstützung erschweren,
  • dass die HIV/AIDS-Präventions-Versorgungs und -Unterstützungsstrategien voneinander untrennbar sind und daher einen wesentlichen Bestandteil bei einem effektiven und umfassenden Vorgehen zur Eindämmung der Pandemie darstellen müssen,
  • dass neue örtliche, nationale und internationale Formen der Solidarität aufkommen, die insbesondere mit HIV/AIDS lebende Menschen sowie gemeindenahe Organisationen miteinbeziehen,

II. Erklären feierlich

  • unsere Pflicht als politische Verantwortliche, der HIV/AIDS-Bekämpfung Priorität einzuräumen,
  • unsere Pflicht, mitfühlend und solidarisch mit den HIV-infizierten oder
    ansteckungsgefährdeten Menschen sowohl in unseren Gesellschaften als auch auf internationaler Ebene zu handeln,
  • unsere Entschlossenheit sicherzustellen, dass alle mit HIV/AIDS lebenden Menschen ihre Grund-und Freiheitsrechte ohne Unterschied und unter allen Umständen in vollem und gleichem Umfang wahrnehmen können,
  • unsere Entschlossenheit, Armut, Stigmatisierung und Benachteiligung zu bekämpfen,
  • unsere Entschlossenheit, die gesamte Gesellschaft – den öffentlichen und den privaten Sektor, gemeindenahe Organisationen sowie mit HIV/AIDS lebende Menschen zu einer echten partnerschaftlichen Zusammenarbeit zu mobilisieren,
  • unsere Wertschätzung und Unterstützung für die Maßnahmen und die Arbeit multilateraler, zwischenstaatlicher, nichtstaatlicher und gemeindenaher Organisationen sowie unsere Anerkennung ihrer wichtigen Funktion in der Bekämpfung der Pandemie,
  • unsere Überzeugung, dass nur ein energischeres und besser koordiniertes Vorgehen weltweit über einen längeren Zeitraum – wie z. B. die in Angriff zu nehmende Maßnahme im Rahmen des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/AIDS – die Pandemie stoppen kann,

III. Verpflichten uns in unseren nationalen Politiken,

  • die Rechte von Einzelpersonen, insbesondere der mit HIV/AIDS lebenden oder ansteckungsgefährdeten Menschen, durch rechtliche und soziale Rahmenbedingungen zu schützen und zu fördern,
  • nichtstaatliche und gemeindenahe Organisationen sowie  mit HIV/AIDS lebende Menschen in die Ausarbeitung Umsetzung öffentlicher Maßnahmen umfassend einzubeziehen,
  • einen einheitlichen, rechtlichen Schutz für mit HIV/AIDS lebende Menschen im Hinblick auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung, Beschäftigung, Bildung, zum Reisen, zu Wohnraum und zur Sozialfürsorge sicherzustellen,
  • die folgenden wesentlichen Ansätze zur Prävention von HIV/AIDS zu intensivieren:
  1. Förderung von und Zugang zu verschiedenen kulturell annehmbaren Präventionsstrategien und- produkten, einschließlich Kondomen und der Behandlung sexuell übertragbarer Krankheiten,
  2. Förderung einer geeigneten schulischen und außerschulischen Präventionsaufklärung für Jugendliche, einschließlich der Sexualaufklärung und des Unterrichts zu Gleichstellungsfragen,
  3. Verbesserung der Stellung, der Bildung und der Lebensbedingungen von Frauen,
  4. spezifische Risikominderungsmaßnahmen für und in Absprache mit den am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen wie, z. B. jene, für die eine erhöhte Gefährdung durch sexuelle Übertragung besteht, und dem Bevöklerungsanteil mit Migrationshintergrund,
  5. die Sicherheit von Blut und Blutprodukten,
  6. Stärkung der Systeme der Basisgesundheitsversorgung als Grundlage für Prävention und Versorgung sowie Integration von HIV/AIDS-Maßnahmen
    in diese Systeme zur Sicherstellung eines gerechten Zugangs zu einer umfassenden Fürsorge,
  7. Bereitstellung notwendiger Ressourcen zur besseren Bekämpfung der Pandemie, einschließlich einer ausreichenden Unterstützung für mit HIV/AIDS lebenden Menschen sowie für nichtstaatliche und gemeindenahe Organisationen, die mit gefährdeten Bevölkerungsgruppen arbeiten.

