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HIV/Aids

Ist HIV wirklich kein Thema mehr?

Zuletzt aktualisiert am 8. September 2022 von Ulrich Würdemann

„HIV? Ist doch kein Thema mehr!“ Ein Satz, der zunehmend zu hören ist. Wirksame Pillen, keine Infektiosität von Positiven bei effektiver Therapie, ein vergleichsweise ’normales‘ Leben von HIV-Positiven. Ja, die Realitäten des Lebens mit HIV haben sich für HIV-Positive wie auch für Ungetestete oder HIV-Negative verglichen mit Mitte der 80er bis Mitte der 90er sehr verändert. Aber: Ist HIV deswegen gleich wirklich „kein Thema mehr“?

Vor über 30 Jahren fing der Albtraum an, aus dem wir erst seit einigen Jahren wieder zu erwachen beginnen. Insbesondere in den ersten 15 bis 20 Jahren verwüstete die Aids-Krise schwules Leben, schwule Beziehungen und Infrastrukturen, wurde das Leben vieler Schwuler sowie männlicher und weiblicher Drogengebraucher, Hämophiler und Migranten traumatisiert. Statt optimistischer Zukunftsplanung wurden Sterben, Trauer und Gedenken notgedrungen unsere Themen.

Inzwischen hat sich die Realität des Lebens mit HIV im Vergleich zum „Jahrzehnt des Todes“ verändert. Wirksame Medikamente ermöglichen vielen ein weit „normaleres“ Leben, als noch vor 15 Jahren denkbar schien. Selbst eine Heilung scheint inzwischen denkbar. Aids-Organisationen feiern ihr 30-jähriges Bestehen, so auch die Deutsche AIDS-Hilfe in diesem Jahr. Aids ist in der Phase der geschichtlichen Aufarbeitung angekommen – Veranstaltungen befassen sich bereits rückblickend mit Aids und Aids-Aktivismus.

Aber trifft die These „HIV ist doch durch…“ wirklich zu? Oder geht sie mutig an der Wahrheit vorbei? Welche Perspektiven ergeben sich für die Zukunft? Werfen wir beispielhaft einen Blick auf vier Themen.

Medizin: Wirksame Pillen, aber reicht das?

Die Situation zu Beginn der Aids-Krise war gekennzeichnet von Verzweiflung. Selbst als mit der Entdeckung von HIV die Ursache von Aids erkannt war, fehlten lange Jahre jegliche Möglichkeiten, aktiv einzugreifen. Medikamente waren nicht verfügbar. Ab 1987 kamen mit AZT & Co erste Aids-Medikamente in die Praxis. Therapien scheiterten jedoch oft bereits nach kurzer Zeit an Resistenzen und Unverträglichkeiten. Erst das Aufkommen von Dreier-Kombinations-Therapien mit Proteasehemmern ab der Aids-Konferenz von Vancouver 1996 brachte den Durchbruch.

Medizinisch wird die HIV-Infektion heute oft als chronische und oftmals gut therapierbare Infektionskrankheit betrachtet. Allerdings zu hohen Preis: Die Medikamente müssen lebenslang eingenommen werden, von Langzeit-Nebenwirkungen, Spätfolgen der HIV-Infektion etc. einmal ganz abgesehen.

Doch idealerweise müsste ein Zustand entstehen „wie vor Aids“. Also nicht nur Therapie, sondern Heilung. Zwar arbeiten inzwischen zahlreiche Forscher-Teams an verschiedenen Ansätzen einer Heilung von der HIV-Infektion. Aber was wollen HIV-Positive? Reichen, wie gelegentlich, so jüngst auf dem Europäischen Aids-Kongress zu hören, uns die Pillen eigentlich auch? Eine „funktionale“ Heilung, bei der HIV im Körper bleibt? Oder wollen wir eine „echte“ Heilung, mit einer vollständigen Entfernung aus dem Körper?

In einigen Ländern steht die Kombi-Therapie zudem nur Reichen zur Verfügung. Müssten wir nicht auch für diese Leute kämpfen?

ACT UP und Aktivismus: Ab ins Museum damit?

Niemand kümmert sich um uns – wenn wir es nicht selbst machen. Dieser Impuls prägte die frühe Auseinandersetzung mit Aids in Deutschland, Europa und den USA. ACT UP und andere Formen des Aids-Aktivismus waren Ende der 1980er und bis Mitte der 1990er Jahre auch in Deutschland sehr wirkungsvolle und erfolgreiche Formen der Selbstäußerung und des aktiven Engagements (überwiegend) HIV-Positiver und Aids-Kranker.

ACT UP beim 3. Deutschen Aids-Kongress 1990 in Hamburg © Foto U.K. Bäcker
ACT UP beim 3. Deutschen Aids-Kongress 1990 in Hamburg © Foto U.K. Bäcker

Doch ACT UP ist lange her – aber war und ist es die einzige Form von Aktivismus von Menschen mit HIV? Ab ins Museum damit? Wann waren Aids-Aktivismus und Therapie-Aktivismus erfolgreich, und aus welchen Gründen? Wann scheiterten sie, und warum? Geschichten der Vergangenheit? Oder können wir für heute und morgen aus ACT UP und Aids-Aktivismus lernen?

Trauer und Gedenken: Wieder zurück ins Konventionelle und Private?