IV. Sind entschlossen, die internationale Kooperation durch die folgenden Maßnahmen und Initiativen zu stärken:

Dies können wir erreichen durch unser Engagement und unsere Unterstützung hinsichtlich der Entwicklung des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/AIDS, das den geeigneten Rahmen zur Verstärkung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten bietet sowie als Orientierungshilfe und zur weltweiten Führung im Kampf gegen HIV/AIDS dient. Der Anwendungsbereich jeder einzelnen Initiative sollte genauer definiert und im Zusammenhang mit dem Gemeinsamen Programm und anderen geeigneten Programmen weiterentwickelt werden:

  • Zur Unterstützung einer stärkeren Einbeziehung der mit HIV/AIDS lebenden Menschen durch eine Initiative zur Stärkung der Kapazitäten und der Koordinierung von Netzwerken der mit HIV/AIDS lebenden Menschen und gemeindenaher Organisationen. Durch die Sicherstellung ihrer umfassenden Einbeziehung in unsere gemeinsame Reaktion auf die Pandemie auf allen nationalen, regionalen und internationalen Ebenen wird diese Initiative insbesondere die Schaffung hierfür unterstützender politischer, rechtlicher und sozialer Rahmenbedingungen befördern.
  • Zur Förderung der weltweiten Zusammenarbeit in der HIV/AIDS-Forschung durch die Unterstützung nationaler und internationaler Partnerschaften zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor zur Beschleunigung der Entwicklung von Präventions- und Behandlungstechnologien, einschließlich Impfstoffen und Mikrobiziden sowie zur Gewährleistung der notwendigen Maßnahmen, die deren Verfügbarkeit in den Entwicklungsländern sicherstellen sollen. Dieses gemeinsame Vorgehen sollte die flankierende Sozial-und Verhaltensforschung einschließen.
  • Zur Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit in der Blutsicherheit im Hinblick auf die Koordinierung technischer Angaben, das Entwerfen von Standards für eine gute Herstellungspraxis für sämtliche Blutprodukte sowie die Förderung der Einrichtung und Umsetzung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zur Sicherstellung der Blutsicherheit in allen Ländern.
  • Zur Förderung einer weltweiten Versorgungsinitiative zur Stärkung der nationalen Kompetenz der Länder, insbesondere derer, die am meisten benachteiligt sind, zur Sicherstellung des Zugangs zu einer umfassenden Versorgung und sozialen Einrichtung sowie Grundarzneimitteln und bestehenden Präventionsmethoden.
  • Zur Mobilisierung örtlicher, nationaler und internationaler Organisationen, zu deren gewöhnlichen Tätigkeiten auch die Hilfe für die von HIV/AIDS betroffenen oder ansteckungsgefährdeten Kinder und Jugendlichen, einschließlich Waisen, zählt, um eine weltweite Partnerschaf zur Reduzierung der Auswirkungen der HIV/AIDS Pandemie auf Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt zu fordern.
  • Zur Unterstützung von Initiativen zur Reduzierung der Anfälligkeit von Frauen für HIV/AIDS durch die Förderung nationaler und internationaler Bemühungen zur Stärkung der Rolle der Frau: durch Verbesserung ihrer Stellung und Beseitigung ungünstiger sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Faktoren; durch die Sicherstellung ihrer Beteiligung an sämtlichen, sie betreffenden Entscheidungs- und Umsetzungsprozesssen sowie durch die Schaffung neuer Verbindungen und die Stärkung der Netzwerke zur Förderung der Frauenrechte.
  • Zur Stärkung nationaler und internationaler Mechanismen im Hinblick auf Menschenrechte und ethische Fragen im Bereich HIV/AIDS, einschließlich der Inanspruchnahme eines Fachgremiums sowie nationaler und regionaler Netzwerke zur Gewährleistung der Führung, Überzeugungsarbeit und Orientierungshilfe, um sicherzustellen, dass die Nichtdiskriminierung, die Menschenrechte und die ethischen Grundsätze einen wesentlichen Bestandteil des Vorgehens zur Eindämmung der Pandemie darstellen.

Wir bitten alle Länder und die internationale Staatengemeinschaft eindringlich, die für die oben genannten Maßnahmen und Initiativen notwendigen Ressourcen bereitzustellen.

Wir fordern alle Länder, die Verantwortlichen des zukünftigen Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/AIDS sowie seine sechs Mitgliedsorganisationen und Programme auf, alle möglichen Schritte zur Umsetzung dieser Erklärung in Abstimmung mit multilateralen und bilateralen Hilfsprogrammen sowie zwischenstaatliche und nichtststaatlichen Organisationen zu unternehmen.

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(nichtamtliche Übersetzung des Bundesgesundheitsministeriums, via alivenkickin – danke!)

Pariser Erklärung vom 1.12.1994 auch als pdf: Pariser Erklärung 1994 Seite 1, Pariser Erklärung 1994 Seite 2, Pariser Erklärung 1994 Seite 3.

Das Original: UNAIDS – The Paris Declaration: Paris AIDS Summit – 1 December 1994 (pdf)

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

nur drei Buchstaben? – was uns HIV-Positive verbindet

„Warum soll ich mich als HIV-Positiver engagieren – ich hab mit ‚denen‘ ja doch nur drei Buchstaben, nur dieses Virus HIV  gemeinsam.“ Dieser Satz ist so oder ähnlich oft zu hören, wenn es um Engagement und HIV-positive Selbsthilfe geht. Nur – stimmt er? Verbinden uns wirklich ’nur drei Buchstaben‘?

HIV und Aids sind heute, beinahe 30 Jahre nach dem Beginn der HIV-Epidemie, anders als ‚damals‘ in den 1980er und 1990er Jahren. Die Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit, das gemeinsame Erfahren von Leid, Schmerz und Trauer ist so heute nicht mehr.

Viele HIV-Positive erleben ihre HIV-Infektion heute eine zwar potentiell schwere, aber behandelbare chronische Krankheit. Gut so – das wollten wir immer haben!

Aber – ist das alles? Können wir uns nun zurück lehnen und sagen ‚Alles in Ordnung‘?

Ja, scheinen viele zu denken.

Armin Traute, ehemaliger HIV-Referent und später Geschäftsführer der Berliner Aids-Hilfe sowie Dipl.Psych. und bis Dezember 2010 langjähriger Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, macht sich Gedanken über HIV-positive Selbsthilfe. Traute spricht in einem Artikel Ende 2010 vom Zusammenhang zwischen Selbsthilfe und Grad der Erkrankung („Grenzen von Selbsthilfe“, in: „25 Jahre Herzblut – Berliner Aids-Hilfe e.V.“) und konstatiert

„Wer als HIV-Betroffener ‚gesund‘ ist (damit ist ein körperliches und psychisches Wohlbefinden und ein funktionierendes soziales Netz gemeint), findet heute kaum mehr seinen Weg in eine Selbsthilfegruppe.“

Traute formuliert auch einen möglichen Grund. Er postuliert:

„Selbsthilfe funktioniert nicht, wenn die Betroffenen – oder die Akteure der Selbsthilfe – zu krank oder bedürftig sind und wenn sie zu gesund sind.“

Trautes Aussage klingt zunächst einleuchtend. Wer nicht krank ist (ob subjektiv oder objektiv), warum sollte der sich in Selbsthilfe engagieren?
Ist Selbsthilfe HIV-Positiver also ein ‚Opfer des medizinischen Erfolgs‘?