Im Verlauf der ersten 15 Jahre der Aids-Krise entwickelten überwiegend schwule Männer eigene Formen von Trauerkultur – weil sie sich und ihre Lebens- wie auch Sterbensrealitäten in den vorgefundenen Formen nicht wiederfanden. Bunt bemalte Särge, Trauerfeiern auf denen auch wirklich gefeiert wurde, Gräber die individuell gestaltet wurden, Gemeinschaftsgräber, Traueranzeigen und Trauerreden, die weder Aids noch Schwulsein verschwiegen. Formen, die über die individuelle Bedeutung hinaus auch gesellschaftlich den Umgang mit Sterben und Trauer beeinflussten.

Seit einigen Jahren sind Sterben und Trauer wieder wesentlich mehr ins Private zurückgezogen, viele Formen der Trauer wieder „konventioneller“ geworden. Ähnlich sieht es mit öffentlichen Formen von Aids-Gedenken aus. Gedenkstelen und Mahnmale werden heute – zudem mit oft wesentlich niedrigeren Teilnehmerzahlen – meist nur noch im Umfeld des Welt-Aids-Tags wahrgenommen.

Was führte zur Entwicklung spezifischer Formen einer Aids-Trauerkultur? Warum sind sie weitgehend wieder verschwunden? Und wird heute so getrauert, so an die an Aids Verstorbenen erinnert und gedacht, wie wir es wollen – oder welche Formen von Trauer und Gedenken wünschen wir uns, für jetzt und perspektivisch für die Zukunft? Auch: Welchen Raum hat Trauer in meinem Leben gehabt und hat sie heute? Hat sie meine Biographie beeinflusst?

Schuld und Stigmatisierung: Alles vorbei, alles fein?

Blickt man zurück auf die frühen Aids-Jahre, wird schnell offensichtlich: Die Aids-Krise war von Beginn an begleitet von Schuldzuweisungen, Stigmatisierung, Diskriminierung. Ob Versuche, Tätowierungen HIV-Positiver zu begründen, Schließung von schwulen Treffpunkten oder Verfolgungs- und Aussonderungs-Szenarien: Oft ging es darum, „Schuldige“ zu finden, auf die man zeigen, die man absondern, von denen man sich reinigen kann.

Und auch die Kriminalisierung von Menschen mit HIV ist keine Erscheinung der jüngsten Zeit, begann vielmehr früh – bereits 1986 wurde in Nürnberg der schwarze, schwule US-Amerikaner Linwood B., der nachweislich niemanden mit HIV infiziert hatte, wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt, im November 1987 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Beschimpfungen als „Desperados“ oder „Biowaffen“ – ist das wirklich lange her? Alles vorbei? Es ist noch nicht lange her, als eine bekannte Pop-Sängerin unfreiwillig als HIV-positiv geoutet wurde. Die Verurteilungen von HIV-Positiven – wirklich alles vorbei? Im Gegenteil, die Zahl der Ermittlungsverfahren und Prozesse gegen und Verurteilungen von HIV-Positiven war in den vergangenen Jahren besonders hoch.

Und warum haben viele Positive heute noch Bauchschmerzen, vor Freuden oder Arbeitskollegen offen HIV-positiv zu sein? Hat die hochwirksame Therapie, die Erkenntnis, dass HIV-Positive mit erfolgreicher Therapie sexuell nicht infektiös sind, wirklich zu deutlich weniger Stigmatisierung und Diskriminierung geführt? Und selbst wenn es eine Heilung gäbe – wäre damit auch jegliche Stigmatisierung, jegliche Diskriminierung automatisch vorbei?

HIV ist doch durch – oder?

Ist HIV also „durch“ oder nicht? Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo zwischen beiden Polen. Ja, wir haben (in Deutschland, in Europa) eine gute und erfolgreiche HIV-Prävention, gemessen z.B. an den in Deutschland vergleichsweise niedrigen HIV-Neudiagnose-Zahlen. Wer HIV-positiv ist, hat in der Regel (so er nicht im Knast, Asylbewerber, mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus etc. ist) eine gute und ausreichende medizinische Versorgung.

Einige Themen, um die Schwule, um die Menschen mit HIV und Aids sich einst große Sorgen machen mussten, sind mehr oder weniger „durch“. Andere aber, das zeigen schon die zahlreichen Fragen in den vier ausgewählten Themen wie auch hier noch nicht behandelte Fragen, sind alles andere als gelöst. HIV ist nicht durch – noch lange nicht, leider.

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Mit der Frage „HIV ist doch durch, oder? – 30 Jahre, und wie weiter?“ beschäftigt sich auch die „Positiven-Universität“, eine besondere Form des Bundesweiten Positiventreffens, vom 9. bis 12. Januar 2014 in der Akademie Waldschlösschen bei Göttingen.
Informationen finden sich dazu hier.

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Artikel für queer.de, dort erschienen am 10. November 2013
Diego hat darauf am 10. November 2013 mit einem Post reagiert: das Thema HIV (seit 2021 nicht mehr online)

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Von Ulrich Würdemann

einer der beiden 2mecs.
Schwulenbewegt, Aids- und Therapie-Aktivist. Von 2005 bis 2012 Herausgeber www.ondamaris.de Ulli ist Frankreich-Liebhaber & Bordeaux- / Lacanau-Fan.
Mehr unter 2mecs -> Ulli -> Biographisches

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