Doch – so einleuchtend er scheinen mag, der Gedanke, Selbsthilfe (allein) vom medizinischen Zustand abhängig zu machen, mag für manche Erkrankungen gelten – nicht für HIV. Die HIV-Infektion ist (wie nicht zuletzt Susan Sontag mehrfach aufgezeigt hat) eben nicht nur ein medizinisches Syndrom, sondern auch sozial, politisch.

Und diese Erfahrung machen viele von uns auch alltäglich:

All diese Probleme mit Ärzten, Versicherungen, Arbeitgebern, all die Befürchtungen und Ängste vor Reaktionen unserer Umwelt, reale wie gefürchtete Stigmatisierung und Diskriminierungen, sie existieren – aufgrund von HIV, aufgrund unserer HIV-Infektion. Sie existieren oft auch unabhängig davon, wie unser Gesundheitszustand ist, und weitgehend unabhängig davon, wie behandelbar HIV ist.

HIV-infiziert zu sein bedeutet in der Realität eben wesentlich mehr als „nur“ die medizinische Tatsache der HIV-Infektion. Ob wir wollen oder nicht, und ob wir offen mit unserem Serostatus umgehen oder nicht, immer ist da ein ganzer Komplex an weiteren Themen mit im Gepäck, zwangsläufig, unvermeidbar.

Ja – uns verbinden drei Buchstaben: H, I und V.

Und uns verbinden all die Konsequenzen, die aus diesen drei Buchstaben potentiell resultieren, die wir befürchten, mit denen wir uns ob wir wollen oder nicht im Alltag auseinander setzen müssen.

HIV ist eben mehr als „nur diese drei Buchstaben“.

Und wenn wir mit diesen Konsequenzen besser, anders umgehen wollen, wenn wir unsere Situation verbessern wollen, dann hilft nur eins: zusammen arbeiten, gemeinsam handeln. Aus vielen einzelnen ‚ichs‘ ein schlagkräftiges und engagiertes ‚wir‘ machen.

Und das nennt man Selbsthilfe.

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HIV/Aids ondamaris Texte zu HIV & Aids

Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver

Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver

Ulrich Würdemann Rede Paulskirche zum Welt-Aids-Tag 2010 in der Paulskirche Frankfurt am Main
Ulrich Würdemann, 1. Dezember 2010

Ulrich Würdemann Rede Paulskirche 2010 zur Interessenvertretung HIV-Positiver
Ulrich Würdemann Rede Paulskirche 2010 zur Interessenvertretung HIV-Positiver

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Meine Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Ich freue mich, hier an diesem besonderen Ort zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich möchte Ihnen erläutern,
– warum ich die Gefahr sehe, dass Selbsthilfe demnächst am Ende ist,
– und was wir dagegen unternehmen können.
– Und warum unser Problem zentral mit dem Verhältnis von Selbsthilfe und Aidshilfe zu tun hat.

Erinnern wir uns kurz. Erste Berichte aus den USA 1981, bereits im Juli 1982 der erste Aids-Patient in Deutschland, hier in Frankfurt. „Tödliche Seuche Aids“ beschrieb der ‚Spiegel‘ 1983 das damalige Gefühl. Eine kaum greifbare Bedrohung zunächst unbekannter Ursache.

Ausgrenzung und Diskriminierung waren damals in viel größerem Umfang als heute konkret erlebbar.

Schwule Männer nahmen „die Sache“ selbst in die Hand: ab September 1983 wurden in Deutschland Aidshilfen gegründet, auch – vor 25 Jahren – hier in Frankfurt.

Das Erleben des massenhaften Erkrankens, Sterbens von Freunden, Weggefährten hat auch mich Ende der 80er Jahre vom Schwulenbewegten zum Aids-Aktivisten gemacht.

Aidshilfe entwickelte sich in Dialog und Auseinandersetzung mit Selbsthilfe. Die Bundesweiten Positiventreffen entstanden 1986, gerade weil Positive sich nicht in Aidshilfe wiederfanden.

Festzuhalten bleibt:
– Selbsthilfe war eine Notwendigkeit.
– Sie begann als Gegenwehr – weil sich sonst niemand kümmerte.
– Selbsthilfe und die Auseinandersetzung mit ihr waren konstitutiv für Aidshilfe

Von Beginn an hatte Aidshilfe allerdings mehr Aufgaben als die Unterstützung von Selbsthilfe, wurde bezahlt vor allem für Primärprävention.
Selbsthilfe hingegen hat einen engeren Fokus: Menschen mit HIV und ihre Interessen. Sie umfasste von Beginn an gegenseitige Unterstützung und aktive Interessen-Selbstvertretung – und fand bald zu überregionaler Zusammenarbeit und politischer Selbstorganisation.

Im September 1990 trafen sich hier in Frankfurt 250 HIV-Positive unter dem Motto „Keine Rechenschaft für Leidenschaft“ zur ersten „Bundes-Positiven-Versammlung“. Ihr Grundgedanke:

„So unterschiedlich wir auch leben mögen, wir lassen uns nicht auseinanderdividieren, gerade nicht in dem zentralen Punkt: Unser Leben – und sei es auch zeitlich noch so begrenzt – wollen wir selbst bestimmen und in allem, was unser Leben von außen beeinflusst, wollen wir selbstbewusst und selbstverständlich mitentscheiden …“

Hier werden die Kern-Anliegen damaliger Positiven-Selbsthilfe sichtbar:
– wir wollen selbst bestimmen,
– wir wollen mit entscheiden,
– und wir sind solidarisch.

Einen deutlichen Ausdruck fanden dieses Anliegen in den ACT UP Gruppen. Sie entstanden Ende der 1980er Jahre auch in Deutschland, auch hier in Frankfurt. Angst sowie Wut über Ignoranz waren Motoren dieser aktivistischen Selbsthilfe HIV-Positiver.

Lasse ich diese Erinnerungen an eine Vergangenheit, die gerade einmal zwanzig Jahre her ist, heute Revue passieren, staune ich – war die Zeit damals so anders?
Ja, sie war es.

Die Angst von damals ist nicht mehr – „der Druck ist raus“.
Von Zorn, von Wut weit und breit keine Spur.
Im Gegenteil, die Lage scheint „entspannt“ – Gegenwehr nicht mehr erforderlich.

Eine Frage kommt mir in den Sinn: Wollen HIV-Positive heute überhaupt – wie 1990 hier in Frankfurt formuliert – auch heute noch ihr Leben als Positive selbst bestimmen, über die Gestaltung sie betreffender politischer Rahmenbedingungen mit entscheiden? Und solidarisch?

Das Kern-Anliegen positiver Selbsthilfe – selbst bestimmen, mit entscheiden, Solidarität – trägt es auch heute noch?

Etwas hat sich, meine Damen und Herren, entscheidend verändert.
Etwas, dem wir längst den problematischen Namen ‚Normalisierung‘ gegeben haben.

‚Normalisierung‘ – dieser Begriff umschreibt, wie viele Positive ihre heutige Lebensrealität erleben, in der grundlegende Bedürfnisse meist befriedigend gedeckt sind. Für manche Positive am Rand der Gesellschaft gilt allerdings selbst dies nicht, z.B. Illegalisierte, Menschen in Haft oder psychisch Kranke.

HIV und Aids haben viele Jahre eine überproportional hohe Aufmerksamkeit erhalten, hohen Einsatz von Ressourcen, großes mediales Interesse. Je „normaler“ HIV wird, desto deutlicher wird dieses außerordentliche Interesse zurück gehen – mit weitreichenden Folgen, auch für Selbsthilfe. Die Zeit des „Aids-Exzeptionalismus“ geht ihrem Ende entgegen. Die HIV-Infektion verliert zunehmend ihren Sonderstatus.

‚Normalisierung‘ bringt Banalisierung mit sich.

Bei aller vermeintlichen ‚Normalisierung‘, eines wird sich nicht ändern.
Noch immer scheut sich die Mehrzahl der Positiven, offen mit ihrem Serostatus umzugehen. Wie reagiert der Typ, der mir gefällt, wenn ich ihm sage, ich bin positiv? Was würde mein Arbeitgeber machen? Und behandelt mich mein Zahnarzt dann noch?
Tabuisierung, Diskriminierung haben sich grundlegend nicht verändert.

Die Stigmatisierung bleibt bestehen.

‚Normalisierung‘ und Banalisierung bei einer weiterhin bestehenden Stigmatisierung können eine zusätzliche Konsequenz für HIV-Positive haben:
Wenn HIV nichts ‚Besonderes‘ mehr ist, sind es vielleicht bald auch Positive nicht mehr. Wenn allerdings das Stigma Aids weiter besteht, und mit ihm Stigmatisierung und Diskriminierung – dann liegt der Gedanke nahe, dass aus dem Sonderstatus schnell die Rand-Position, die des Weggedrängten werden kann.

‚Normalisierung‘ kann zur Marginalisierung führen.

Banalisierung – Stigmatisierung – Marginalisierung, eine Lage, die nach Selbsthilfe förmlich zu schreien scheint. In welchem Zustand also sind Selbsthilfe und Selbstorganisation von Menschen mit HIV heute?

Vor einigen Wochen entdeckte ich beim Bummeln durch meinen Berliner Kiez diese Postkarte: ein staunend dreinblickendes Kind denkt:

Wenn ich nur darf, wenn ich soll,
aber nie kann, wenn ich will,
dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.
Wenn ich aber auch darf, wenn ich will,
dann mag ich auch, wenn ich soll,
und dann kann ich auch, wenn ich muss.
Denn schließlich: Die können sollen,
müssen auch wollen dürfen.

Diese Worte erinnerten mich an die Situation von Selbsthilfe.
Ich hatte zu Beginn meiner Rede die Befürchtung geäußert, dass Selbsthilfe demnächst am Ende ist. Darauf möchte ich nun zurück kommen und aufzeigen, warum ich diese Gefahr sehe.

Sicher, aus Aidshilfe-Kreisen sind gelegentlich Sätze zu hören wie „Selbsthilfe ist unsere tragende Säule“. Aber wie viel Wunsch-Denken und political correctness sind hier im Spiel? Die gelebte Realität scheint mir anders auszusehen.

Ja, auch heute gibt es funktionierende Selbsthilfe. Aber …

Selbsthilfe regt sich, oftmals fernab von Aidshilfe, zum Beispiel in Internet-Foren, in virtuellen Netzwerken, aber auch in privaten Gruppen. Diese ‚private‘ Selbsthilfe widmet sich meist gegenseitiger Unterstützung. Selten findet sie zur Artikulation eigener Interessen, noch seltener zu politischer Interessen-Vertretung.

Und es gibt überregionale Selbsthilfegruppen, teils sogar institutionell in Strukturen wie Aidshilfe eingebunden. Wie sieht es hier aus?

– Da gibt es Gruppierungen mit hochtrabenden Namen, die kaum ein einziges HIV-positives Mitglied zu haben scheinen – wohl aber Sozialarbeiter und andere nur von, aber nicht mit HIV Lebende.
– Es gibt Gruppen mit bundesweitem Anspruch, die kaum genügend aktive Mitglieder aufweisen, um ihre Treffen zu füllen.
– Oder Gruppen, die nur noch ihrem Namen nach existieren.
– Und es gibt Organisationen, die gute Arbeit leisten – jedoch nur in ihrer Region, zu ihrem Themengebiet, zu Lasten vieler anderer Themen, die liegen bleiben.

Zu sagen, es gebe heute keine funktionierende Selbsthilfe mehr (wie gelegentlich zu hören ist), geht an der Realität vorbei. Es gibt stellenweise eine aktive regionale oder themenspezifische Basis.

Auf überregionaler Ebene jedoch sieht es düsterer aus:

– Wir haben Selbsthilfe-Gruppen, die wir nicht brauchen.
– Wir haben Gruppen, die scheinbar keine Selbsthilfe sind – oder nur noch dem Namen nach.
– Und wir haben Gruppen, die auf ihrem begrenzten Gebiet einen halbwegs guten Job machen.

Aber wir haben nicht, was wir brauchen:
eine engagierte, mutige, bundesweite Positiven-Selbstorganisation und -Interessenvertretung.

An diesem Zustand sind wir Positive selbst mit schuld: wir verschwenden unsere Energien. Wir tun, was wir nicht brauchen – und wir tun nicht, was wir brauchen.

Bemerkenswert ist: trotz dieses beklagenswerten Zustands – das Märchen einer vitalen Positiven-Selbsthilfe wird weiter aufrecht erhalten. Eine Situation, die an die ‚potemkinschen Dörfer‘ erinnert. Die Behauptung, es gäbe vitale Selbsthilfe, steht im Raum – aber real ist da viel heiße Luft, nur vor sich her getragener Anspruch!

Diese Situation ist, wie ich zu Beginn bereits angedeutet habe, meiner Ansicht nach im Verhältnis von Selbsthilfe und Aidshilfe begründet.

Selbsthilfe verleiht Legitimation. Legitimation der ‚Basis‘, der ‚Betroffenen‘. Selbsthilfe hilft, den eigenen Mythos aufrecht zu erhalten. Zum Beispiel den Mythos einer von unten, von den Lebenssituationen und Bedürfnissen der Betroffenen getragenen Organisation.
Das Aufrechterhalten der Illusion einer lebendigen Selbsthilfe dient wohl auch einer Organisation, die selbst einen großen Teil ihrer Legitimation daraus bezieht: der Aidshilfe. Für Aidshilfen ist es attraktiv, das Bild aufrecht zu erhalten, sie seien Organisationen mit umfangreicher Beteiligung HIV-Positiver, mit florierender Selbsthilfe.

Das Problem dabei: dieses ‚potemkinsche Dorf‘ vergeudet Ressourcen, zum Aufrechterhalten überholter Strukturen. Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen, besser eingesetzt werden sollten, um realen Freiraum für Selbst-Interessenvertretung zu ermöglichen.

So dämmert Selbsthilfe vor sich hin, in manchmal liebevoller, manchmal berechnend-kühler Umarmung der Aidshilfen – die so das Siechtum der Selbsthilfe fördern und bestärken.

Hält Aidshilfe den Mythos Selbsthilfe aufrecht – um dessen positiven Effekte für sich zu nutzen?
Wir befinden uns mitten in der Partizipationsfalle!
Genau hier liegt ein Kern des Problems von Selbst-Interessenvertretung!

Dabei zeigt ein kurzer Blick über den deutschen Gartenzaun, dass Selbstorganisation heute attraktiv und wirksam sein kann – und das im Dialog mit Aidshilfe, kritisch und konstruktiv:
– Gruppen wie „The Warning“ in Frankreich vertreten positive Interessen wahrnehmbar, auch in Dissens zu Gruppen wie Aides.
– Die holländische Gruppe „poz & proud“ trägt HIV-positives Selbstbewusstsein nicht nur im Namen, sondern lässt es auch durch Aktionen, Publikationen und Veranstaltungen erlebbar werden.
– Die Schweizer Gruppe „LHIVE“ (deren Präsidentin Michèle Meyer hier letztes Jahr gesprochen hat) ist sehr erfolgreich auch politisch aktiv, war z.B. am Entstehen des EKAF-Statements beteiligt.

Und Deutschland?
Wir verlassen uns darauf, dass Aidshilfe stellvertretend die Interessen von Menschen mit HIV vertritt.

Dabei sollten wir aus eigener Erfahrung wissen, wie riskant dieses Verlassen auf Stellvertreter ist. Es spekuliert auf unveränderte Rahmenbedingungen. Es unterstellt, dass Stellvertreter willens und kompetent sind, unsere Interessen zu vertreten. Es wird spätestens bei konträren Interessenlagen problematisch .
Eine sichere Bank ist dieses Verlassen auf Stellvertreter nicht.

Aidshilfe ist immer maximal der zweitbeste Vertreter der Interessen von HIV-Positiven. Der beste sind – wir selbst!

Wir haben an diesem Punkt zwei Möglichkeiten:

Wir machen weiter wie bisher. Meine Prognose: in zwei bis drei Jahren gibt es dann überregionale Positiven-Interessenvertretung überhaupt nicht mehr, mangels Masse. Positive Interessen werden ausschließlich stellvertretend durch Aidshilfe wahrgenommen. Selbsthilfe ist dann am Ende.

Kann das unser Weg sein? Ich denke nein.
Ein „weiter so“ kann nicht in unserem Interesse sein.

Können wir Positive es uns überhaupt erlauben, weiterhin ohne starke Selbst-Interessenvertretung dazustehen?

Wollen wir, dass Debatten um Normalisierung, Banalisierung und Marginalisierung geführt werden – über uns, vielleicht gegen uns, in jedem Fall aber ohne uns?

Wollen wir uns weiter auf das gemachte Nest aus Schwerbehindertenausweisen, bezahlten Positiventreffen etc. verlassen? Und falls es – ob durch Normalisierung oder Spar-Debatten – in Gefahr gerät, können wir es uns leisten, dann ohne eigene Interessenvertretung dazustehen?

Wollen wir, wir Menschen mit HIV und Aids, uns bei der Formulierung, bei der politischen Vertretung unserer ureigensten Interessen weiterhin stellvertretend auf Aidshilfe verlassen? Reicht das?

Wollen wir weiter Bilder von ‚verantwortungslosen Positiven‘, von ‚Biowaffen‘ und ‚Todesengeln‘ unwidersprochen hinnehmen? Wollen wir die Herstellung der Bilder, die sich die Gesellschaft vom Leben HIV-Positiver, von uns macht, wirklich ausschließlich anderen überlassen – während Positive weiter brav den Mund halten?

Wollen wir anstehende Debatten um Mittelkürzungen, um Medikalisierung der Prävention, Debatten mit einem hohen Potential zusätzlicher Diskriminierung, ausschließlich anderen, Politikern, der Pharmaindustrie überlassen – über unsere Köpfe hinweg, ohne eine eigene starke Stimme?

Können wir das wirklich wollen? In unserem ureigensten persönlichen Interesse?

Ich denke nein.

Die Schlussfolgerung ist für mich klar:

Wir haben heute eine leistungsfähige Aidshilfe – und das ist gut!

Was wir jetzt brauchen, ist eine
organisierte Selbsthilfe und Selbst-Interessenvertretung
neben der Aidshilfe, kritisch und solidarisch –
aber unabhängig.

Ich danke Ihnen.

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Der Text entspricht bis auf geringe Änderungen der Rede, die ich unter dem Titel „Grenzen der Selbsthilfe – Begrenzte Selbsthilfe?“ am 1. Dezember 2010 anlässlich der Welt-Aids-Tags-Veranstaltung 2010 der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulskirche gehalten habe.

Ulrich Würdemann Paulskirchenrede 2010 zur Interessenvertretung HIV-Positiver
Ulrich Würdemann Rede Paulskirche 2010 zur Interessenvertretung HIV-Positiver

Die ‚Paulskirchen-Veranstaltung‘ der Frankfurter Aids-Hilfe ist seit vielen Jahren eine der eher wenigen Gelegenheiten, zu denen Aidshilfe Diskurs (auch kritischen Diskurs) sucht und bietet – danke, wir bräuchten mehr davon!

Ich wünsche mir eine angeregte, gern auch kontroverse Debatte zu dem Thema ‚Zukunft der Selbst-Interessenvertretung von Menschen mit HIV‘. Schließlich, es geht darum, wie wir unsere eigenen Interessen zukünftig vertreten wissen wollen.
Also – ran an die Kommentare 🙂

Für Anregungen und Hinweise danke ich Andreas, Manfred, Matthias Michèle, Stefan, Wolfgang – und besonders Frank für Geduld und Unterstützung !

Der Original-Text der Rede steht auch als pdf im Bereich „Downloads“ zur Verfügung.

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